Ausgabe

Der Exodus der intellektuellen Elite

Bernd Schuchter

Inhalt

Herbert Lackner: Die Flucht der Dichter und Denker.

Wie Europas Künstler und Wissenschaftler den Nazis entkamen.

Wien: Uebererreuter 2017.

204 Seiten, Euro 22,95 (AT)

ISBN 978-3-8000-7680-2

 

 

Herbert Lackner, jahrelanger Chefredakteur des profil, gelingt in seinem Buch Die Flucht der Dichter und Denker ein sehr persönlicher Zugang zu einem grossen Thema. Auf einem Gartenfest des ehemaligen Bundespräsidenten Heinz Fischer lernte er den Wiener Galeristen John Sailer kennen, der ihm von seiner abenteuerlichen Flucht erzählt, die ihn als Dreijährigen mit seinen Eltern über die Pyrenäen nach Spanien führte, wo sie ein Schiffsticket für die Nea Hellas ergatterten, eines der letzten Schiffe, das direkt New York ansteuerte. Mit John Sailer an Bord waren viele andere, äusserst prominente Flüchtlinge wie Franz und Alma Werfel; Grund genug für Lackner, die Fluchtrouten der Dichter und Denker, die auf den letzten Schiffen nach Amerika den Nazis entkamen, genauer zu recherchieren.

Lackner gelingt ein packendes Porträt einer unheilvollen Zeit, indem er die abenteuerlichen Schicksale von Autoren wie Alfred Döblin oder Lion Feuchtwanger, dem Musiker Robert Stolz oder dem Kabarettisten Karl Farkas nachzeichnet. Sie alle profitieren von einer Initiative der amerikanischen Präsidentengattin Eleanor Roosevelt, die gemeinsam mit dem wohl berühmtesten Exilanten, dem Nobelpreisträger Thomas Mann, das Emergency Rescue Comittee gründete, um verfolgten europäischen Intellektuellen die Flucht in die USA zu ermöglichen. Der Journalist Varian Fry wurde nach Europa geschickt, um die oft haarsträubende und strapaziösen Fluchtwege zu organisieren, Visa zu beschaffen oder einfach Gestrandete mit Geld zu unterstützen. Durch die Initiative Frys, der nach dem Krieg vergessen wurde, konnte das Emergency Rescue Comittee über 2000 Menschen das Leben retten.

Neben erfolgreichen Fluchtgeschichten wie jene von Golo und Heinrich Mann, André Breton, Marcel Duchamp oder Kurt Wolff erzählt Lackner auch von den gescheiterten Versuchen. Hannah Arendt, die ebenfalls durch die Initiative Varian Frys gerettet wurde, beschreibt bereits in ihrem 1943 erschienenen Essay Wir Flüchtlinge das Schicksal jener, die keinen anderen Ausweg sahen, und sich selbst das Leben nahmen wie etwa Walter Benjamin. Sie greift damit das Tabu des Selbstmords auf, das bis heute zu wenig beachtet wurde.

Herbert Lackner beschreibt aber nicht nur die geglückten oder misslungenen Fluchtversuche berühmter Zeitgenossen, sondern zeichnet auch ein genaues Bild der Stimmung innerhalb der westlichen Gesellschaften, die lange hofften, sich mit Nazi-Deutschland arrangieren zu können. Auch in den USA wie in grossen Teilen von Frankreich war die Haltung gegenüber den Flüchtlingen nicht positiv und politisch nicht opportun. Lackner erzählt von den verschiedenen Anhaltelagern auf französischem Boden, die in vorauseilendem Gerhorsam den neuen Machthabern gegenüber eingerichtet wurden, und er vermittelt auch ein differenziertes Bild aller Flüchtlinge, denn es wurden nicht nur jüdische Bürger verfolgt, sondern auch viele politisch unliebsame Menschen, ehemalige Spanienkämpfer ebenso wie Zeitungsverleger.

Herbert Lackner erklärt in seinem Vorwort auch noch einen anderen Grund, der für ihn Antrieb war, dieses Buch zu schreiben. Die beginnende Flüchtlingsbewegung im Jahr 2015 wies für ihn viele Parallelen zu den Schicksalen jener Verfolgten auf, die seinerzeit vor Hitler flohen. Nicht zuletzt diese klugen Schlussfolgerungen machen dieses Buch hochaktuell und unbedingt lesenswert.