Ein Gang durch die Surrealismus-Ausstellung im Pariser Centre Pompidou.
Aus Anlass des 100. Jahrestages der Begründung dieser Kunstrichtung durch den Literaten André Breton zelebriert das Pariser Centre Pompidou (kurz vor seiner Schliessung für fünf Jahre) eine „Blockbuster“-Ausstellung, gegen die heimische Touristenfallen harmlos aussehen. Mit einem Timeslot versehen kommt man in einen dunklen Raum, den man sich mit einigen hundert anderen Schaulustigen, gequälten Schulkindern und hilflosen Rollstuhlfahrern teilt. Das mit roten Stoffbahnen verhängte Eingangstor entpuppt sich als Plastik-Attrappe des Höllentors von Bomarzo – wieso hat man nicht Dalis Gesicht der Mae West als Eingang genommen, wie im Museum von Figueras? In freudiger Erwartung hatte ich eine Replik der Surrealistenausstellung von 1936 imaginiert – dunkle Räume, Taschenlampen, faulendes Laub auf dem Boden, Dschungelgeräusche, das Regentaxi. Aber nichts von alledem – hellgraue Wände, lesbare Beschriftungen, Bahnhofsatmosphäre. Nach einigen guten Gemälden der Superstars von damals – Salvador Dali und Max Ernst – begann ich nach den Werken jüdischer Surrealisten Ausschau zu halten. Diese Kunstrichtung beruhte auf einem klassischen Missverständnis von Sigmund Freuds Traumdeutung. Als Erstes fiel mir ins Auge – ein Werk von Victor Brauner, der Surrealist I, von 1947, das mir gleich sehr vertraut schien. Ach ja, Arik Brauer hat sich von der Hauptfigur inspirieren lassen, doch wagte er es nicht, diese Urmutter des Tamagotchi darzustellen, von Brauner erdacht. Von diesem berühmten, einäugigen Meister aus Rumänien sind viele Bilder in ebenso vielen Stilen in der Ausstellung zu sehen, und ein Objekt, das als Fotomotiv bei den Besuchern besonders beliebt ist – ein Fuchs, der in einem Holzschemel steckt und seinen Schwanz betrachtet. Da fiel mir ein – wo ist das Frühstück im Pelz? Das geniale Objekt von Meret Oppenheim fehlt. Eine schmerzliche Lücke, war es doch ein Aufputz der Schau von 1936 und hätte wunderbar zu den Werken von Pablo Picasso und Dora Maar gepasst, mit denen Oppenheim bei der Ideenfindung gefrühstückt hatte. In der Ausstellung befindet sich stattdessen ein Gemälde von 1943, Daphne und Apoll, ein antiker Mythos, der sich zwischen Gemüsen abspielt – der Katalog meint, Meret Oppenheim sei hier von C. G. Jung beeinflusst gewesen; ich denke, eher von Rüben und Karotten.
Etwas mehr als von Oppenheim, einer heute sehr populären Künstlerin, sieht man von Man Ray, dessen Vater Melech Radnitzky aus Russland in die U.S.A. ausgewandert war. Ray wiederum wanderte nach Paris aus und wurde zum Erneuerer der künstlerischen Fotografie, von deren Technik er keine Ahnung hatte. Seine Fehler – Doppelbelichtung, Verwackeln, Solarisation – führte er als neue Stilmittel in die Fotokunst ein. Seine revolutionären Fotografien schmückten die Titelseiten der Vogue und sind heute begehrte Klassiker, wie das Violon d‘Ingres. Daneben schuf Man Ray surreale, ironische Objekte, sie fehlen grossteils in der Ausstellung. Auch eines jener Porträtfotos, die er von Meret Oppenheim oder von Lee Miller gemacht hat, wäre interessant gewesen.
Victor Brauner, Le surréaliste, 1947.
Manche fast vergessenen jüdischen Künstler kann man hier entdecken, wie den aus Basel stammenden Maler Kurt Seligmann, einen entfernten Verwandten von Peggy Guggenheim. Oder die am Bauhaus ausgebildete Grete Stern, die mit ihren surrealen Foto-Collagen die Werbung revolutionierte, sie emigrierte nach Argentinien. Eine surrealistische Phase hatte auch der bedeutende Fotograf André Kertész, der als Sohn eines jüdischen Buchhändlers in Budapest geboren wurde. Von seinem Kollegen Erwin Blumenfeld findet sich in der Ausstellung ein treffliches Hitlerbild. Den Abschluss der Ausstellung bildet ein Ensemble aus dem Spätwerk von Victor Brauner, Die Mutter der Mythen von 1965.
Gibt es also einen jüdischen Surrealismus? Witz und Ironie fühlten sich in dieser Kunstrichtung und ihrer Vorgängerin, dem Dadaismus, durchaus zuhause. Vielleicht, auch wenn wir an die vielen jüdischen Kabarettisten, Entertainer, Schriftsteller und Künstler denken, die uns zum Lächeln gebracht haben, ist der Humor das Verbindende, das jüdische Kultur vom Bierernst anderer Ethnien unterscheidet. Der Surrealismus wurde eine weltweite Bewegung und man kann in Paris vieles sehen, jedoch kein einziges Bild aus Österreich. Aber – um auf Arik Brauer zurückzukommen – er hätte sich einen Platz in dieser Ausstellung redlich verdient.
In Wien wird man, wenn die Burghauptmannschaft aus ihrem Winterschlaf erwacht ist, vielleicht ab nächstem Jahr die „Arik-Brauer-Lounge“ im Atelier Augarten bewundern können, die unter der Leitung von Timna Brauer eingerichtet werden wird, wenn die Baumassnahmen abgeschlossen sein werden. Das ehemalige Gustinus-Ambrosi-Museum wird die unterschiedlichen Werkgruppen des Universalkünstlers Brauer zeigen, Gemälde, Musikbeispiele (vielleicht das Köpferl im Sand?) und Skulpturen im Innen- und Aussenbereich. Jedenfalls wäre die Pariser Ausstellung mit Werken von Brauer, Ernst Fuchs (Laokoon) und ein bisschen etwas von André Heller (FlicFlak, nicht der Basquiat!) doch weniger fad geworden. Aber was weiss ein Fremder (zum Beispiel ein französischer Ausstellungsmacher)!
Victor Brauner, Loup Table, 1939-47.
Erwin Blumenfeld, Hitler, 1934.
Victor Brauner, La mère des mythes, 1965.
Alle Abbildungen: Ingrid Bittner, mit freundlicher Genehmigung.