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Die Vertreibung jüdischer Chemiker nach der NS-Machtübernahme 1938

Alexander VERDNIK

Inhalt

Überdurchschnittlich viele Juden hatten sich schon lange vor dem Schicksalsjahr 1938 für ein Studium der Chemie entschieden. Sie wollten ihr berufliches Glück in der Privatwirtschaft finden, wo der Antisemitismus nicht derart stark etabliert war, wie etwa in akademischen Berufen auf Österreichs Hochschulen. Der „Anschluss“ des Alpenstaates an das Deutsche Reich bereitete dann aber allen Zukunftshoffnungen ein jähes Ende.

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Der österreichische Nobelpreisträger Otto Loewi wurde von den Nationalsozialisten vertrieben, Quelle: Das Interessante Blatt, 5.11.1936

 

Schweigen und Anpassung. Wie für die meisten akademischen Disziplinen bedeutete die Verdrängung der jüdischen Wissenschaftler (nach den Kriterien der „Nürnberger Gesetze“ von 1935) auch für die Chemie einen herben Rückschlag. Die rechtliche Grundlage für die massenhaften Entlassungen jüdischer Akademiker schufen die Nationalsozialisten mit dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933. Ab März 1938 hatte dieses auch in der sogenannten „Ostmark“ Rechtsgültigkeit. Wie in allen anderen wissenschaftlichen Fachgebieten wurden die freigewordenen Stellen auch in der Chemie binnen kurzer Zeit mit „arischen“ Wissenschaftlern neu besetzt. Häufig wurden bei diesen Besetzungen Parteimitglieder oder Personen, die sich politisch an die neuen Gegebenheiten angepasst hatten, bevorzugt eingestellt. Zu Protestbekundungen „arischer“ Wissenschaftler kam es nicht, bis auf wenige Einzelfälle blieben Solidaritätsbekundungen mit den Zwangsentlassenen vollkommen aus. Lediglich ausländische Beobachter äusserten Kritik.  

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Arthur Seyß-Inquart und Armin Dadieu (re.) wenige Tage vor dem „Anschluss“ in Graz, Quelle: Der Landbote, 05.03.1938

 

Schwere Verluste. Die Chemie hatte mit mindestens 25 Prozent Entlassungen (der gesamten Anzahl der Wissenschaftler) deutlich stärkere Verluste als etwa die Biologie mit 13 oder die Physik mit rund 18 Prozent zu verzeichnen. Die Ursachen dafür lagen vor allem in sozialen Überlegungen. So waren für Chemiker berufliche Perspektiven in der chemischen Industrie, sprich ausserhalb eines antisemitischen Umfeldes einer Hochschule, eher vorhanden. Biologen oder Physiker waren in viel grösserem Ausmass an beamtete Stellen in staatlichen Einrichtungen gebunden, deshalb gab es weniger jüdische Forscher in diesen Disziplinen. Derselbe gesellschaftspolitische Hintergrund trug zum hohen Prozentsatz jüdischer Mediziner und Juristen bei. Entsprechend gross waren die Verluste durch Entlassungen und erzwungene Emigration.

 

Einzelschicksale. Nach seinem Medizinstudium an der Universität Strassburg betrieb Otto Loewi weiterführende Studien der analytischen und physiologischen Chemie. 1909 wurde er ordentlicher Professor und Direktor des pharmakologischen Instituts der Universität Graz. 1936 erhielt er den Nobelpreis für den Beweis der Übertragung von Informationen an Synapsen, eine grundlegende Entdeckung der Neurophysiologie. Darüber hinaus identifizierte er zwei Transmittersubstanzen als Acethylcholin und das weit bekanntere Adrenalin. Loewi wurde 1938 inhaftiert, später erhielt er die Erlaubnis zur Emigration. 1940 wurde er Research Professor für Pharmakologie der Medical School der New York University. Erst im Jahre 1958 besuchte er für wenige Tage seine einstige Heimat Österreich. Hermann Mark gilt als ein Pionier der modernen Polymerwissenschaften. Nach der NS-Machtübernahme in Deutschland ging er nach Wien, von wo er 1938 mit seiner Familie in die Schweiz floh. Später führte ihn sein Weg nach Kanada und in die USA. 1944 gründete er das Polymer Research Institute in Brooklyn. Es handelte sich dabei um das weltweit erste Institut dieser Art. Fritz Feigl, der seit 1928 Privatdozent und seit 1935 ausserordentlicher Professor an der Wiener Universität war, emigrierte nach seiner Entlassung 1938 zunächst nach Gent, wo er an der Société Belge de Recherches et d‘Etudes Leiter des Forschungslabors wurde. Dort entwickelte er für die Alliierten ein Adsorptionsmittel für Gasmasken. 1940 wurde er als „enemy alien“ festgenommen und nach Frankreich deportiert, von wo ihm mit Unterstützung der Freien Französischen Truppen die Flucht über Portugal nach Brasilien gelang. Dort wurde er 1941 Abteilungsleiter des Labors für mineralische Produkte des Landwirtschaftsministeriums in Rio de Janeiro und 1971 Professor für Chemie an der Universität Brasilia. Feigl ist einer der Pioniere auf dem Gebiet der chemischen Mikroanalyse. Durch die von ihm 1918 entwickelte Tüpfelmethode für mikroanalytische Nachweise gelang es ihm, An- und Kationen in Konzentrationen unter 10 μg (Mikrogramm) durch Farbreaktionen auf Filterpapier nachzuweisen und die Entwicklung der Papierchromatographie zu fördern. In Brasilien konnte mit Hilfe seiner Methoden eine Reihe neuer Rohstoffquellen gefunden werden.  

 

NS-Karrieristen. Am 15. März 1938 hiess die „Deutsche Chemische Gesellschaft“ die österreichischen Fachgenossen im „vergrösserten Deutschen Reich“ herzlich willkommen. Der Präsident des „Vereins Österreichischer Chemiker“ dankte noch am selben Tag der „repräsentativen Schwestergesellschaft im gemeinsamen Vaterland“. Während das akademische Potential durch die Verdrängung jüdischer Chemiker stark dezimiert wurde, machten viele „arische“ Wissenschaftler unter dem Banner des Hakenkreuzes auf dem Gebiet der „deutschen“ Chemie Karriere. So war etwa Ernst Philippi Fachführer bzw. leitender Chemiker beim Sicherheitsdienst und dem Polizeikorps Innsbruck. Der Grazer Chemiker Alois Zinke brachte es zum Gaujägermeister. Der ebenfalls aus Graz stammende physikalische Chemiker Armin Dadieu war in der NS-Zeit Landesstatthalter und Gauhauptmann der Steiermark und damit der zweitwichtigste Mann in diesem Gau.    

 

Nach der Shoah. Insgesamt emigrierten zwischen 1933 und 1945 107 Chemiker aus Deutschland und Österreich. Als aktive Hochschullehrer kehrten lediglich drei in ihre Heimat zurück. Eine allgemeine Rückberufung als Zeichen dafür, die Entlassungen als Unrecht anzuerkennen, fand nicht statt. Während die Mehrzahl der politisch belasteten Hochschullehrer nach 1945 in ihrer Position blieben bzw. nach ihrer Entnazifizierung mit vollen Bezügen und Pensionsberechtigung wieder eingestellt wurden, mussten Emigranten eine solches Recht in der Regel gerichtlich erkämpfen.