Pessach, das Fest der ungesäuerten Brote, ist einer der bekanntesten und populärsten jüdischen Feiertage. Er weckt Erinnerungen an die Kindheit – an Festmahlzeiten, bei denen symbolische Speisen von Lesungen begleitet werden, um einen lehrreichen, erzählenden Abend voller Gedenken und tiefer Bedeutung zu schaffen. Es ist auch eine Zeit, in der viele die Abwesenheit geliebter Menschen, die in den vergangenen Jahren noch mit uns gefeiert haben, schmerzlich spüren. Wie bei allen jüdischen Festen wurden auch hier Jahr für Jahr neue Elemente hinzugefügt. Natürlich geht es bei Pessach nicht nur um den Seder, oder den Sederabend, die zeremonielle Mahlzeit am Beginn des Festes, denn er bringt uns aus unserem gewohnten Alltagsrhythmus heraus, um uns zu läutern, und um die Wiederkehr des Frühlings gemeinsam zu erleben. Der Pessach-Seder ist ein praktisches Beispiel für aktive Erlebnispädagogik. Für viele ist er der Höhepunkt des jüdischen Jahres, eingebettet in Familienerinnerungen, Anekdoten, Aromen und Düfte, die einmal im Jahr auftauchen.
Die ersten Berichte über den häuslichen Sederabend finden sich in der Mischna, im ältesten, erzählenden Teil des Talmuds und stammen vom Anfang des dritten Jahrhunderts. Der Seder, Hebräisch für „Ordnung“, findet am ersten Abend des Festes statt, ausserhalb Israels auch am zweiten Abend. Der Seder folgt einer festgelegten Abfolge von Ritualen, die in der Haggada, dem Text, der durch den Abend führt, beschrieben sind. Ziel des Seders ist es, die Geschichte des Auszugs der Israeliten aus der ägyptischen Sklaverei zu erzählen und erlebbar zu machen.
Während des Seders werden verschiedene symbolische Speisen verzehrt, darunter Matza, das ungesäuerte Brot; Maror, bittere Kräuter; und Charosset, ein süsses Gemisch aus Äpfeln , Nüssen und Wein, das den Mörtel der Ziegel symbolisiert, die die israelitischen Sklaven in Ägypten herstellen mussten. Zudem werden vier Becher Wein getrunken, die die vier Erlösungsversprechen G‘ttes aus dem zweiten Mosebuch, Schemot, verdeutlichen. Diese sind: „Ich werde euch herausführen“, „Ich werde euch erretten“; „Ich werde euch erlösen“ und „Ich werde euch in euer Heimatland führen“. Der Ablauf des Seders umfasst 15 Schritte, darunter das Rezitieren von Segenssprüchen, das Eintauchen von Kräutern in Salzwasser, das Erzählen der Pessach-Geschichte und das Singen traditioneller Lieder. Diese Struktur soll die Teilnehmer, insbesondere die Kinder, dazu anregen, Fragen zu stellen und sich aktiv mit der Geschichte und den Traditionen auseinanderzusetzen.
Der Seder ist ein zentrales Element des Pessach-Festes und dient dazu, die Erinnerung an die Befreiung aus der Sklaverei lebendig zu halten und die Bedeutung von Freiheit und Erlösung zu betonen. Und was bedeutet Pessach für uns heute? Der erste wesentliche Inhalt ist das Erlangen der Freiheit. Die Tora fordert uns immer wieder auf, uns daran zu erinnern, dass unsere Vorfahren Sklaven im alten Ägypten waren und dass G‘tt sie erlöst hat. Dies, um uns an eine Verantwortung zu erinnern, die wir übernehmen müssen, und zugleich an eine ethische Haltung, die wir leben sollten. Pessach ist für uns der Zeitpunkt, über unsere Welt und unser Dasein nachzudenken und das Bewusstsein für diejenigen zu schärfen, die keine Freiheit erleben oder denen die eigene Freiheit eingeschränkt wird. Der Seder soll uns helfen, Fragen zu stellen, die unsere moderne Welt betreffen und uns ermutigen, positive Veränderungen in ihr herbeizuführen.
Die Vorbereitung auf Pessach ist so mannigfaltig und umfangreich wie bei keinem anderen Fest: Es erfordert ein gründliches und überlegtes Saubermachen unseres Hauses und eine ebensolche Planung und Zusammenstellung beziehungsweise Besorgung der unterschiedlichen Lebensmittel, die allesamt am Pessach eine Rolle spielen. Wenn wir versuchen, das Haus gründlich zu reinigen und buchstäblich Chametz – gesäuerte Waren – auszukehren, nehmen wir uns dann auch Zeit für eine innere Reinigung? Pessach bietet uns die Reinigung durch körperliche Säuberung, aber es ist auch eine Gelegenheit, einen spirituellen und moralischen Moment des Innehaltens zu erleben.
Da Seder wie auch Pessach überhaupt interaktiv sind, bleiben unsere Kinder oft lange wach und übernehmen nicht nur an den beiden Sederabenden wichtige Rollen im Ablauf. Viele der modernen Aktivitäten, Handlungen und Lieder für Jung und Alt konzentrieren sich jedoch auf die zehn Plagen gegen ein tyrannisches Regime und seine Oberschicht. Beim Seder, wenn wir die Plagen rezitieren, nehmen wir traditionell für jede Plage etwas Wein aus unserem Becher, um uns daran zu erinnern, dass die Plagen entsetzlich waren und wir unsere Freude darüber einschränken sollten.
Beim Pessachfest steht die gemeinschaftliche Erfahrung des Seders im Mittelpunkt, mit der wir auch den gemeinschaftlichen Charakter des Auszugs aus Ägypten anerkennen. „Wir waren Sklaven“, „Wir sind aus Ägypten gekommen“. Es ist ein Moment, in dem wir uns mit der Geschichte der jüdischen Erfahrung verbinden. In dem wir zwar in der Gegenwart sind, aber auch die Hoffnung auf eine bessere Welt zelebrieren. Indem wir eine ganze Woche lang kein Chametz zu uns nehmen, kehren wir immer wieder zu dieser gemeinschaftlichen Erfahrung zurück und besinnen uns darauf, wie wir alle unseren Teil dazu beitragen können, die Welt für eine bessere Zukunft zu gestalten.
Wir sollten, auch während der mannigfaltigen Vorbereitungen nicht ausser Acht lassen, dass Pessach ein Fest der Vorwegnahme der Erlösung und Befreiung eines jeden Menschen bedeutet, wo auch immer er oder sie sich befindet.