Ausgabe

Judenschutz und Hostienschändungslegenden

Eveline Brugger und Birgit Wiedl

Die „Pulkauer Verfolgung“ von 1338

 

Inhalt

Die Etablierung der österreichischen Herzöge als Schutzherren der Juden auf ihrem Territorium erfolgte bereits unter den Babenbergern. Basierend auf einem grosszügigen Privileg förderten die Landesfürsten ihre jüdischen Untertanen im Austausch gegen beträchtliche Steuerleistungen und herzogliche Kontrolle der jüdischen Wirtschaftstätigkeit. „Ihre“ Juden waren für sie dabei ein wirtschaftlich-politischer Faktor unter vielen, der finanziell genützt und zu diesem Zweck lange Zeit prinzipiell geschützt wurde, aber auch ins Hintertreffen geraten konnte, wenn andere Rücksichtnahmen überwogen. 

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Hostienfrevel in Sternberg 1492. Diebold Schilling d.J. (1460 -?), Luzerner Bilderchronik, vol. 154v, 1513. Quelle: Wikimedia Commons, abgerufen am 10.11.2018.

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Der Pulkauer Altar. Foto: Pfarre Pulkau, Referat für Kunst und Denkmalpflege der Erzdiözese Wien, mit freundlicher Genehmigung.

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Synagoge mit Augenbinde, zerbrochenem Stab und herabfallenden Gesetzestafeln. Strass-
burg, Liebfrauenmünster, um 1230. Foto: Vassil, 5.3.2007. Quelle: Wikimedia Commons, abgerufen am 10.11.2018.

 

Ihre Abhängigkeit vom herzoglichen Schutz brachte die österreichischen Juden mit dem Einsetzen von Verfolgungen um die Wende zum 14. Jahrhundert in eine zunehmend prekäre Situation. Die ersten Judenverfolgungen in Österreich wurden nicht von einer geistlichen oder weltlichen Obrigkeit initiiert, sondern gingen von der Bevölkerung aus; die herzogliche Reaktion darauf hing von den momentanen Gegebenheiten ab und konnte daher sehr unterschiedlich ausfallen. So gab es keine herzogliche Bestrafung für die Bürger der landesfürstlichen Stadt Korneuburg, die 1305 die dortigen Juden nach einer durch den örtlichen Priester inszenierten Hostienschändung ermordeten. Als es im folgenden Jahr jedoch im passauisch regierten St. Pölten zu einer ähnlichen Judenverfolgung kam, verhängte Herzog Rudolf III. eine hohe Geldstrafe gegen die Bürger und meldete damit Machtansprüche gegen die Stadtherrschaft des Bischofs von Passau an. 

 

In Zeiten von Verfolgungen konnten Machtkämpfe zwischen dem Herzog und den städtischen Obrigkeiten, die wenig Interesse am Schutz der Juden hatten, daher zur Frage von Leben und Tod für die jüdische Bevölkerung werden. Normalerweise konnte der Landesfürst seine jüdischen Untertanen nur eingeschränkt vor unmittelbaren Bedrohungen schützen, da er nicht die Möglichkeit hatte, schnell genug einzugreifen. Die einzige Massnahme, die der Herzog gegen lokale Ausbrüche von antijüdischer Gewalt setzen konnte, war die nachträgliche Bestrafung der Täter.

 

Etwas anders gestaltete sich die Situation anlässlich des als „Pulkauer Verfolgung“ bekannt gewordenen Ausbruchs antijüdischer Gewalt im Jahr 1338. Zu Ostern dieses Jahres wurde einem Juden in Pulkau eine Hostienschändung vorgeworfen, worauf die Bevölkerung die Juden des Ortes ermordete. Dies löste eine regelrechte Welle von Judenverfolgungen aus, die nicht nur in Niederösterreich, sondern auch in Böhmen und Mähren zahlreiche Opfer forderte. Betroffen waren vor allem kleinere, ländliche Ansiedlungen, während die jüdischen Gemeinden in den grösseren Städten geschützt blieben, auch wenn sie sich, wie in Wien, diesen Schutz durch finanzielle Zugeständnisse an die Bürger erkaufen mussten.

 

Angesichts dieser ersten überregionalen Judenverfolgung im Herzogtum Österreich wandte sich Herzog Albrecht II. an den Papst. Benedikt XII. beauftragte daraufhin den Bischof von Passau, die Sache zu untersuchen und die Juden, falls die Hostienschändungsvorwürfe berechtigt seien, zu bestrafen; würden sie aber für unschuldig befunden, sollten die Anstifter der Verfolgungen strengstens zur Verantwortung gezogen werden. Die päpstliche Haltung mag damit zusammenhängen, dass die Pulkauer Ereignisse Teil einer grösseren Verfolgungswelle waren, die zwischen 1336 und 1338 vor allem die süddeutschen Judengemeinden mit Mord und Plünderung überzog. Es fällt auf, dass selbst christliche zeitgenössische Quellen wirtschaftliche Motive als wahre Gründe dieser antijüdischen Gewaltausbrüche sahen, auch wenn die Verfolger ihr Vorgehen mit angeblichen Hostienschändungen zu rechtfertigen versuchten.

 

Neben dem Vorwurf des Ritualmordes war das Narrativ der durch Juden geschändeten Hostie der zweite antijüdische Vorwurf des Mittelalters, der auf die Vorstellung der Juden als Gottesmörder zurückging. Während ältere Formen von Hostienwunderlegenden auf die Bekehrung von Andersgläubigen, wie z. B. Juden, und Einsicht von Zweiflern abzielten und daher das Überleben der Protagonisten einen zentralen Punkt darstellte, verschob sich mit der Festschreibung der Transsubstantiationslehre im 4. Laterankonzil 1215 der Fokus. Das theologische Konzept der Realpräsenz, der Verwandlung der in der Eucharistie von Priester geweihten Hostie in den realen Leib Christi, musste der Bevölkerung nahegebracht werden. Zur Verankerung dieser geänderten Wertschätzung der Hostie wurde etwa 1264 Fronleichnam, das Fest der leiblichen Gegenwart Christi im Altarsakrament, zum Fest der Gesamtkirche erhoben und schon bald erste Prozessionen abgehalten, bei denen die Hostie den Gläubigen präsentiert wurde. Auch das Narrativ der Hostienschändung durch Nicht-Gläubige wurde ab dem Ende des 13. Jahrhunderts als Vehikel instrumentalisiert, um die komplizierten und abstrakten Vorstellungen über das eucharistischen Verwandlungswunder den Laien buchstäblich anschaulich und begreifbar zu machen. 

 

Dieses veränderte Konzept der Hostie verband sich mit den bereits existierenden Vorstellungen von „jüdischen Verbrechen“. Dabei gilt es festzuhalten, dass es sich bei diesen „Verbrechen“ um christliche Fantasien und Projektionen, um Geschichten von Christen für Christen handelt, die das Bild „der Juden“ bis hin zu deren generell in Frage gestellter Existenzberechtigung im christlichen Kollektiv verankerten. Quasi der Archetyp des jüdischen Verbrechens war die permanente Wiederholung der Passion Christi durch die Juden, die die Vorstellung einer Kontinuität jüdischer Gegnerschaft zum Christentum seit der „ersten Tötung Jesu“ etablierte. Zudem hatte bereits Papst Gregor I. im 6. Jahrhundert vor der Misshandlung christlicher Sakralgegenstände durch Juden gewarnt, die mit den Leiden Christi gleichzusetzen sei. Das Zusammentreffen dieser Vorstellungen mit der erhöhten Bedeutung der Eucharistie und des Objekts der Hostie an sich schuf die Grundlage für die Legenden über Juden, die die Wiedertötung Jesu stellvertretend durch die Schändung einer geweihten Hostie durchführten. Mit dem Verlust der früher zentralen Elemente von Einsicht und Bekehrung und der Verschiebung des Fokus auf die Hostie selbst veränderten sich zeitlicher Ablauf und Rolle der Juden in diesen Legenden fundamental. Die absichtliche Schändung und damit Zurückweisung der Heiligkeit der Hostie schloss die Juden nicht nur von vornherein von jeglicher Erlösung aus, sondern nahm auch Bezug auf das etablierte Bild der jüdischen Verstocktheit und (absichtlichen) Blindheit, das durch Darstellungen wie die blinde Synagoge verbreitet worden war.

 

Während die Vermittlung theologischer Inhalte durchaus im Interesse der Amtskirche lag, waren es vor allem lokale Geistliche, die die leichte „Herstellung“ einer Wunderhostie zur Schaffung eines lukrativen Wallfahrtsortes nutzten, wie er in Korneuburg oder eben auch in Pulkau entstand. Sie konnten sich dabei ab dem frühen 14. Jahrhundert auf die Verankerung überregional einheitlicher erzählerischer Versatzstücke verlassen – die blosse „örtliche Gleichzeitigkeit“ von Juden und einer blutenden Hostie konnte für die Bevölkerung nur eines bedeuten und setzte die gewünschte Ereigniskette bis hin zur blutigen Verfolgung in Gang. 

 

Im Herzogtum Österreich machte die Pulkauer Verfolgung zudem die praktischen Grenzen des herzoglichen Judenschutzes offensichtlich – vor allem in den „herrschaftsferneren“ kleinen Niederlassungen auf dem Land, wo ein unmittelbares herzogliches Eingreifen kaum möglich war. Dies führte zu einem tiefen Einschnitt in der Entwicklung der jüdischen Siedlungen in Niederösterreich: während die grossen Gemeinden bestehen blieben, verschwanden viele der kleineren Ansiedlungen zur Gänze oder doch zumindest für mehrere Jahrzehnte. Die jüdische Siedlung konzentrierte sich in der Folge offenbar verstärkt auf die Umgebung der Zentralorte, wo man im Notfall besser geschützt war, auch wenn sich in der zweiten Jahrhunderthälfte wieder vermehrt jüdische Bewohner kleinerer ländlicher Orte nachweisen lassen.

 

Literatur:

Eveline BRUGGER: Von der Ansiedlung bis zur Vertreibung – Juden in Österreich im Mittelalter. In: Eveline BRUGGER/Martha KEIL/Albert LICHTBLAU/Christoph LING/Barbara STAUDINGER: Geschichte der Juden in Österreich. Wien: 2. verb. Aufl. 2013, S. 123-227.

Miri RUBIN: Gentile Tales. The Narrative Assault on Late Medieval Jews. Philadelphia: 2. Aufl. 2004.

Birgit Wiedl: Die angebliche Hostienschändung in Pulkau 1338 und ihre Rezeption in der christlichen und jüdischen Geschichtsschreibung. In: medaon. Magazin für jüdisches Leben in Forschung und Bildung 6 (2010), S. 1-14, http://medaon.de/pdf/A_Wiedl-6-2010.pdf.

Eveline BRUGGER und Birgit WIEDL: Zwischen Privilegierung und Verfolgung. Jüdisches Leben im Mittelalter in Niederösterreich. In: DAVID Heft Nr. 64 (April 2005).

 

Eveline Brugger: Studium der Geschichte und Romanistik an der Universität Wien, Absolventin des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung. Dissertation zum Verhältnis zwischen Adel und Juden im mittelalterlichen Niederösterreich, Habilitation für das Fach Mittelalterliche Geschichte. Seit 1995 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für jüdische Geschichte Österreichs.

 

Birgit Wiedl: Studium der Geschichte und Germanistik an der Universität Salzburg, Absolventin des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung. Dissertation zu Alltag und Recht im frühneuzeitlichen Handwerk in Salzburg, Habilitation für das Fach Mittelalterliche Geschichte. Seit 2000 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für jüdische Geschichte Österreichs.