Wehe denen, die in aufregenden Zeiten leben. Die Anzeichen mehren sich, dass weltweit die Zeiten aufregender werden. Für Intellektuelle, Kunstschaffende und auch AustellungsmacherInnen gilt es hier zunächst Ruhe zu bewahren und nicht selbst aufheizend zu wirken, allerdings auch nicht kalmierend.
Das bekannte „Godwin Law“ ist ein ironisches Gesetz, das angibt, je länger eine Debatte im Internet dauere, desto höher sei die Wahrscheinlichkeit eines Nazis-Vergleichs. Ihr Schöpfer Michael Wayne Godwin wiederrief vor kurzem sein Gesetz nach den Aufmärschen der Alt-Right-Bewegung in Charlottesville mit deutlichen Worten: „Bezeichnet sie als Nazis, auf jeden Fall, und tut es immer wieder und wieder“. Anders gesagt, schreckt nicht vor dem Vergleich heutiger Vorgänge mit jenen der 1930er Jahre zurück. Ohne Frage muss dieser Bezug sparsam und mit grosser Vorsicht hergestellt werden, aber es stimmt eben die Beobachtung Primo Levis, dass jede Zeit ihren eigenen Faschismus hervorbringt und dessen Gestalt sollte möglichst frühzeitig aufgedeckt werden. Die historischen Unterschiede mögen jeweils enorm sein, aber ebenso gibt es die Evidenz wiederkehrender Muster. Die Ausstellungsmacher Andreas Brunner, Barbara Staudinger und Hannes Sulzenbacher setzen mit ihrer Ausstellung „Die Stadt ohne“, die noch bis zum 30. Dezember 2018 im Wiener METRO Kinokulturhaus zu sehen ist, einen mutigen Schritt in die richtige Richtung. Sie wagen eine schmerzhafte Aufklärungsarbeit, indem sie Plakataktionen der NSDAP neben aktuelle Protestaktionen der FPÖ setzen und damit auf ein kaum übersehbares Grundmuster weisen. Die Plakate suggerieren das eigene „Volk“ müsse vor dem „Fremden“, seien es Ausländer, Flüchtlinge, Moslems oder Juden, geschützt werden.
Cover des Romans „Die Stadt ohne Juden“ von Hugo Bettauer (1922)
© Filmarchiv Austria
Ein simples Schema: Wir gegen die
Hierbei geht es den Kuratoren keineswegs darum, parteipolitisch Stellung zu beziehen, denn in der Ausstellung finden sich ähnlich erschütternde Plakatbeispiele der SPÖ oder der Christlich Sozialen Partei, der Vorläuferpartei der ÖVP. Was diese hetzerischen Plakate von den 1920er Jahren bis in die Gegenwart eint, ist der Kniff komplexe gesellschaftliche und vor allem ökonomische Probleme durch dualistische Gruppenidentitäten zu simplifizieren, die stets dem Schema folgen „wir“ gegen „die“. Diese Simplifizierung, die heute gemeinhin „Populismus“ genannt wird, ist zuweilen sehr erfolgreich. Adolf Hitler selbst hat seinen Erfolg damit erklärt, dass es ihm gelungen war, politische Sachverhalte, die von der Bevölkerung als ermüdend und kompliziert empfunden wurden, auf einfachste Formeln zu reduzieren.
Dementgegen sind die ungelösten Widersprüche der Industrialisierung, die regelmässig zu Beschäftigungskrisen führen, nur sehr schwer zu verstehen und zu beschreiben. An dieser Aufgabe scheitern Soziologen, Ökonomen und Politikwissenschaftler regelmässig und es gelingt ihnen nicht einmal eine einheitliche Beschreibung des Problems zu bieten, dem nicht sogleich energisch von anderen Wissenschaftlern widersprochen werden würde. Der Satz allerdings, „die Ausländer nehmen uns die Arbeitsplätze weg“ ist kinderleicht zu verstehen. Er hat nur einen winzigen Fehler – er ist falsch. Allein schon deswegen, weil er der Komplexität der wahren Sachverhalte nicht gerecht wird. Sobald aber Sätze dieser Art von Parteien artikuliert werden, entfalten sie eine fatale Wirkungsgeschichte.
Titelbild des Films „DIE STADT OHNE JUDEN“ (1924) © Filmarchiv Austria
Vexierbilder
Die Auswirkungen einer Politik, die sich rassistischer und antisemitischer Ressentiments bedient, lassen sich sehr wohl vorhersehen. Die Kuratoren beweisen dies eindrucksvoll, in dem sie die Ausstellung rund um den Stummfilm „Die Stadt ohne Juden“ von Hans Karl Breslauer gruppieren. Der Film, der nach einer Romanvorlage von Hugo Bettauer entstand, stammt aus dem Jahr 1924 und bebildert Aspekte des nationalsozialistischen Terrors mit einer gespenstischen Prophetie, viele Jahre bevor die Nazis an die Macht kamen. Der Plot des Films ist schnell erklärt, ein fiktiver Staat entscheidet sich seine Juden auszuweisen. Wichtige Teile seiner Wirkung erzielt der Film durch einen Effekt, der unmöglich von seinen Machern intendiert worden sein kann. Vieles in dem Film erscheint zwar aus heutiger Sicht fremd und unbekannt, zugleich tauchen aber Elemente auf, die aus der aktuellen Gegenwart entnommen sein könnten. Dieser irritierende Eindruck korrespondiert sehr gut mit der aufklärerischen Intention der Ausstellung und er findet sich auch in einigen anderen Exponaten.
Diese besondere Wirkung lässt sich zunächst gut anhand der ausgestellten Fotoserie von Rudolf Hass erklären. Zu sehen sind leere jüdische Wohnungen der Jahre 1937- 39. Vermutlich baten die Geflohenen den Fotografen ihre Wohnungen zu dokumentieren. In der heutigen Betrachtung entsteht ein Vexierrätsel, das die Betrachter zu fesseln vermag: Sind die Bilder ganz nah an der heutigen Realität oder sind sie unerklärlich weit entfernt? Dies ist wohlgemerkt keine metaphorische Frage, sondern ein konkretes Rätsel, das Fotodokumente zuweilen erzeugen können. In jedem Detail der Küchen, Wohn- oder Schlafzimmer finden sich Alltagsgegenstände die in der heutigen Betrachtung verwundern müssen. Gab es damals schon Durchlauferhitzer? Antwort: Ja, auf einem der Küchenbilder ist einer zu sehen. Technische Entwicklungen sind in der Rückschau schwer einzuschätzen. Gab es in den 1930er Jahren schon Linienflüge? Hatten die Kaufhäuser bereits Rolltreppen? Zweimal ein „Ja“ übrigens. Die Distanz zu den damaligen Lebensverhältnissen schrumpft, wenn den Betrachtern vor Augen geführt wird, dass Elemente der aktuellen Lebenswelt bereits vor mehr als achtzig Jahren vorhanden waren. Die scheinbare Gewissheit verfliegt, dass zwischen Heute und Gestern eine grosse Distanz durch Fortschritt und Weiterentwicklung besteht.
Dies wird auch im Design spürbar. Manche Möbelstücke wirken kurios altertümlich und waren es vielleicht bereits damals, aber andere sind von einer aufgeräumten Klarheit, dass sie in eine heutige IKEA-Ausstellung gestellt werden könnten, ohne dort aufzufallen. Die Karniesen, Regale und Schubladen zeigen, die Moderne ist eben schon ziemlich alt. Und dann ist da zugleich dieser konträre Eindruck. Durch die Fototechnik jener Jahre bedingt, sind die Fenster der Zimmer überbelichtet und strahlen in einem gleissenden Licht. Alle natürlichen Konturen verschwinden darin. Die Zimmer scheinen in einer fernen, unwirklichen Zauberwelt zu liegen. Die aufgeräumten und inszeniert wirkenden Gegenstände verstärken diesen Eindruck. Alles was zu sehen ist, ist gerade nicht alltäglich, sondern scheint aus der Welt gehoben zu sein. Ein gespenstiger Eindruck entsteht, der beim Betrachten der Bilder eine gewisse Beklommenheit erzeugt, die rein durch die Form der Bilder entsteht und sich wohl auch ohne jede Kenntnis ihres Kontextes einstellt.
Plakat zur Ausstellung „DIE STADT OHNE“ im Wiener METRO Kinokulturhaus (2018)
Die Stadt ohne Juden
Eine ähnliche Wirkung hat der Film „Die Stadt ohne Juden“. Er ist zugleich in seiner Wirkung und in manchen seiner dramaturgischen Mittel so aktuell und gegenwärtig, dass die Behandlung seines Stoffes in bekannter Weise zu packen vermag. Zugleich wirkt er in Teilen fremd und unwirklich. Manches an ihm ist so verspult und ungelenk, dass er selbst für Stummfilm-erfahrene Rezipienten ein wenig kurios wirkt. Und das liegt nicht nur am manierierten Spiel von Hans Moser. Der stumme Film will kein naturalistisches Abbild, er ist heftig. „Die Stadt ohne Juden“ bedient diese Mittel. Es gibt Slapstick-Sequenzen mit Betrunkenen. Bei den flammenden Reden werden die Fäuste stürmisch an die Schläfen gehämmert und manche Redner sind geschminkt wie Vampire. Die wenigen Massenszenen wurden wieder und wieder in den Film geschnitten. Dies alles ist weit entfernt von aktuellen Sehgewohnheiten. Auch misslingt es dem Film letztlich seine dramatische Grundkonzeption, die Vertreibung der Juden aus einem Staat, überzeugend aufzulösen. Er verordnet sich einen versöhnlichen Abschluss mit der Wiederkehr der Juden, den er nicht kohärent argumentieren kann. Genaugenommen ist der Schluss beinahe fatal und widerspricht eigentlich den Intentionen des Werkes.
Ohne Frage richtet sich der Film gegen antisemitische Zuschreibungen. „Wir sind alle Brüder, Gott schuf uns aus dem gleichen Lehm“ ist seine schöne Formel am Ende. Nur der Weg zu dieser Einsicht wird etwas ungeschickt beschritten. Beispielsweise zeigt der Film, wie nach der Ausweisung der Juden, der Mode im Land plötzlich die weltgewandte Eleganz zu fehlen beginnt. Sicherlich, Länder, die sich abkapseln, erleiden einen Schaden auch in ihrer modischen Vielseitigkeit. Nur, warum dies dezidiert auf die Juden beziehen? Man hat schon schlecht gekleidete Jüdinnen und Juden gesehen. Eine „positive Diskriminierung“ ist auch eine Diskriminierung und als solche unzulässig. Schlimmer noch, der Film zeigt zu Beginn zwar, dass die Probleme der Finanzwirtschaft antisemitisch gedeutet werden, indem den gierigen Juden die Schuld gegeben wird. Dann wird im Laufe des Films nach der Ausweisung der Juden die Wirtschaft des Landes durch Verfall seiner Währung in die Knie gezwungen und der Film suggeriert tatsächlich, dass dies das Werk jüdischer Spekulanten gewesen sein könnte. Neben dem Motiv dass Leo, der jüdische Protagonist, sich getarnt ins Land zurückschleicht und propagandistische Plakate aufhängt, ist diese Storyline wohl als zumindest sehr ungeschickt zu bezeichnen. Und dies war völlig unnötig. Der Film hätte deutlich machen können, dass jede Abkapselung nicht nur schwerwiegende kulturelle, sondern auch kommerzielle Schäden verursacht. Anschauungsmaterial dafür bietet die Geschichte zu genüge und diese Vorgänge hätten erklärt werden können, ohne jedweden Bezug zu angeblichen, kulturellen Identitäten.
Eine beklemmende Prophetie
Was aber an dem Film überwiegt, ist sein fast furchterregender Realismus. In einer Szene ist eine Parlamentsdebatte zu sehen. Den Juden, so wird gesagt, sei es erlaubt ihr Vermögen mitzunehmen, allerdings nur jenes, das den Steuerbehörden zuvor bekannt gegeben worden sei. Gelächter. Ein köstlicher Scherz finden die Parlamentarier und schütteln sich vor Lachen. Die Konsequenzen der Enteignungsgesetze werden gezeigt. Von der Vertreibung bedrohte Juden sind zu Zwangsverkäufen in wilder Eile gezwungen und werden überall übervorteilt. Genau das geschah 1938, vierzehn Jahre später, als Adolf Eichmann die „Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Wien“ aufbaute und sich verbrecherisch bereicherte, indem er seinen Opfern absurde Steuern, wie beispielsweise völlig übersteigerte Hundesteuern aufbürdete und unbewältigbare Nachweisverfahren verlangte. Er rechtfertigte dies zum Gaudium seiner Schergen damit, dass im Parteiprogramm der NSDAP stünde „Jud‘ verrecke und nicht Jud‘ vereise“. Es scheint als hätte der Film „Stadt ohne Juden“ diese Abläufe dezidiert vorausgesehen, bis zum Detail der dümmlichen Häme der Täter.
Schon bald wird im Film Gewalt eingesetzt zur Vertreibung der Juden, die eine geordnete Ausreise unmöglich bis zu dem überfallsartig früh angesetzten Termin schaffen konnten. In einer der „besten“ Szenen des Films sieht man die Vertriebenen auf schwerem Weg dahinstapfen. Frauen, Kinder und Alte, die tief in den Boden einsinken und dem winterlichen Wetter ausgesetzt sind. Manche können nicht mehr, werden aber gewaltsam zum Weitergehen gezwungen. Ein kaum vergesslicher Anblick, der seine Intensität gerade aus dem – für heutige Augen – minderwertigen Bildmaterial gewinnt. Ein Vexierbild, bei dem irritiert vermutet werden könnte, es handle sich um Dokumentaraufnahmen von Vertriebenen oder sonstige Flüchtlingstrecks. Aber das ist unmöglich, der Film stammt schliesslich aus dem Jahr 1924 und jene Schrecken lagen zum Zeitpunkt der Filmproduktion noch in der Zukunft. Der Film „Die Stadt ohne Juden“ hat es sich zum Ziel gemacht den Wahnsinn durchzubuchstabieren und ihn mit dem gestalterischen Mitteln des Stummfilms umzusetzen. Dieser Versuch ist letztlich geglückt und macht den Film noch heute zu einem beeindruckenden und bedrückenden Erlebnis.
Brettspiel1938-Yoram-Reshef "Ein Brettspiel aus dem Jahr 1938"
Es war klug vom Kuratorenteam diesen Film ins Zentrum ihrer Ausstellung zum Gedenkjahr 2018 zu rücken. Wichtig war es ebenso die Thematik zu öffnen und zu zeigen, wie Antisemitismus, Ausländerhass, Hass gegen Moslems und Flüchtlinge den selben Motiven folgen. Bedauerlicherweise zeigt sich, wie aktuell diese Thematik ist, denn die Fassade des Kinokulturhauses wurde schon mehrmals Zielscheibe antimuslimischer und antisemitischer Beschädigungen. So wurden etwa Hakenkreuze an die Eingangstüren geschmiert. Es sind leider aufregende Zeiten, in denen Aufklärungsarbeit und Solidarität mit den Ausgegrenzten gezeigt werden sollte, damit nicht wieder eine Spaltung des „wir gegen die“ gelingt, deren fatale Folgen in der Ausstellung „Die Stadt ohne“ eindrucksvoll bebildert sind.
Frank Jödicke ist Autor und Redakteur des Online-Magazins „skug“, das sich mit Musik, Kunst und verschieden Fragen des Zusammenwirkens von Ästhetik und Politik beschäftigt und nahezu täglich neue Berichte unter www.skug.at bietet.