Momente aus dem Leben Simon Wiesenthals, der mit seinem Leben und Überleben Geschichte geschrieben hat
Simon Wiesenthal wurde am 31. Dezember 1908 in Buczacz, Galizien, geboren. Zu seinem 110. Geburtstag bringt DAVID Auszüge aus dem Nachruf, der im Nachrichtenmagazin profil erschienen ist. Wiesenthal ist am 20. September 2005 in Wien gestorben. Sein wichtiges Archiv ist das Herzstück des Wiener Wiesenthal Institut für Holocaust-Studien (VWI) geworden.
„Du bist ein religiöser Mensch. Du glaubst an Gott und ein Leben nach dem Tod. Wenn wir in diese andere Welt kommen und die Millionen von Juden treffen, die in den Lagern gestorben sind, und sie uns fragen, Was habt ihr gemacht?’, wird es viele Antworten geben. Der eine wird sagen, Ich bin Juwelier geworden’, der andere, Ich habe Kaffee und Zigaretten geschmuggelt’, noch ein anderer, Ich habe Häuser gebaut’. Und ich werde sagen, Ich habe euch nicht vergessen’.”
Simon Wiesenthal
Mauthausen, Mai 1945, einer der allerersten Tage nach der Befreiung des Konzentrationslagers.
Gestützt von zwei Helfern schleppt sich ein Insasse in das Büro des amerikanischen Colonel Richard Seibel. Den Colonel wird das Bild nicht mehr verlassen: „Ein Skelett, an dem ein gestreifter Pyjama hing. Ein Mann, der dennoch mit seinen Augen sprechen konnte.”
Der ausgezehrte Mann lässt sich auf einen Sessel fallen, sieht, wie GIs ehemalige SS-Männer in Ketten hereinbringen, sie verhören und ist gebannt: „Ich war gerade Zeuge dessen geworden, was der Inhalt meiner Träume gewesen war. Etwas, von dem ich während der ganzen Zeit in den Lagern niemals geglaubt hatte, dass es einmal wahr werden könnte.” Simon Wiesenthal erlebt zum ersten Mal, dass jene, die eben noch über Leben und Tod ent-schieden hatten, Rede und Antwort stehen müssen.
Um ihn herum sterben immer noch Menschen an ihrer Schwäche. Simon Wiesenthal schreibt auf seiner Pritsche liegend in polnischer Sprache die erste Liste der Nazis und der Verbrechen, an die er sich erinnert. Es ist der 25. Mai 1945.
Die Liste wird später im amerikanischen Nationalarchiv gefunden. Sie enthält 91 Namen. Und kurze Charakterisierungen wie die über den SS-Wächter Hujar im Lager Plaszow: „Gewinner zahlreicher Wetten, weil es ihm ge-lang, eine Kugel durch zwei Köpfe gleichzeitig zu jagen.” Die Liste enthält aber auch Namen von Nazis, die sich anständig benommen hatten.
Sechzig Jahre danach ist Simon Wiesenthal die grosse Ikone für den Kampf gegen das Vergessen. Sein von beinahe einem Jahrhundert gezeichnetes Gesicht ist Symbol dafür, was nun das Gewissen genannt wird.
Er weiss wahrscheinlich mehr an Details über den grossen Zivilisationsbruch der westlichen, christlichen Welt als jeder andere. Und er weiss um die Hilflosigkeit, das Verstecken, Taktieren, Abwürgen und das politische Spiel danach.
Es sind die Momente der ersten Nachkriegszeit, aus der das Phänomen Wiesenthal erfahrbar wird. Wie er seinen singulären Weg des Ermittlers auf eigene Faust beginnt. Wie entschieden, streitbar und von sich und seiner Sache überzeugt er ihn zu gehen gewillt ist.
Zu diesem Zeitpunkt fürchtet er, seine ganze Familie, auch seine Frau Cyla, sei unter den Ermordeten, und will antreten, die Mörder zu überführen:
„Obwohl ich polnischer Staatsbürger bin und gern in meinen Heimatort zurückkehren würde, glaube ich, dass die Verbrechen dieser Männer von einem derartigen Ausmass sind, dass keine Anstrengung unterlassen werden sollte, um sie zu verhaften. Ich glaube auch, dass es meine Pflicht ist, meine Dienste anzubieten, entweder, um die Beschreibung ihrer Missetaten zu vervollständigen, oder – falls eine Identifizierung gebraucht wird – als Augenzeuge.”
Viele der Fälle, die Wiesenthal später veröffentlichen sollte, gehen auf diese ersten Nachkriegsmonate zurück: „Es war, als ob man einer Fliege hinterherlaufe. Wenn ich einen Nazi verfolgte, konnte ich drei weitere auf dem Weg dorthin aufsammeln.” Seine Liste war zur Eintrittskarte in die Fahndungsabteilung der US War Crimes Unit geworden. Wiesenthal kann selbst Verhaftungen vornehmen. Bei seiner ersten, der Festnahme eines SS-Wächters in Mauthausen, ist er beinahe zu schwach, die Stiegen zum Haus des Mannes hochzusteigen.
Die US-Truppen verlegen ihren Sitz nach Linz, Wiesenthal arbeitet dort im Office of Strategic Services (OSS), dem US-Militärgeheimdienst und Vorläufer der CIA. Und muss feststellen, dass die meisten der Verhafteten bald wieder freikommen.
Gleichzeitig erkennt er die Notwendigkeit zur eigenen Initiative: Mit anderen ehemaligen Mauthausen-Häftlingen gründet er ein Jüdisches Komitee von Überlebenden zur Spurensuche und Familienzusammenführung.
Im privaten Leben des 37-Jährigen ereignet sich, worauf er nicht mehr zu hoffen gewagt hatte: Im Dezember 1945 wird seine Frau Cyla gefunden. Im folgenden Jahr kommt Tochter Paulinka zur Welt.
Cyla möchte das Erlebte hinter sich lassen, ein normales Leben beginnen. Doch Simon Wiesenthal beharrt darauf, seine Suche nach den Schuldigen fortzusetzen. Wie es ihr damit ergeht, drückt Cyla Wiesenthal später so aus: “Ich bin nicht mit einem Mann verheiratet. Ich bin mit tausen-den, vielleicht Millionen von Toten verheiratet.”
In einer profil-Serie 1975 schreibt Peter Michael Lingens, Wiesenthal besitze weder die Fähigkeit noch den Willen, Erlebtes abzubauen: „Sein Gedächtnis reproduziert es bis heute mit der gleichen Schärfe wie damals: die Gesichter derer, die den Tod erwarteten. Die Gesichter derer, die in die Gräben fielen. Und ihn dazwischen.”
Das Schuldgefühl, überlebt zu haben, trage Wiesenthal mit jeder Handlung, die er für die Toten setze, ein wenig ab. Lingens: „Wie bei jedem Menschen hat dieses – absolut ehrliche – Gefühl auch einen Januskopf: Er fühlt sich zugleich auch als ein Auserwählter.”
Anfang 1947 ist Wiesenthal selbstständig. Und beschreibt sein Selbstverständnis während dieser Zeit später viel sagend: „Mein selbst gewählter Auftrag war mir heilig. ... Ich war nicht mehr der schüchterne Mann, der vor den Fenstern des War Crimes’ in Mauthausen gestanden ist.”
Gesprächspartner. Für die Arbeit seines Dokumentationszentrums in Wien gibt es nie öffentliche Gelder. Simon und Cyla Wiesenthal erhalten vom deutschen Staat als Überlebende der Konzentrations--
lager eine Rente. Die Bürokosten finanziert er über Honorare und Spenden. Mitte der sechziger Jahre erbringt eine grosse Radiosendung in den Niederlanden 400.000 Gulden an Spenden. Ab Ende der siebziger Jahre übernimmt das Wiesenthal Center in Los Angeles einen Teil der laufenden Kosten.
1975 endet der bislang letzte NS-Kriegsverbrecherprozess Österreichs gegen einen ehemaligen Aufseher im KZ Mauthausen mit einem Frei-spruch. In diesem Jahr wird Wiesenthal zu einem von zwölf Richtern bestellt, die in Kopenhagen zu einem Hearing für den in der UdSSR verfolg-ten Nobelpreisträger und Dissidenten Sacharov zusammentreten. Sein Motiv: Für die meisten NS-Opfer sei direkte Hilfe zu spät gekommen, daher müsse nun die Stimme für jene erhoben werden, die in sibirischen Lagern eingesperrt sind.
1994 besucht Wiesenthal – zum ersten Mal nach seiner Deportation – sein Geburtsland Polen.
1995 – fünfzig Jahre nach Ende des Krieges – empfängt ihn demonstrativer Applaus, als er zum 50. Jahrestag der Gründung der Zweiten Republik jenen Balkon der Wiener Hofburg betritt, auf dem 1938 Adolf Hitler gestanden war. „Die Geschichte”, sagt er, “wiederholt sich nicht, es wiederholt sich nur, dass jede Generation ihre Fehler macht.”
Die Zukunft seines Archivs hat Wiesenthal lange überlegt und bestimmt, dass es ein neues Shoah-Forschungszentrum begründen soll, das Wiener Wiesenthal Institut.
Als dem bereits sehr gebrechlichen Wiesenthal 2004 von der britischen Königin Elizabeth II. die Ritter-Würde verliehen wird, ist das Ausdruck der Aner-kennung für ein Leben und Lebenswerk, das längst zum Monument geworden ist. Der britische Aussenminister Jack Straw: „Wenn es einen Namen gibt, der die lebenswichtige Auseinandersetzung mit dem Holocaust versinnbildlicht, dann ist es jener von Simon Wiesenthal.” Wiesenthal erkennt die Menschen, die sich zur Übergabe des Ordens um ihn versammeln, beinahe nicht mehr wieder.
Eine seiner oft erzählten Erinnerungen ist endgültig Geschichte. Sie handelt von jenem Moment, in dem er im Ghetto in Lemberg seine ohnmächtige Mutter im Arm hielt und erst da merkte, dass sie seit Tagen nicht gegessen hatte, um das wenige ihm und seiner Frau Cyla zu geben. Es tat ihm weh, dass sie, die in einem Konzentrationslager umkam, kein Grab hatte, an dem er mit ihr reden könnte. „Auch wenn sie es natürlich nicht hören würde, Sie verstehen?” Mit dem Handrücken wischte er dann über Augen und Wangen.
In den letzten Tagen seines Lebens schmerzte ihn jede noch so leichte Berührung. Am frühen Morgen des 20. September 2005 ist Simon Wiesenthal gestorben.