Ausgabe

Weiterleben nach der Katastrophe

Bernd Schuchter

Inhalt

Michael Englishman: 163256: laut und klar.

Aus der Asche des Holocaust.

Aus dem Englischen von Katja Anton Cronauer.

Lich/Hessen: Verlag Edition AV 2017.

139 Seiten, Euro 14,40 (AT)

ISBN 978-3-86841-147-8

 

„Viele Jahre lang sagte ich immer, wenn mich meine Enkel über die eintätowierte Nummer auf meinem Arm befragten: ‚Das ist meine alte Telefonnummer. Ich habe sie da hingeschrieben, damit ich sie nicht vergesse.’ Irgendwann waren sie mit dieser Antwort nicht mehr zufrieden, also fing ich an, ihnen dies und das über den Zweiten Weltkrieg zu erzählen. Als sie etwas älter waren, hörten sie durch andere Leute von den Konzentrationslagern. Ich beschloss, reinen Tisch zu machen.“ (S. 137)

Durch das Erzählen und sich Erinnern stösst Michael Englischman das Tor zu seiner traumatischen Vergangenheit auf und es gelingt ihm wie nebenbei, ein wenig bekanntes Kapitel des Holocaust zu erzählen. Sein im Verlag Edition AV erschienenes Buch 163256. laut und klar liegt nun in der deutschen Übersetzung von Katja Anton Cronauer vor und erzählt minutiös das Schicksal Englischmans, das stellvertretend für das Elend so vieler verfolgter, deportierter und ermordeter Juden aus den Niederlanden steht. Englischman überlebte mehrere Konzentrationslager und konnte nach Amsterdam zurückkehren. Dort angekommen, abgemagert und von einem schweren Augenleiden gezeichnet, muss er den zuständigen Beamten erst beweisen, dass er nicht tot ist, um ein paar Essensmarken zu bekommen. In der ehemaligen elterlichen Wohnung lebt mittlerweile eine Nazi-Sympathisantin, die ihn beschimpft und vertreibt. In diesem Moment absoluter Einsamkeit erinnert sich Englischman an ein Versprechen, das er seinem Freund Max Pels gab: sich um dessen Frau Rika und die Kinder Katy und Philipp zu kümmern, falls er überleben sollte. Umgekehrt schwor ihm Max Pels umgekehrt das gleiche für seine Familie zu tun.

Hier lugt in Englischmans Buch so etwas wie Hoffnung zwischen den Zeilen hervor, denn der Autor erzählt sein Leben nicht als bloss wehmütige Abrechnung mit der Vergangenheit, sondern zeigt auf, wie er gelernt hat, mit seinem Schicksal fertig zu werden und dass es nie zu spät ist, sich zu engagieren. Selbst vor seiner Verhaftung und später in den Lagern half er Mitgefangenen, sabotierte die Arbeiten in den Fabriken, zu denen er gepresst wurde, vor allem aber gelingt es ihm, ein neues Leben zu gründen. 1949 heiratet er Rika Pels und geht mit ihr und den Kindern nach Kanada, arbeitet als Elektriker und findet gar zur Religion zurück. Er arbeitet als Elektrotechniker und macht sich schliesslich selbstständig, engagiert sich gegen die wiedererstarkte Neonazi-Szene in Kanada und vermittelt sein Wissen in Vorträgen an Schulen. Und er versöhnt sich mit seiner Vergangenheit, besucht die Gedenkveranstaltung „Marsch der Lebenden“ in Auschwitz und Birkenau, reist nach Israel und findet – nachdem er Jahrzehntelang geglaubt hat, als einziger in seiner Familie den Holocaust überlebt zu haben – in den Niederlanden einen Cousin.

Michael Englischmans 163256. laut und klar ist ein wertvoller Beitrag zu einem wenig beleuchteten Kapitel der Zeitgeschichte und ein beeindruckendes Plädoyer für ein gelungenes Leben.