Christoph Tepperberg
Allan und Daniel Knoll: Unsere Mutter. Die Jüdin, die nicht hassen wollte. Aus dem Französischen von Isolde Schmitt. Mit einem Nachwort von Michaela Wiegel.
Wien: Paul Zsolnay Verlag 2024.
222 Seiten, Euro 25,50.- (Print), Euro 17,99.- (E-Book)
ISBN/EAN: 978-3-552-07206-0
Das Buch zeichnet ein einfühlsames Porträt von Mireille Knoll, schildert die Holocaust-Überlebende als eine lebensbejahende, liebenswerte, warmherzige Kosmopolitin. Mireille und ihre Familie sind (waren) jüdisch, doch ihre Tür stand unabhängig von Religion, Weltsicht und Stellung allen Menschen offen. Mit ihrem Buch reagierten ihre Söhne Daniel und Allan Knoll auf die Ereignisse in Frankreich rund um den Mord an ihrer Mutter, setzen ihrer geliebten „maman“ ein empathisches Denkmal. „Unsere Mutter“ ist ein warmherziges Porträt über die ermordete Jüdin Mireille Knoll und ein Plädoyer gegen Hass und Antisemitismus.
Mireille Knoll geb. Kerbel wurde am 28. Dezember 1932 in Paris geboren. Am 23. März 2018 wurde sie im Alter von 85 Jahren in ihrem Pariser Appartement von zwei kriminellen, alkohol- und drogenabhängigen Arabern mit elf Messerstichen ermordet, ihre Wohnung in Brand gesteckt. Mireille war vor 75 Jahren knapp dem Holocaust entkommen. Dass sie jetzt einen solch grausamen Tod erleiden musste, lässt uns fassungslos zurück! Der Mord ging als antisemitisches Hassverbrechen durch die Weltpresse. Im ganzen Land fanden Kundgebungen statt. Noch im selben Jahr veröffentlichten Mireilles Söhne Allan und Daniel ein Buch über ihre Mutter in französischer Sprache: „C'était maman“ (Paris: Éditions Kero 2018). Der eigentliche Verfasser des Buches ist Daniel Knoll, er spricht von sich in der Ich-Form und nennt die anderen Familienmitglieder mit Namen, auch seinen Bruder Allan. Die Brüder hatten zu dem Buch viel recherchiert, Gespräche mit Verwandten geführt, deren Unterlagen durchforstet, in Archiven geforscht. Das Buch beschreibt in erster Linie das aussergewöhnliche Leben der weltoffenen Kosmopolitin Mireille: Herkunft, Eltern, Grosseltern und Verwandte, dabei werden auch die Familien der beiden Söhne mit einbezogen. Jetzt ist das Buch in deutscher Übersetzung bei Zsolnay erschienen.
Die Geschichte vieler jüdischer Familien beginnt in Ostmitteleuropa und endet in Westeuropa, Palästina oder in Übersee. Mireilles Eltern waren Émile (Emilio) Kerbel und Sarah Kerbel geb. Finkel. Émile wurde 1897 in Wosnessenk (Ukraine), Sarah 1907 in Warschau geboren. Beide landeten unter unbekannten Umständen in Paris, Sarah bereits im Alter von zehn Jahren. Émile war Schneider, wie viele jüdische Handwerker. Später betrieb er eine Fabrik für Regenmäntel und Winterbekleidung in Paris-Marais. Er war also im schmattes („Fetzengewerbe“) tätig, wie man untereinander über die Textilbranche sprach. Émile und Sarah lernten einander 1924 kennen, 1932 kam ihr Töchterchen Mireille zur Welt. Mireilles Ehemann Kurt Knoll wurde 1924 in der Wiener Leopoldstadt geboren. Seine Eltern waren Joseph Knoll, geboren 1894 in Zurawica/Galizien und Yeti Jackel, geboren 1893, ebenfalls in Galizien.
Das Buch berichtet über französische und nichtfranzösische Juden in Frankreich und über den Holocaust. Auch Mitglieder der beiden Familien fielen dem Holocaust zum Opfer. Kurt Knoll und sein Bruder Robert Knoll wurden 1942 nach Auschwitz deportiert, konnten aber die Shoah überleben. Kurt war blond und blauäugig, sah also aus wie ein „Arier“. Mireille hatte sich Hals über Kopf in den feschen Österreicher verliebt. Am 23. Januar 1951 heirateten die beiden. Als gebürtiger Österreicher sprach Kurt Knoll französisch mit starkem Akzent und las vornehmlich deutschsprachige Zeitungen.
Das Buch beschreibt ausführlich Mireilles Lebensstationen: „Polen, die Ukraine, Brasilien, vielleicht Schanghai, Portugal und Kanada waren Stationen auf dem Lebensweg unserer Mutter.“ Ihr erster Sohn Allan kam 1952 in Montreal/Kanada zur Welt, während Daniel 1956 schon in Paris geboren wurde. Allan sollte ursprünglich David heissen. Die traumatisierten Grosseltern waren jedoch entsetzt: „Warum malt ihr ihm nicht gleich einen gelben Stern auf die Stirn?“ Neben der Begegnung mit ihrer grosse Liebe, dem Holocaust-Überlebenden Kurt Knoll erzählt das Buch auch über Mireilles zweiten Frühling. Er hiess David. Als er mit 94 starb, war Mireille 83 Jahre alt.
Das Buch sollte bewusst kein Bericht über die Umstände des grausamen Mordes werden. Dennoch sind die letzten Kapitel eben diesen schrecklichen Vorfällen vom Frühjahr 2018 gewidmet. Der Haupttäter, Yacine Mihoub, im Buch beharrlich Y genannt, wohnte mit seiner Mutter in der Etage über Mireille. Die beliebte alte Dame mochte ihren späteren Mörder sehr. Dieser war bei ihr aus- und eingegangen, hat ihren Portwein geschlürft. Vermutlich hat er ihr die Messerstiche zugefügt, sein Komplize Alex Carrimbacus dürfte den Wohnungsbrand gelegt haben. „Sie hat ihnen die Tür geöffnet und sie haben sie getötet, weil sie Jüdin war.“ Doch letztlich lassen die Autoren offen, ob es tatsächlich ein antisemitisches Hassverbrechen gewesen ist. Zumindest konnten die Motive der beiden Verbrecher nicht eindeutig geklärt werden. Es war wohl eine Mischung aus mehreren Motiven, wobei Geldbeschaffung eine vordergründige Rolle gespielt haben dürfte. Und antisemitisch wohl in dem Sinn, dass man bei Juden klischeehaft Geld und Wertsachen vermutet.
Das Nachwort von Michaela Wiegel – sie ist politische Korrespondentin der FAZ in Paris – beschäftigt sich mit der gegenwärtigen, prekären Situation der Juden in Frankreich, verursacht durch den massiven Zuzug von Menschen aus dem arabisch-islamischen Kulturraum. Juden wurden und werden aus arabisch dominierten Pariser Vororten verdrängt. Sie weichen in sichere Vororte aus. Dazu kommt ein massiver jüdischen Exodus ins Ausland, nach Israel, in die U.S.A. und nach Kanada.
Isolde Schmitt, die das Buch mit viel Einfühlungsvermögen vom Französischen ins Deutsche übersetzt hat, lehrt am Institut für Translationswissenschaften der Universität Wien.