Ausgabe

Von Juden Lernen

Michael Bittner

Inhalt

Funk, Mirna: Von Juden lernen.

München: dtv Verlag 2024.

159 Seiten, gebunden, Euro 18,00.-

ISBN 978-3-423-28384-7

 

„Oh, sieht das aber unseriös aus“ rief meine Frau, als ich das Buch der „SPIEGEL Bestseller-Autorin“ dem Umschlag entnahm. Ach ja, Hochglanz, lila, der Titel etwa mit Nagellack geschrieben? Seufzend nahm ich das Buch zur Hand und begann zu lesen.

 

Ich fing mit der Bibliographie an, und siehe da, lauter grosse Namen, viele gute alte, aber auch neue Literatur von Maimonides bis Byung-Chul Han. Dann die Anmerkungen, dann den Klappentext mit dem zu kleinen Schwarzweissbild der Autorin und dem zu grossen Ausschnitt. Die Widmung „Für euch“ gefiel mir (den Witz kannte ich noch nicht), dann folgt ein Prolog über die Jiddischkeit der Autorin und die Intention des Buches, und, siehe da – der Inhalt passt nicht zum Umschlag! Gut geschrieben, seriös und aktuell, interessant zu lesen, ein Text, den sich grüne Politiker gönnen sollten (keine Angst, Freunde, es sind nur neun Seiten!), vielleicht wechseln sie dann die Partei.

Der Haupttext ist in acht Kapitel gegliedert, die sich um Kernsätze der jüdischen Weisheit formieren, es beginnt mit „Tikkun olam“, dem Auftrag, die Welt zu verbessern, einem Thema, das viele junge Menschen heute ganz falsch verstehen. Hervorzuheben sind noch „Zedaka“, die Hilfe zur Selbsthilfe, „Lashon hara“, das Verbot der üblen Nachrede, sehr aktuell, und besonders „Yada“, Sex als Anerkennung, äusserst wichtig, da die Autorin eine Sex-Kolumne in der Cosmopolitan schreibt.

 

Die Autorin kombiniert frei die traditionellen Lehrsätze mit Situationen aus ihrem Alltagsleben, sie geht von einer liberalen, humanistischen, an Rabbi Hillel orientierten Version des Judentums aus, in Zeiten des grassierenden Antisemitismus eine Position, die auf Sympathie in der Gesellschaft hoffen kann. Manchmal ist ihre Position sehr modern, wie etwa bei Zedaka, einer Mitzvah, die der Schnorrer, der jeden Freitag zu Mittag vor der koscheren Bäckerei steht, sicher anders verstanden haben will. Aber das ist normal, es heisst ja, zwei Juden, drei Meinungen.

 

Die Themen des Buches sind sehr aktuell:“Lashon hara“, das Verbot der üblen Nachrede, wird mit dem modernen Shitstorm in Verbindung gebracht, die gesellschaftliche Stellung der Frau wird mit dem wunderbaren Gebet Eshet chayil erklärt und als modellhaft gepriesen. Sehr aktuell finde ich auch das Kapitel über den Machloket, den Streit, wie er zwischen den Rabbis im Talmud ausgetragen worden war, der aber in unserer heutigen Gesellschaft als Kampf gesehen wird, in dem es einen Sieger geben muss. Das Schlusskapitel Eingedenken befasst sich mit diesem Begriff der Geschichtsphilosophie Walter Benjamins, ein wichtiger Beitrag, da sich in Israel und auch in Österreich die Anzeichen mehren, dass eine neue Generation heranwächst, die absolut keine Ahnung von Geschichte und daher auch für die Zukunft keinen Plan hat. In anderen Ländern dürfte es ähnlich sein, zumindest in Italien und Frankreich. Eine Studie in Österreich von 2021 konstatierte, dass über siebenundachtzig Prozent der 15-jährigen Pflichtschüler nicht erklären können, was Holocaust bedeutet (bei den Gymnasiasten waren es „nur“ dreiundvierzig Prozent).[1]

 

Das Buch bringt den Leser auf viele Gedanken, die ihn nicht loslassen, man möchte weiterlesen, aber das Buch ist schon zu Ende – wann kommt die Fortsetzung? Mit manchen Passagen bin ich nicht ganz einverstanden, ich bin ja Kritiker. Beispielsweise wird nicht angegeben, wer die krause Idee hatte, dass aus der deutschen Aufklärung, wie sie der „Alte Fritz“ praktiziert hat, der Nationalsozialismus entstanden sei. Herr Hitler war doch Romantiker, kein Aufklärer! Bitte um Aufklärung, die nächste Edition in solchen Fällen mit Fussnoten versehen, damit man weiss, wer diese Idee geboren hat. Aller Kritik zum Trotz, ein gutes, ein lesenswertes Buch, eines, das neue Ideen entwickelt und zum Nachdenken über aktuelle Veränderungen in der Geisteswelt führt, die man nicht genügend wahrgenommen hat. Vielleicht trägt es dazu bei, den heute grassierenden Antisemitismus abzuschwächen, das moderne, aufgeklärte, intellektuelle Judentum, das die Autorin präsentiert, wirkt sympathisch und zeitgemäss. „Shampoo“ würde ein bekannter Fussballer jetzt sagen.

 

[1]Studie „Generation des Vergessens“ von Philipp Mittnik et al., Pädagogische Hochschule Wien https://www.wochenschau-verlag.de/Generation-des-Vergessens/41270 . Zahlen für Polytechnische Schule und Allgemein Bildende Höhere Schule

 

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