Ausgabe

1918: Die Juden in Österreich und die Neuordnung Europas

Christoph AUGUSTYNOWICZ

Inhalt

Mit dem Zerfall der Habsburgermonarchie und der Schaffung ihrer Nachfolgestaaten im Herbst 1918, also vor ziemlich genau 100 Jahren, begann für die Geschichte der Jüdinnen und Juden in dem, was noch Österreich war, ein neues Kapitel. Ihr Anteil an der Bevölkerung der Republik betrug knapp 3 Prozent (1934 etwa 190.000, also 2,8 Prozent), an der Wiener Bevölkerung fast 10 Prozent (1934 etwa 176.000, also 9,4 Prozent). Um 1869 waren noch 3.9 % der Bevölkerung der Habsburgermonarchie jüdischer Herkunft gewesen, wobei die territoriale Verteilung deutlich ausgeprägter gewesen war. Bereits vor 1918 war jedoch der Zuzug in die Metropole Wien charakteristisch gewesen, zunächst noch wegen der wirtschaftlichen und kulturellen Attraktionen und ab 1914 vor allem als Fluchtbewegung aus Galizien, wo der Krieg zwischen der Habsburgermonarchie und dem Russländischen Reich tobte.

 

Mit der Schaffung der Republik Österreich lebten somit über 90 Prozent aller österreichischen Jüdinnen und Juden in Wien, vor allem in den Bezirken Leopoldstadt (Abb. 1) und Brigittenau. In politischer Hinsicht nahmen sie mehrheitlich die seit 1919 in Wien regierenden Sozialdemokraten als attraktivste Option wahr. Die konservativen Parteien waren antisemitisch dominiert oder hier in der Hauptstadt chancenlos, desgleichen der Liberalismus, der auch auf Bundesebene zusehends an Zuspruch verlor. Innerhalb der Kultusgemeinde allerdings war die als liberal geltende „Union österreichischer Juden“ mit ihrem Konzept eines ausgeprägten Österreich-Patriotismus bis in die 1930er Jahre führend. Obwohl das 1918 in Wien geschaffene Palästina-Amt zur Abfertigung Ausreisewilliger das erste seiner Art in Europa war, blieb der politische Zionismus ein Minderheitenprogramm und war ab 1927 nicht mehr im Gemeinderat vertreten; auf Bundesebene scheiterten Versuche eigenständiger jüdischer Kandidaturen bereits 1920.

 

Vor 1938 existierten in Österreich 34 Kultusgemeinden, davon mit der Ausnahme von Bregenz eine in jeder Bundeshauptstadt. Dabei war das Ost-West-Gefälle markant, denn alleine im Burgenland gab es elf vor allem orthodoxe Kultusgemeinden, in Niederösterreich 15, die allerdings zumeist aus nur wenigen Mitgliedern bestanden. Die grösste Kluft innerhalb der Judenschaft bestand wohl zwischen den in Wien, dem späteren Österreich, Böhmen oder Mähren Geborenen einerseits und den aus Ungarn, Galizien oder der Bukowina Gekommenen andererseits – noch dazu, wenn letztere stark religiös geprägt waren und Polnisch oder Jiddisch als Umgangssprache pflegten.

In kultureller Hinsicht bedeutete der Zuzug aus Galizien somit eine verstärkte Präsenz orthodoxer (Abb. 2) und chassidischer Gemeinden. Um 1938 gab es in Österreich etwa 600 jüdische Vereine, die sich vor allem der Wohltätigkeit und religiösen Angelegenheiten widmeten. Eine weitere Möglichkeit zur kulturellen Artikulation jüdischen Selbstbewusstseins bot der Sport, etwa im Rahmen des 1909 gegründeten und international erfolgreichen Sportklubs Hakoah (hebr. Kraft), womit ganz gezielt dem antisemitischen Bild angeblich typisch jüdischer körperlicher Schwäche begegnet wurde. Hinsichtlich kultureller Aktivitäten ist schliesslich auf die hochgradig vitale Wiener Szene jüdischer Autoren wie Elias Canetti, Egon Friedell, Anton Kuh, Leo Perutz, Alfred Polgar, Joseph Roth, Felix Salten, Artur Schnitzler, Friedrich Torberg, Berthold Viertel, Franz Werfel oder Stefan Zweig, aber auch auf junge Autorinnen wie Stella K. Hershan oder Mimi Grossberg zu verweisen – wobei Friedell und Werfel aus der Israelitischen Kultusgemeinde ausgetreten waren. Viele der Genannten sollte man weniger als österreichisch bezeichnen und stattdessen vielmehr als zwischen globalen oder zumindest europäischen Bezügen einerseits und lokalen, also Wiener Bezügen andererseits pendelnd auffassen; auch die Erinnerung an die multilingualen und multiethnischen Imperien vor 1918, also vor allem die Habsburgermonarchie, spielt bei fast allen eine Rolle. Kultur war und blieb auch in der Zwischenkriegszeit eine Möglichkeit zur gesellschaftlichen Integration; bestes Beispiel sind die seit 1920 abgehaltenen Salzburger Festspiele – zwei ihrer Gründer, Hugo von Hofmannsthal und Max Reinhardt, gingen auf jüdische Milieus zurück, strebten ihrerseits aber in höchstem Mass nach Assimilation.

 

Freilich darf diese kulturelle Blüte nicht darüber hinwegtäuschen, dass Wien seit dem 19. Jahrhundert einen ausgeprägten Antisemitismus entwickelt hatte, der gerade ab 1918 – unter den Vorzeichen von Krise und Neuanfang – neue Blüten trieb. Zudem war das Judentum in der Ersten Republik von einem steten Bevölkerungsrückgang geprägt. Wesentliche Faktoren dafür waren, bedingt durch die neuen, nach 1918 etablierten Grenzen, ein latenter Mangel an Zuzug und folglich Überalterung, Auswanderungen und Austritt aus der Religionsgemeinschaft. – Mischehen etwa waren mit der Notwendigkeit zum Religionsaus- und -übertritt verbunden, ausserdem wurden von Austritten häufig gesellschaftliche und wirtschaftliche Vorteile erwartet. Jüdische Gemeinden hingegen wurden im neuen Österreich umso mehr zum Fokus vor allem deutschnationaler Exklusionsbestrebungen. Aber auch die Sozialdemokratie war gegenüber ihren jüdischen Wählern indifferent bis manchmal auch ablehnend, zu gross war die Angst vor einem judenfreundlichen Image. Bereits 1919 fanden Vertreter der Christlichsozialen und der Deutschnationalen im „Deutschösterreichischen Schutzverein Antisemiten-Bund“ zueinander. – Distanzierungen des Klerus vom rassistischen Antisemitismus der Nationalsozialisten erwiesen sich vor diesem Hintergrund als halbherzig und wirkungslos. Konzepte von Boykott und Isolation hingegen blieben gemeinsame Klammern christlichsozialer und deutschnationaler Gesinnung und wurden vor allem nach der Machtübernahme durch den Austrofaschismus betrieben, etwa in Schulen, an Universitäten oder gegenüber Ärzten in öffentlichen Spitälern. Generell war die gesamte Zwischenkriegszeit von einer erschreckenden rhetorischen Brutalität ganz allgemein und gegenüber Juden speziell gekennzeichnet, was sich bald auch in Aktionen niederschlug; es sei an den Schriftsteller Hugo Bettauer erinnert, der 1925 vom Wiener Nationalsozialisten Otto Rothstock angeschossen wurde und seinen Verletzungen erlag.

 

Innerhalb der Wiener Kultusgemeinde konnte sich der Zionismus mit dem Jahr 1933 schliesslich kurzfristig durchsetzen. Grund dafür war freilich der Erfolg des Nationalsozialismus in Deutschland, dem nun mit der Umsetzung eines Konzeptes eigener territorialer Staatlichkeit begegnet werden sollte. Jedoch erst mit der Erfahrung der Shoa wurde die Idee eines im Jahr 1948 mit der Schaffung Israels umgesetzten jüdischen Staates zum mehrheitsfähigen Konsens-Programm auch für österreichische Juden.