Wir begrüssen ehrfürchtig in aller Welt Rosch Haschana, das Fest des neuen jüdischen Jahres. Die Heilige Schrift, wie auch unser Festtagsgebetbuch Machsor nennen unseren Jahresbeginn „Jom Hasikaron“ (Tag des Gedenkens) und auch „Jom Terua“, Tag des Schofar-Widderhorn-Blasens.
Im jüdischen Leben der Einzelnen beginnt mit Rosch Haschana eine Periode der Selbstprüfung, in der wir unsere Taten und Handlungen unter die Lupe nehmen und ausserdem aufgefordert sind, Busse und Reue zu tun. Ein bedeutender Meilenstein auf dem Weg dieser Bilanzprüfung ist Jom Kippur, der Versöhnungstag.
Für die Tage von Rosch Haschana und Jom Kippur ist die Vertiefung in die Liturgie bezeichnend. Wir bekennen uns aufrichtig zu dem Herrn der Welt, dessen Macht über uns und Seiner Welt allgegenwärtig und grenzenlos ist. Auch daher würde sich in unserem Falle eine jegliche Form der „Bilanzfälschung“ als sinnlos erweisen…
Zu den bekanntesten Vorschriften der beiden Neujahrstage gehört das Gebot, den Schofar, das aus dem Horn eines Widders gefertigte Naturinstrument, zu blasen. Sich diese Töne anzuhören ist ein religiöses Gebot aus der Tora. Sie sollen uns noch eindringlicher daran erinnern, den Aufruf zur Reue und zum Bekennen unserer Fehler nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Die Aussagen des grössten jüdischen Gelehrten aus dem 13. Jahrhundert, Maimonides, scheinen die Stimmungslage zu vertiefen: „Wacht auf, ihr Schlummernden! Werft eure Taten auf die Waagschale, gedenket Eures Schöpfers und wendet Euch zu Ihm in Reue. Jagt nicht nach Träumen, vergeudet nicht eure Jahre. Folgt nicht jenen Dingen, die keinen Sinn ergeben können. Prüft lieber eure Seele; betrachtet nur eure eigenen Handlungen, damit ihr eure irregeleiteten Wege verlassen könnt. Kehret nun zu Eurem G’tt damit Er seine Gnade über euch walten lassen kann.“
Soweit Maimonides in seinem Gesetzescodex (Hil. Teschuwa 3: 4).
Es mag sein, dass es sich um eine jüdische Besonderheit, um eine eigenartige Festtagsphilosophie handelt, jedoch ist Rosch Haschana, trotz dieser tiefen Inhalte und Aufgaben für den Einzelnen kein trauriges, wehmutsvolles Fest. Im Gegenteil. Es ist ein Fest, an dem wir uns auch freuen sollen. Wir werden von dem Bewusstsein geleitet, dass G’tt Erbarmen mit uns hat und seine Gnade ein günstiges Urteil über uns bewirken wird.
Dies scheint uns auch die traditionelle Liturgie der Festtage zu bestätigen. Zu deren festem, und ermutigendem Bestandteil gehört - unter anderem - die frohe Botschaft des Propheten Jeremia, an uns alle: „Haben Jakir Li Efrajim..“ (Jer. 31: 20): „Ist mir Efrajim (d.h. Israel) ein Lieblingssohn, gezärtelt Kind/ dass so Ich von ihm spreche/ wenn seiner wieder Ich gedenke/ darob Mein Inneres nach ihm schreit/ Ich seiner mich erbarme? - So
ist des Ewigen Spruch.“
Dieses Fest bedarf - aufgrund seiner ernsten, auch psychischen Inhalte, einer besonderen Vorbereitung. In der Woche vor dem Fest versammelt man sich in den Synagogen, um miteinander die Bussgebete zu sprechen. Eine fromme Überlieferung meint, dass diese Liturgie der Bussgebete von Moses selber stammt. Er gab es an sein Volk weiter. Sie sollte darauf hinweisen, dass auch dann, wenn die Israeliten gesündigt hatten, aber sie auf diese Weise betend, Busse tun, G’tt ihnen vergeben wird.
Man könnte fragen: Warum die kollektive Busse? Eine Kollektivschuld wird doch im Judentum abgelehnt. Reue und Umkehr sind letztendlich, streng genommen eine Angelegenheit des Individuums. Jedoch die traditionelle jüdische Auffassung lässt keinen Unterschied und keine Trennung zwischen den Taten der Einzelnen, und denen der Gemeinschaft gelten. Der Talmud meint: „kol jisrael arewim se base..“, d.h. ein jeder Israelit haftet durch seine Handlungsweise auch für die anderen Glieder seines Volkes. Also, auch wenn es keine „Kollektiv-Schuld“ gibt, besteht dennoch eine kollektive Verantwortung füreinander. Der Talmud, die rabbinische Lehre, erklärt die Gründe für diese Haltung so: (Kidd. 40) In der ganzen Welt herrscht das Mehrheitsprinzip. Es wird nach der Mehrheit gerichtet. Daher muss also auch für das Individuum das Mehrheitsprinzip gelten. Wir alle werden nach der Mehrzahl unserer Taten und Handlungen vor G’tt bewertet. Der Talmud sagt: Wenn jemand eine „Mitzwa“, eine hilfreiche Wohltat, für andere ausübt, kann er sich glücklich schätzen, weil er nicht nur sich selber, sondern der ganzen Welt nützt, denn er hat sie (die Welt) in eine positive Richtung beeinflusst. Jedoch es gilt auch umgekehrt: Sollte sich jemand durch ein Vergehen schuldig gemacht haben, könnte er damit die ganze Welt in eine böse Richtung beeinflusst haben.
In dem Buch Zohar, das als eines der Hauptwerke der Mystiker und Kabbalisten betrachtet wird, lernen wir, dass der Mensch, der Einzelne, sich und seine Taten so betrachten möge, als würde das Schicksal der ganzen Welt von ihm allein abhängen. Diese Aussage bietet sich als eine deutliche Bestätigung der Idee des Verantwortungsbewusstseins des Menschen in seiner Welt.
Der Midrasch, die jüdische exegetische Literatur, behauptet, dass Adam, der erste Mensch der Schöpfungsgeschichte, auch der Erste war, der Umkehr, Teschuwa, geübt hatte. Nachdem er von den verbotenen Früchten gegessen hatte, flehte er: „Herr der Welt, vergib mir meine Sünde, nimm meine Reue an, dann werden die späteren Geschlechter wissen, dass es Vergebung von G’tt auf dieser Welt gibt!“
Diese Gedanken über Rosch Haschana, Reue und Umkehr habe ich aufgrund der Tradition unserer Ahnen erzählt, nachdem ein gefeierter deutschsprachiger Schriftsteller in einem seiner Werke über den „Tod seines Kritikers“ fabulierte und auch noch die Behauptung aufstellte, „ dass wir böse sind, wenn wir nicht das tun, was von uns verlangt wird.“ Daher ist Religion, seiner Meinung nach, Unterwerfung. Ob dies zutrifft, kann jeder für sich frei entscheiden. Unter Religion meint der kritische Schriftsteller selbstredend vor allem das Judentum und die jüdisch-christliche Tradition.