Ausgabe

Gorizia und Nova Gorica Kulturhauptstädte Europas 2025

Stephan Templ

Zwei Orte an einem der grausamsten Schlachtfelder des 20. Jahrhunderts 

suchen nach einer gemeinsamen Sprache: das italienische Gorizia und
das slowenische Nova Gorica sind Kulturhauptstädte Europas.
Provokationen bleiben nicht aus. 

Inhalt

Auf den ersten Blick glaubt man sich in den Kalten Krieg zurückversetzt: Hoch über dem italienischen Gorizia weht auf der mittelalterlichen Burg eine mächtige Trikolore, während hoch über der einst kommunistischen Stadt Nova Gorica am Berge Sabotin der weithin lesbare Schriftzug TITO in die Vegetation hineingeschnitten ist. Sind beide Städte Geiseln ihrer Geschichte? Jüngst, zwei Monate vor dem feierlichen Auftakt der beiden Kulturhauptstädte, hat der Gemeinderat von Gorizia noch die Ehrenbürgerschaft Mussolinis bestätigt. Wieso dieser Rückgriff auf zwei Diktatoren? Tito, wiewohl teilweise slowenischer Herkunft, war zu Lebzeiten alles andere als beliebt in der Teilrepublik Slowenien; Mussolinis Ziel war es, die alte friulanische Kultur aus italienischem, slowenischem und deutschem Kulturgut auszulöschen. Seine Grausamkeiten gegen die slowenische Bevölkerung füllen Geschichtsbücher. So versucht man Annäherung? 

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Die Journalistin Carolina Coen Luzzatto. https://www.dizionariobiograficodeifriulani.it/luzzatto-coen-carolina/

Zweifelfrei sind es zwei sehr ungleiche Orte: Gorizia blickt auf eine tausendjährige Stadtgeschichte zurück, mit Burg, Adelspalästen, einladenden Piazzas, aber auch einem Corso im faschistischen Gewand, der via Roma. Nova Gorica punktet vielleicht mehr mit dem, was man auf italienisch Hinterland nennt: vom mächtigen k.u.k. Bahnhof der Wocheinerbahn erschliesst sich nach Norden das sehr malerische, wilde Soča-Tal mit dem smaragdgrünen Fluss, der auf italienischer Seite Isonzo heisst. Nach Süden hin führt die Bahn mitten in den slowenischen Karst, wo einen nicht kahle, abgeholzte Hochflächen erwarten, sondern unberührte, weite Wälder. Es gibt auch verbindende Sehenswürdigkeiten: die Zeugen der Jahrhunderte alten jüdischen Ansiedlung. 

Die grosse Synagoge etwa liegt im Zentrum des italienischen Gorizia, während der Friedhof aus dem 17. Jahrhundert im slowenischen Teil liegt, genauer in Rožna Dolina, italienisch Valdirose (dt. Rosenthal). Neben Triest ist respektive war das die bedeutendste jüdische Ansiedlung der Region – dokumentiert seit dem 16. Jahrhundert, wuchs sie im 19. Jahrhundert zu einer Gemeinschaft von mehr als 350 Personen an. Die Synagoge wurde mehrmals umgebaut, zuletzt 1894, in der Art der venezianischen Synagogen. Bis 1969 wurde sie von der durch die Shoa auf vierzig Personen geschrumpften Gemeinde genutzt, heute wird sie von der Associazione Amici di Israele Gorizia gepflegt. 

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Stadtspaziergang „Let‘s go Gorizia“. Foto: St. Templ, mit freundlicher Genehmigung.

Zur Geschichte der Gemeinde

In Görz hatten sich nachweislich bereits im 14. Jahrhundert einzelne Juden aufgehalten; eine erste zusammenhängende Ansiedlung der Familien Pincherle, Gentili und Morpurgo ist aus dem 16. Jahrhundert überliefert. 1624 ernannte Kaiser Ferdinand II. Joel Pincherle aus Görz zusammen mit zwei weiteren Juden aus Triest und Gradisca zu Hofjuden. 1692 verfügte Kaiser Leopold I., dass die Görzer Juden getrennt von der christlichen Stadtbevölkerung in einem Ghetto leben sollten. Das jüdische Viertel hatte sich bis dahin unmittelbar im Stadtzentrum, zwischen dem christlichen Dom und dem Burgberg, in der contrada Cocevia befunden; bis 1698 wurde die Bewohnerschaft umgesiedelt in den abgelegeneren, nördlichen Bereich der Stadt (contrada S. Giovanni). 

 

Das dortige Ghetto blieb während des ganzen 18. Jahrhunderts ein vom Rest der Stadt abgeschlossenes Siedlungsgebiet, bis die Beschränkungen aufgrund des Toleranzpatents Josephs II. aufgehoben wurden. Während die liberaleren Juden mit ihren Wohnungen und Geschäften in die neuangelegten Geschäftsstrasse via Signori (heute via Carducci) und damit in eine andere, prestigeträchtigere Umgebung wechselten, verblieben die konservativeren Gemeindemitglieder im Gebiet des ehemaligen Ghettos. Während des 19. Jahrhunderts war die Grösse der Görzer jüdischen Gemeinde stabil: wiewohl einige Familien nach Triest umzogen, kamen andere aus mitteleuropäischen Judengemeinden nach. 1938 wurden auch in Italien „Rassegesetze“ gegen Juden erlassen; Verfolgung und Deportationen erreichten ihren Höhepunkt 1943. Heute erinnern neben einem „Garten der Erinnerung“, der den Synagogenkomplex umgibt, auch Stolpersteine an die fünfundvierzig Shoah-Opfer von Gorizia.

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 Angeblich ein erhaltenes Ghetto-Tor neben der Synagoge: es führt in einen Park, den „Garten der Erinnerung“ an die Opfer der Shoah. Foto: St. Templ, mit freundlicher Genehmigung

Synagogenarchitektur

Seit 1998 befinden sich im Erdgeschoss nicht nur eine Ausstellung zur jüdischen Geschichte von Gorizia, sondern – anstelle des einstigen, 1932 eingeweihten „Kleinen Tempels“ für Angehörige des polnischen Ritus – auch das Institut für hebräische Studien Mitteleuropas sowie die Räumlichkeiten des Vereins Gemeinschaft der Freunde Israels. Im ersten Stock liegt der eigentliche Hauptraum des G‘tteshauses mit dem Betsaal für die männlichen Besucher des deutschen Ritus, im zweiten Stockwerk die den Frauen zum Gebet vorbehaltene Galerie. Innenarchitektonisch bemerkenswert ist die schmiedeeiserne Einfassung des Thora-Schreins im Stil des Rokokos, ein besonders schönes Beispiel jüdischer Handwerkskunst aus dem 18. Jahrhundert, ausgeführt vom Bamberger Kunstschmied Martino Geist. Der Thora-Schrein wird von vier gedrehten Marmorsäulen flankiert. Die Empore mit dem Redepult (Tevah) aus Zedernholz findet sich an der dem Thora-Schrein gegenüberliegenden Saalwand, der Raum dazwischen bleibt frei, die Sitzreihen erstrecken sich im rechten Winkel zu diesen beiden Polen.

 

Zusammensetzung der Gemeinde

Es war eine gemischt aschkenasisch-sefardische Gemeinde, wie die Namen der 692 erhaltenen Grabsteine des Friedhofes verraten: 158 davon gehören zur Familie Morpurgo, die aus Marburg (dem heutigen Maribor) stammte, 104 Grabsteine zur Familie Luzzatto, die wohl aus der deutschen Lausitz eingewandert war, 16 Grabsteine gibt es noch von der Familie Michelstaedter, die wiederum aus dem hessischen Michelstadt kam, und gemeinsam mit den 67 Grabsteinen der Picherle sind sie alle wohl den aschkenasischen Mitgliedern zuzuordnen. Die Pavia (12 Steine), die Senigaglia (46 Steine), die Gentilli (135 Steine) und die Bolaffio (51 Steine) sind wohl sefardischen Ursprungs. 

 

In die Geschichte eingegangen ist der Linguist Graziadio Isaia Ascoli (Gorizia 1829 – Milano 1907). Carolina Coen Luzzatto (Triest 1837 – Gorizia 1919) vertrat als Chefredakteurin mehrerer lokaler Zeitungen den italienischen Irredentismus – sprich, die Inkorporierung von Landesteilen, in denen es eine italienischsprachige Bevölkerung gab, wie Istrien, Südtirol und das Schweizer Ticino. Wegen dieser politischen Haltung wurde sie noch als 78-Jährige im Jahre 1915 von den Habsburgern im niederösterreichischen Göllersdorf inhaftiert. Ihr Neffe war der Künstler und Philosoph Carlo Michelstaedter (Gorizia 1887 – 1910), der sich mit 23 Jahren das Leben nahm. 

 

Der heute verwendete jüdische Friedhof liegt zehn Kilometer südwestlich von Gorizia in Gradisca d‘Isonzo, via dei Campi.

 

Hinweise

 

Liste der Stolpersteine in der früheren Provinz Görz – Wikipedia

 

Besuche der Synagoge können vereinbart werden: 

Associazione Amici di Israele Gorizia
Tel. +39 349 2811492

Email: ass_israele_go@yahoo.it

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Auch in Gorizia gibt es eine Reihe von Stolpersteinen für Shoah-Opfer. Foto: Christian Michelides. Quelle: Wikimedia commons, gemeinfrei: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Stolperstein_f%C3%BCr_Emma_Pia_Morpurgo_Valobra_(Gorizia).jpg?uselang=de

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 Der Philosoph Carlo Michelstaedter. Quelle: Wikimedia commons, gemeinfrei: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Carlo_Michelstaedter.jpg

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Graziadio Isaia Ascoli, nach 1861. Archivio storico dell‘accademia delle Scienze di Torino. Quelle: Wikimedia commons, gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Graziadio_Isaia_Ascoli,_post_1861_-_Accademia_delle_Scienze_di_Torino_0066_B.jpg

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Grabmal Isacco Senigaglia, jüdischer Friedhof

Rožna Dolina. Foto: Bruno Bersano Senigaglia.

Quelle: Wikimedia commons, gemeinfrei:

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:IsaccoS.jpg

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Eingangssituation mit vorgesetztem Gebäudeteil im Stil des Historismus, aus 1894. Foto: St. Templ. mit freundlicher Genehmigung. 

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Garten der Erinnerung und Synagogengebäude von der Rückseite. Foto: St. Templ, mit freundlicher Genehmigung.