Ausgabe

Judentum – Einheit trotz Vielfalt?

Karl E. GRÖZINGER

Teil 1

 

Inhalt

Das Judentum stellt sich dem Beobachter als eine überaus grosse, reiche aber zum Teil auch gegensätzliche und oft widersprüchliche Vielfalt dar, angesichts der man von innen wie von aussen sich die Frage stellte und heute in verschärftem Masse wieder stellt, worin denn das einigende alle Seiten verbindende Band besteht, das es als berechtigt erscheinen lässt, das Judentum als Einheit zu verstehen. Der folgende Gang durch die jüdische Geschichte zeigt, dass sich dieses Problem seit allen Anfängen stellte und welche durchaus unterschiedlichen Schritte man ergriffen hat, um die Einheit über der Differenz zu bewahren.

 

Halachische Auseinandersetzung und Einheit in der Antike – und ein Seitenblick auf die Vielfalt der Gegenwart

Ich will das Bild der Einheit, das für viele unfraglich erscheint, mit einem uralten Streit beginnen, der tief in die jüdische Geschichte zurückreicht. Im Talmud wird die folgende Episode erzählt:

»Drei Jahre stritt die Schule des Hillel mit der Schule des Schamaj. Die einen sagten, das Recht folgt unsrer Meinung und die andern sagten, das Recht folgt unsrer Meinung. Da erscholl eine Stimme vom Himmel, die rief: Diese und jene sind die Worte des lebendigen G’ttes, aber das gültige Recht richtet sich nach der Schule Hillels!«

 

Natürlich konnte diese offenbar willkürliche Entscheidung des Himmels so nicht akzeptiert werden! Wenn beides, so lautet der sofort erhobene Einwand – wenn beides Worte G’ttes sind, weshalb richtet sich die Halacha, also das gültige Recht, nach der Schule Hillels? Die nun folgende Antwort des Himmels ist nicht philosophisch, sondern pragmatisch. Sie lautet: Die Halacha richtet sich nach den Hilleliten, »weil sie verträglich und bescheiden waren und neben der eigenen Meinung auch die der anderen studierten, und deren Meinung sogar stets zuerst anführten« – eine wahrhaft himmlische Begründung!

 

Mit dieser kleinen Anekdote ist das gestellte Thema schon in seinem Kern umrissen: Das Natürliche ist die Vielfalt innerhalb des Judentums, sie ist unendlich gross und das reiche Programm der hierzulande jährlich veranstalteten jüdischen Kulturtage und die zahlreichen Veranstaltungen des alltäglichen jüdischen Lebens vermitteln einen guten Eindruck von dieser Vielfalt. Nicht ohne Berechtigung hört man gelegentlich die Äusserung, dass es nicht nur das eine Judentum gebe, sondern viele Judentümer, aber so muss man doch anmerken: In allen steckt dennoch das eine Wort Judentum.

 

Diese Vielfalt des Judentums hört, sieht und schmeckt man, wenn man einen Gang durch die unterschiedlichen jüdischen Milieus macht. Die Gerüche der polnisch-jüdischen Küche sind ganz andere als die der orientalischen. Die ostjüdische Klesmermusik klingt ganz anders als die orientalisch jüdische Musik, ganz zu schweigen von der jüdischen Musik des venezianischen Ghettos zur Zeit der Renaissance und des Barock, in der man eher Vivaldi, Bach und Händel mitklingen hört. Die Kleidung der streng frommen Juden im Jerusalemer Stadtviertel  Me’ah Sche’arim trennt Welten von der Sportkleidung eines amerikanischen Reformrabbiners oder gar von den jüdisch feministischen Gemeinden Amerikas. Ganz zu schweigen von den Fussballern des Makkabi hier in der Diaspora oder in Israel. Angesichts dieser Vielfalt stellt sich die brennende Frage: Was ist es, das diese kaum überschaubare Vielfalt zusammenhält?

 

Man mag gegen diese Beispiele einwenden, dass die hier genannten Unterschiede alles nur Äusserlichkeiten seien, dass es aber in der Substanz, also in der Religion oder in der Philosophie nicht solche Widersprüche gab – denn Religion und Philosophie waren es doch schliesslich, die dieses Judentum zusammenhielten. Weit gefehlt! Gerade hier, wo es um das Herz des Jüdischen geht, könnte die Vielfalt und die Auseinandersetzung kaum grösser sein.

 

Kehren wir zurück zum Streit zwischen den beiden altrabbinischen Schulen –  dieser Streit wurde durch eine Stimme vom Himmel weise entschieden und die Einheit über der Auseinandersetzung war wieder hergestellt. Die Berufung auf den Himmel zur Bewahrung der jüdischen Einheit sollte indessen nicht sehr lange andauern. Schon der Talmud erzählt in einer anderen, sehr berühmten Geschichte, dass sich die Meister im rabbinischen Lehrhaus nicht vom Himmel dreinreden lassen wollten. Wieder geht es um eine Auseinandersetzung um die Halacha, also das gültige jüdische Recht. Und wieder erschallt nach mehreren Wundern, welche die eine Seite bestätigen sollten, schliesslich eine Himmelsstimme, welche die Halacha zugunsten der einen Seite entscheiden wollte. Jetzt aber erhob sich der Widerspruch von Seiten der Gelehrten:

»Da stand Rabbi Jehoschua auf und sprach: ›sie ist nicht im Himmel‹ [Dtn 30,12]. Was heisst: ›sie ist nicht im Himmel?‹ R. Jirmeja antwortete: ›Die Tora ist bereits vom Berge Sinai her gegeben worden [und befindet sich demnach nicht mehr im Himmel]. Darum achten wir auf keine himmlische Stimme, denn bereits am Berge Sinai hast Du in die Tora geschrieben: ›Nach der Mehrheit ist zu entscheiden [Ex 23,2].‹«

 

Der Himmel ist damit ausgeschaltet. Er kann die Einheit nicht verbürgen. Es ist demnach die Aufgabe der Toragelehrten selbst, die Einheit des Judentums zu bewahren, oder besser gesagt, sie herzustellen. Als Leitfaden für die Einheit des Judentums galten fortan die Tora und ihre Auslegung. Und das heisst: Wer immer etwas zum Judentum zu sagen hatte, musste dies als Worte der Tora vortragen –  selbst wenn er deutlich vom Konsens abweichende Meinungen vertrat. Durch die formale Bindung der innerjüdischen Debatten an die Auslegung der Tora, wurde für lange Zeit die Einheit des Judentums leidlich bewahrt. Die Tora war der Zaun, welcher in der Lehrhausdebatte die widerstrebenden Meinungen wenigstens formal zusammenband und die Vielfalt der Differenzen in einem formalen Ausgleich stabilisierte. Aber wie das bei menschlichen Verhältnissen so ist, auch dieser Rahmen wurde eines Tages brüchig. Spätestens im Mittelalter gingen die verschiedenen Auslegungen der Tora so weit auseinander, dass der formale Rahmen des Diskurses nicht mehr fähig war, die Einheit wirklich zu garantieren.

 

Das Mittelalter – Talmudisten, Philosophen und Kabbalisten

Es war die mittelalterliche Philosophie, die den rabbinischen Konsens in Theologie und Weltauffassung als Kinderglauben abtat. Wo die rabbinische Theologie noch unbefangen ihren G’tt in den sieben Himmeln thronen liess, umgeben von jauchzenden Engeln, wo die alten Prediger noch ohne Zaudern davon sprachen, dass dieser G’tt Ohren hat, um die Gebete und Notschreie der Menschen zu hören, wo man glaubte, dieser G’tt habe direkt zu den Menschen am Berg Sinai und anderen Orten und Zeiten gesprochen und wo man die Meinung vertrat, dass die Hand G’ttes mächtig in die Geschichte eingreifen kann, um sein Volk Israel zu retten, ernteten die traditionellen Prediger Widerspruch. All diesen naiven altrabbinischen Auffassungen setzten die Philosophen ein Weltbild entgegen, das die Einheit des Judentums bedrohte.

 

Die Philosophen nannten G’tt nunmehr die Ursache aller Ursachen. Der Schöpfer steht jetzt am Anfang einer endlos langen Ursachenkette von natürlichen Ursachen, welche das Geschehen in der Welt leiten. Dieser G’tt der Philosophen war von allen Geschöpfen unüberwindbar verschieden, so auch vom Menschen. Dieser G’tt hatte keine Ohren, um das Gebet zu hören, er hatte keine Augen, um das Schicksal seines Volkes zu verfolgen, geschweige denn eine Hand, um spontan in diese Welt einzugreifen. Die traditionelle jüdische Religion war damit aus den Angeln gehoben. Alles sollte nunmehr von der menschlichen Vernunft bestimmt werden, nicht durch die am Sinai offenbarte Tora. Die Philosophen meinten, dass nur die jüdischen Gesetze, welche von der Vernunft bestätigt werden konnten, wirkliche Geltung hätten. Die restlichen Gebote, die man nicht verstand, mochte man aus Gehorsam dennoch befolgen, aber irgendwann würde auch hier die Vernunft das Sagen haben.

 

Einen Nachhall dieser Vernunftreligion hörte man noch im 19. Jahrhundert, man hört ihn oft bis in unsere Tage. Zum Beispiel da, wo die jüdischen Speisegesetze mit medizinisch-dietätischen Argumenten verteidigt werden – etwa, dass das Schweinefleisch wegen der Trichinengefahr verboten sei, der himmlische Gesetzgeber also die »die Gesundheit und das Wohlergehen des menschlichen Körpers« im Auge gehabt hatte. Mit solchen Auffassungen wurde behauptet, verpflichtendes jüdisches Gesetz sei nur dort, wo dies durch die Vernunft geboten wird. Das war der Anfang des Endes der Halacha, wie wir dies beim heutigen Reformjudentum und bei den säkularen Juden sehen. Die menschliche Vernunft sollte über der Halacha stehen! Damit war die Einheit des Judentums gefährdet.

 

Die Gräben wurden noch tiefer, als die Kabbalisten auftraten und den Rationalisten gegenüber alle Gebote als sakrosankt verteidigten, weil, so die Meinung der Kabbalisten, man durch die penible Gebotserfüllung den Segen aus der göttlichen Welt auf den Menschen herabzwingen kann – eine wahrhaft heilige Magie! Ganz zu schweigen vom Glauben der Kabbala, G’tt habe sich als eine Zehnfaltigkeit offenbart. Grösser konnten die Differenzen kaum sein. Die Einheit des Judentums war bedroht. Es standen sich drei einander bekämpfende Richtungen gegenüber, Talmudisten, Philosophen und Kabbalisten. Und wieder gab es auch im Mittelalter den Versuch, die brüchige Einheit des Judentums zu retten. Auf eine Stimme vom Himmel wollten nicht mehr alle bauen, allenfalls die Kabbalisten, nicht aber die Talmudisten und schon gar nicht die Philosophen. Die Einheit des Judentums musste von den Menschen selbst gesichert werden. Und in dieser Lage war es geradezu ein Geniestreich, dass einige Gelehrte – mit Erfolg – die Lehre vom vierfachen Schriftsinn erfanden. Diese Lehre besagt: G’tt und seine Welt sind so vielfältig und so wunderbar, dass eine einzige Denk- und Redeweise des Menschen nicht genug ist, um angemessen von diesem G’tt zu sprechen. Darum verkündete die Lehre vom vierfachen Schriftsinn: Man redet von G’tt nur angemessen, wenn man die Tora in vierfacher Weise deutet: Zuerst nach dem einfachen historischen Wortsinn, sodann nach dem Verständnis der Philosophie, zum dritten im Sinne der rabbinischen Ethik und schliesslich im Mysteriensinn der Kabbala. Jeder wird sogleich verstehen, dass dies lauter Widersprüche sind, unüberbrückbare Gegensätze. Aber die neue Theorie, dass diese unterschiedlichen Auslegungsweisen der Tora nötig sind, um angemessen über G’tt zu sprechen, hat die zerstrittenen Schulen in einer neuen sehr barocken Einheit zusammengezwungen.

 

So finden wir alsbald Rabbiner, die zugleich Talmudisten, Philosophen und Kabbalisten waren. Und noch mehr: Wenn man ein traditionelles jüdisches Gebetbuch aufschlägt, das täglich im Gebet der Synagoge verwendet wird, so wird man finden, dass in diesen Büchern friedlich nebeneinander Texte aus allen drei Schulen zu finden sind. Der Kompromiss, oder besser die Verklammerung der rivalisierenden Schulen des Mittelalters, wurde zur allgemein akzeptierten jüdischen Frömmigkeit. Die neu gewonnene Verklammerung durch die Lehre vom vierfachen Schriftsinn bewahrte die Einheit des Judentums und hat zugleich die innere Vielfalt bereichert und bestätigt. 

 

 

Die Fortsetzung dieses Artikels lesen Sie bitte in DAVID 120, Pessach 2019.