Ausgabe

Auch Tito hatte seine Gulags Teil III

Anna Maria Grünfelder

Die Frauen auf „Sveti Grgur“ 

Inhalt

Die Frauen auf „Sveti Grgur“ waren zu „Verwaltungsstrafen“ und „Besserungsmassnahmen“ verurteilt worden,  die – angeblich – maximal ein Jahr betrugen. In Wirklichkeit waren diese zeitlich unbeschränkt: die Fristen konnten verstreichen, ohne dass der weiterhin Festgehaltenen der Grund dafür genannt wurde. Die Haft von Jenny Lebl (1927–2009) dauerte statt eines Jahres zweieinhalb – sie ahnte den Grund: weil sie allem Druck zur Unterschriftsleistung widerstand, denn sie wusste, was sie hätte unterschreiben müssen. So trug sie an ihrer immer wieder vorbereiteten, aber dann ausgesetzten Entlassung „selbst Schuld“. Als sie entlassen wurde, war sie – wie alle ihre ehemaligen Mitgefangenen – auch äusserlich für jedermann zu erkennen: ihre Haut war von der Sonne und der Bora wie gegerbt, gelblich fahl, Haare und Zähne fielen ihr, wie allen anderen, aus. Die meisten Frauen blieben unfruchtbar. Die Scham über ihr erzwungenes Verhalten im Gefängnis hielt für den Rest ihres Lebens an. Daher mieden einander die ehemaligen Haftkameraden – alle sprachen davon, dass sie menschliche Gesellschaft scheuten. „Goli otok“ durfte nicht öffentlich erwähnt werden (die Öffentlichkeit wusste jedoch Bescheid). Hingegen war „Sveti Grgur“ nicht einmal als Örtlichkeit bekannt. Bis um etwa 1985 waren diese Gefängnisse „kein Thema“; nie wurden Wiedergutmachung, Entschädigung, Verzeihung angesprochen – zu gross war die Scham aller, die die Erfahrung von „Goli otok“ oder „Sveti Grgur“ wie ein Stigma trugen. Dieses Stigma hatten auch Kinder zu tragen, deren Eltern zur Haft in diesen Gulags verurteilt worden waren – die Behörden nahmen in ihrer Paranoia keine Rücksicht darauf, dass sie Kinder zu Halb- oder Vollwaisen machten. Alle, die diese Erfahrungen überlebt hatten, kannten die Entpersönlichung und Entsolidarisierung durch das Lagerregiment. Die Lagerführung und die Wachen aber konnten sich „reinwaschen“: sie hatten nicht schikaniert – es waren die Insassen und Insassinnen selbst, die einander quälten.

 

Nach der Entlassung aus der Haft, zu Jahresende 1951, sah Jenny Lebl keine Zukunft mehr in Jugoslawien, denn die Öffentlichkeit behandelte diese Entlassenen wie Aussätzige (niemand kümmerte sich darum, dass sie ohne wirtschaftliche Existenz ins zivile Leben zurückkehrten). Sie emigrierte nach Israel. Dort gelang ihr der berufliche Neustart als Journalistin. Als ausgebildete Historikerin widmete sie sich der Geschichte der jugoslawischen Juden, vor allem der mazedonischen, deren Vernichtung 1943–1945 weitgehend unerforscht war. In den Sechzigerjahren kehrte sie zeitweise wieder nach Belgrad zurück. Sie engagierte sich für die Tätigkeit des bereits 1944, nach der Befreiung Belgrads am 20. Oktober, sofort wieder aktivierten Bundes der jüdischen Gemeinden Jugoslawiens (Savez jevrejskih opština Jugoslavije) und wurde beim internationalen Wettbewerb für wissenschaftliche und literarische Arbeiten zum Judentum Jugoslawiens (nach 1990 Serbiens und Montenegros, ab 1992 nur mehr Serbiens), der seit 1954 alljährlich ausgeschrieben wird, vierundzwanzig Jahre hindurch für ihre historischen Arbeiten preisgekrönt. Der Wettbewerb trägt auch ihren Namen. Die Autorin vermerkt mit Dankbarkeit, dass sie seit 1990 an diesem Wettbewerb teil nimmt und 1989 mit Beiträgen zu Manes Sperber, 1990 über die Schweizer Philosophin Jeanne Hersch, 2005 über Jugoslawische Juden als Zwangsarbeiter/innen am Südostwall, 2015 zur Repatriierung von jugoslawischen Juden, 2016 zu Juden unterm Kommunismus, 2017 zur  Befreiung aus italienischen Konzentrationslagern, 2018 zum Transfer beschlagnahmten jüdischen Vermögens in die Schweiz, 2019 zur Vermögensrestitution, 2022 zu Gewalt-und Todesmärschen und  2023 zum Thema Widerstand unter Repression – möglich oder sinnlos? ausgezeichnet wurde. Die Autorin will damit Jenny Lebls Leistung Anerkennung und Ehre erweisen und hat bemerkt, dass dies auch von den Juroren so gesehen wird. Einer der Juroren war immer ein Kommentator aus Jenny Lebls ehemaliger Redaktion, der „Politika“, Belgrad.

 

Zum Vergleich der Lager „Sveti Grgur“ und „Goli otok“

Der 1920 in Wien geborene Alfred Pal (gest. 2010), interniert 1942–1943 in Kraljevica und Kampor (Insel Rab), den italienischen Lagern für Juden, Partisan 1943–1945, wurde zweimal auf „Goli otok“ interniert: 1949–1950 und 1951–1954.  Alfred Pal redigierte als Partisan die Partisanen-Zeitung „Vjesnik“ – nach 1945 eine der bedeutenderen, intellektuellen Tageszeitungen Jugoslawiens. Eine kritische Bemerkung zum Redakteur über die Beurteilung der Kollektivierung der Bauernhöfe im Zuge der „Bodenreform“ trug ihm die erste Verurteilung als „Volksfeind“ und eine Haft in „Goli otok“ (1949–1950) ein.  Auch die Männer wurden erniedrigt, anfangs durch die Wachen – mussten sie doch vor den Wachen nackt erscheinen. Nur die Schuhe durften sie anbehalten (A. Pal, S. 110). Ein ehemaliger Kamerad der Spanienkämpfer unter den Häftlingen hielt sich in „Goli otok“ als General und Generalwächter an den ehemaligen Kameraden „schadlos“ und liess sie verprügeln. Später, lange danach hielt er öffentlich „weise Reden über die Schrecken von „Goli otok“. „Wir bauen „Goli otok“ auf  – „Goli otok“ baut uns auf“: Mit diesem Lied auf den Lippen schufteten sie. (A. Pal, S. 113). Pal zeichnete das Lager.

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Alfred Pal (Signatur rechts oben): Mit freundlicher Genehmigung: „Hrvatski Povijesni muzej“ Zagreb (Kroatisches Historisches Museum Zagreb).

Nach sechs Monaten mussten die Häftlinge ein Papier namens „Zusammenarbeit“ unterschreiben, um nicht noch sechs Monate bleiben zu müssen: Alfred Pal unterschrieb, um erst dann festzustellen, dass er sich zur „Zusammenarbeit“ – sprich, zum „Denunzieren“ – verpflichtet hatte.  Weil er in Freiheit nicht daran dachte, diese Zusammenarbeit zu leisten, wurde er bald wieder nach „Goli otok“ verbracht: Die „Zweimotorigen“ wurden besonders schlimm misshandelt – denn sie waren „rückfällig“ geworden oder nicht richtig „bekehrt“. 1950 waren die Wachen dazu übergegangen, die Häftlinge selbst zu Quälereien an den Mithäftlingen zu verhalten: Gefürchtet war das „Spalier“ für Neuankömmlinge. Diese mussten durch das Spalier, während die „Alteingesessenen“ auf sie einschlugen. Wer nicht mitmachte, wurde in den Turm geworfen. Trotzdem schafften es manche, ihre Integrität und Würde zu bewahren – aber sie wurden dafür drei- und mehrmals nach „Goli otok“ geschickt, und sie hatten die schwersten Arbeiten im Steinbruch zu leisten, erinnerte sich Alfred Pal. Er lehnte sich gegen das Haftregime auf und – die Wärter zeigten sich beeindruckt. Aber Erleichterungen gab es für ihn deshalb nicht.  

 

1953 durften die Insassen zum ersten Male den engsten Angehörigen schreiben. Alfred Pal wurde gefragt, warum er nie jemandem schreibe. „Wem denn, wenn meine engsten Angehörigen entweder tot in der Save bei Jasenovac schwammen oder irgendwo in Polen in Rauch aufgegangen sind“. Dies scheint die einzige Erwähnung aus Alfred Pals Mund zum Schicksal seiner jüdischen Familie gewesen zu sein. 

 

Am 28.2.1954 wurde er gerufen: „Du kannst nach Hause“ – und er: „Ich gehe nicht. Ein zweites Mal lasse ich mich nicht drankriegen mit Euren Unterschriften“. Doch ging er schliesslich doch – und mit dem Tod Stalins wurden auch die Gulags „humanisiert“ und zu „normalen Haftanstalten“ verbessert.  Auch Alfred Pal hat die prägenden Erfahrungen in sein Werk einfliessen lassen: Die Zeichnung der Baracken von Goli otok, aber auch viele Malereien tragen versteckte Hinweise, die aber entschlüsselt werden können, wenn man die Erfahrungen der Scham, der Demütigungen und des Aufbegehrens mitbedenkt. Alfred Pal wurde nach der Haftentlassung Buchillustrator, Designer und Maler. 1949 spendete er Geld für die aus der Redaktion Entlassenen, die arbeitslos wurden. 1950 wurde er selbst als Haftentlassener von der Redaktion gefeuert und verdingte sich bei einem Transportunternehmen als Fahrer. Danko Grlić (1923–1984), Ehemann der Insassin von „Sveti Grgur“, Eva Grlić (1920–2008), und Redaktionskollege von Alfred Pal, wurde ebenfalls entlassen. 

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Ženski zatvor na Golom otoku i Sv. „Sveti Grgur“u Frauengefängnis „Sveti Grgur“ (Ivo Martinovic – Foto in „Jutarnji list“)

Bis etwa 1985, als die ersten belletristischen Werke mit Anspielungen auf die Lager von „Goli otok“ und  „Sveti Grgur“ erschienen, herrschte in der jugoslawischen Öffentlichkeit striktestes Stillschweigen. Schriftsteller und Filmproduzenten liessen sich aber in den späten Achtzigerjahren, als die Erosion des Kommunismus bereits weit fortgeschritten war, nicht mehr zum Schweigen bringen. Die Kommunistische Partei Jugoslawiens (KPJ) veranlasste schliesslich die Freigabe der Archivalien und Forschungen. Anhand der Archivbestände war leicht festzustellen, wer als Richter und Staatsanwalt politische Urteile gefällt und die Angeklagten zu „Goli otok“ oder „Sveti Grgur“ verurteilt, und wer dort das Regiment geführt hatte.  Aber die Akteure der kommunistischen Herrschaft hielten dicht, schliesslich waren weit mehr Beamte (Mitarbeiter in den einschlägigen Ministerien, in Justiz und Polizei) als aus den führenden Positionen zu ersehen war, mehr oder weniger tief involviert und mitschuldig. In den Jahren nach 1990 begannen „im Windschatten“ der Kriege im ehemaligen Jugoslawien die „Säuberungen“ auch in den Archiven. Auf „Goli otok“ selbst und auf „Sveti Grgur“ verfielen die Steinbungalows zu Ruinen – das Wissen um ihre Bedeutung, um die Verantwortlichen für sie, über die Täter und die Opfer geriet in Vergessenheit. Nur die Memoirenliteratur verhinderte, dass diese Lager komplett aus dem kollektiven Gedächtnis verschwanden – auch wenn sich kaum Forscher dafür engagierten. 

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Ženski zatvor na Golom otoku i Sv. „Sveti Grgur“u
Frauengefängnis „Sveti Grgur“ (Ivo Martinovic – Foto in „Jutarnji list“)

Im Jahre 2020, als Rijeka zur Kulturhauptstadt Europas wurde, stellte sich eine Gruppe von Künstlerinnen und Wissenschaftlerinnen mit einer Installation zu den Insassinnen von „Sveti Grgur“ vor: ist doch Rijeka die Regionalhauptstadt der nördlichen Adria, wo sich „Sveti Grgur“ und „Goli otok“ befinden. Andreja Kulunčić, eine Professorin an der Zagreber Akademie für Bildende Künste, entwarf zusammen mit einer Anthropologin vom Universitätsinstitut für Ethnologie und Folkloristik in Zagreb,  Renata Jambrešić Kirin, sowie der Psychotherapeutin Dubravka Stijačić eine Kennzeichnung jener Örtlichkeiten, die in den Selbstzeugnissen der ehemaligen weiblichen Häftlinge genannt worden waren. Grundlage der künstlerischen Gestaltung bildeten einerseits die natürliche Konfiguration der Karstlandschaft, die Karstfelsen und die Überreste der Lagerbungalows: Sie wurden mit Gedenktafeln und der Inschrift aus den Memoiren der Zagreber Jüdin Vera Winter (1923–2015) versehen: 

Steine haben wir aus dem Meer geholt und auf den Berg geschleppt. Wenn der Hügel hoch genug war, haben wir die Steine wieder hinabgetragen und ins Meer geworfen“. 

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Ženski zatvor na Golom otoku i Sv. „Sveti Grgur“u Frauengefängnis „Sveti Grgur“  (Ivo Martinovic – Foto in „Jutarnji list“)

Die Künstlerinnen zeigten auch unverblümt, wie zynisch der Staat mit den Überresten der Lager zwischen 1990 und 2020 umging; so wurde „Goli otok“ zum „Staatlichen Jagdgebiet für die Hirschenjagd“ umgewidmet. Nach 2020 hat sich die Tourismuswirtschaft kurz mit der Frage der „touristischen Verwertung“ von „Goli otok“ beschäftigt – immerhin auch im Westen ein Begriff, im Unterschied zum unbekannten „Sveti Grgur“ –, aber bald davon Abstand genommen. Wohl nicht so sehr aus Pietät, sondern aus Kalkül: eine so tragische Geschichte eignet sich wohl doch nicht für Urlauber.

 

Teil I dieses Beitrags ist in der vorletzten Ausgabe, DAVID, Heft 142, Rosch Haschana 5785/September 2024 erschienen.

 

Teil II dieses Beitrags ist in der letzten Ausgabe, DAVID, Heft 143, Chanukka 5785/September 2024 erschienen.

 

Nachlese

 

a) Zeitzeugen/Zeitzeuginnen

Ženi LEBL, Ljubičica bela. Vic dveipol godine težak. Beograd (Dečje novine) 1990.

Eva GRLIĆ, „Revolucija i kontrarevolucija.“ In: Jasminka Rahela DOMAŠ, „Glasovi, sjećanja, život. Prilog za istraživanje povijesti židovskih obitelji“ („Stimmen, Erinnerungen, Leben. Beitrag zur Erforschung der Geschichte jüdischer Familien“). Zagreb 2015.

„Gorući grm. – Alfred Pal, život i djelo. Priredio Bogdan Žižić,“ („Der brennende Dornbusch“ – Alfred Pal, Leben und Werk. Redaktion Bogdan ŽIŽIĆ). Zagreb (Durieux) 2011.

David GROSSMANN, „Iri Ha-Chajim Messachek Harbej“. Tel Aviv, („Hakibbutz Hame‘uchad“), 2019. Kroatische Ausgabe: „Kad je Nina znala“. Zagreb (Fraktura) 2019. Dt. Was Nina wusste. München (Hanser) 2020.

Andrea KULUNDŽIĆ, Renata KIRIN u.a. „Vi ste Partiju izdali onda, kada je trebalo da joj pomognite.” -Žensko politički logor na Svetom Grguru I Golom otoku”(„Ihr habt die Partei im Stich gelassen, als Ihr hättet helfen sollen“. Zagreb (Friedrich Ebert-Stiftung) 2021.

Danilo KIŠ, „ Die Enzyklopädie der Toten“. Beograd 1986.

b) Sekundärliteratur

Ivo BANAC, „ Sa Staljinom protiv Tita“ („Mit Stalin gegen Tito“). Zagreb 1990, S. 149. 

Snježana PAVIĆ, „Nepoznate ispovijesti žena s Golog otoka: ‘Nakon ceremonije sramoćenja malo koja je rodila...‘ Bilo ih je 860! („Unbekannte Bekenntnisse der Frauen von „Goli otok“ – „Nach den Beschämungszeremonien hat kaum eine später Kinder bekommen. Und es waren 860!“

Auf: „Zadarski list“ www.zadarski list- Nepoznate ispovijesti žena s Golog otoka: ‘Nakon ceremonije sramoćenja malo koja je rodila...‘ Bilo ih je 860! (aufgerufen 25.2.2024)

Martin PREVIŠIĆ, „Broj kažnjenika na Golom otoku i drugim logorima za Ibeovce u vrijeme sukoba sa SSR-om (1948-1956). Na temelju neobjavljenih dokumenata Uprave državne bezbednosti (UDBA) /Die Zahl der Lagerinsassen auf „Goli otok“ und den anderen IB-Lagern während des Konfliktes mit der UdSSR (1948-1956). Auf der Basis unveröffentlicher Dokumente der Staatssicherheit (UDBA).- Auf: https://hrcak.srce.hr/file/197840sukoba sa SSSR-om (1948–1957), (aufgerufen: 18.3.2024)

 Martin PREVISIC, „Povijest Informbiroovskih logora na Golom otoku 1949-1956”. („Geschichte der „Informbiro-Lager” auf Goli otok 1949-1956“) Dissertation an der Philosophischen Fakultät Zagreb. Zagreb 2014.