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Die Geiseln vom 7.10.23 ein Kinocide

Roger Reiss

Am frühen Morgen des 7. Oktobers 2023 verübte die Hamas zusammen mit dem Palästinensisch Islamischen Jihad – von Gaza herkommend – einen Grenz-Überfall auf israelisches Hoheitsgebiet. Das brutale Vorgehen hinterliess tiefe Spuren in der israelischen Gesellschaft.

Inhalt

Mehr als 1.200 Menschen hatten Hamas-Terroristen im Süden des Landes getötet, die meisten unter ihnen Zivilisten. Unvergesslich bleibt der pogromartige Einmarsch von stark bewaffneten Terroristen in mehrere angrenzende Kibbuzim, wo die Mörder ganze Familien mit Kind und Kegel auf bestialische Weise umbrachten. Als hätte dies nicht genügt, hat die Hamas mit ihren Komplizen ausserdem 200 Überlebende nach Gaza verschleppt, mit der Absicht, sie in den Tunnels versteckt, als Geiseln gegen die zu schweren Strafen verurteilten Terroristen, die in israelischen Gefängnissen eingesperrt sind, einzutauschen. Seit Mitte Januar 2025 übergeben vermummte, stark bewaffnete Geiselnehmer ihre lebendigen „Gaza-Trophäen“ dem Roten Kreuz, und all dies gemäss einem ausgeklügelnden Skript der Hamas. Erst nach einem demütigenden Schauspiel gelangen die traumatisierten Gaza-Geiseln – tropfenweise – in die Obhut der Vermittler, die sie schlussendlich in Israel entlassen.

 

Wir müssen den Opfern ihre Stimme zurückgeben 

Nebst den täglichen Demonstrationen, die sich für die Freilassung aller Geiseln einsetzen, hat die international bekannte Völkerrechtlerin Cochav Elkajam-Levy Solidarität und Aufmerksamkeit für die Opfer des Hamas-Angriffs auf Israel am 7. Oktober gefordert. Die israelische Expertin für Menschen- und Frauenrechte gründete nach dem Hamas-Überfall die Zivile Kommission für Hamas-Verbrechen am 7. Oktober gegen Frauen und Kinder in Israel, die Berichte und Zeugnisse über Gewalt an Familien, Frauen und Kindern sammelt und dokumentiert. An einem vom Zentralrat der Juden in Deutschland organisierten Kongress der Organisation Jewish Women Empowerment Summit, der im September 2024 in Frankfurt stattfand, wartete Elkajam-Levy mit folgendem Wortlaut auf: Erfahrungen der Hamas-Opfer von sexueller Gewalt, Folter und Verbrechen gegen die Menschlichkeit würden vielfach nicht gehört oder sogar delegitimiert. Und sie fuhr fort, knappe 12 Monate nach dem Anschlag sei Israel isoliert – sozial isoliert und wie noch nie zuvor dämonisiert. „Und nicht nur Israelis, sondern auch ihr Leben und unsere Gemeinschaft werden dämonisiert“, ergänzte sie. „Was  wir sehen, ist Antisemitismus in einer neuen Form.“

Nach dem 7. Oktober habe es keine angemessene Reaktion der internationalen Organisationen gegeben, sagte Cochav Elkajam-Levy. Geiseln – Frauen, Kinder, Männer, Alte, Behinderte – seien auf brutale Weise nach Gaza verschleppt worden. „Wir erhielten Berichte, dass Menschen in ihren Häusern bei lebendigem Leib verbrannt wurden, Kinder vor den Augen ihrer Eltern, Eltern vor den Augen ihrer Kinder ermordet wurden – Berichte, die sehr an die Shoah erinnerten“, sagte sie. „Es war schockierend. Wir hatten einen sehr lauten Aufschrei der internationalen Organisationen erwartet.“

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Familienphoto aus glücklichen Tagen: Yarden (Vater), Shiri (Mutter) und ihre Kleinkinder Ariel und Kfir Bibas. Ein kollektives Drama – die ganze Familie Bibas wurde am 7. Oktober 2023 durch die Hamas im Rahmen des Angriffs auf Israel (Kibbuz Nir Oz) nach Gaza entführt. Die Ungewissenheit um die Familie Bibas macht diese zu einem der erschütternden Symbole des kollektiven Geiseldramas. Als einziger Überlebender wurde Yarden am 1. Februar 2025(!) als Teil des Geiselabkommens freigelassen. Die Leichen der Mutter und der zwei Kleinkinder wurden der israelischen Armee übergeben. Quelle: Israel Zwischenzeilen, 5. Februar 2025, mit freundlicher Genehmigung: R. Reiss.

Kinocide als gezielte Verbrechen gegen israelische Familien

Cochav Elkajam-Levy und die Kommission etablierten nach dem 7. Oktober den Begriff des „Kinocide“, um Verbrechen gegen israelische Familien zu beschreiben. Diese Gewalt ziele darauf, die israelische Gesellschaft und auch das jüdische Volk nachhaltig zu zerstören. „Kinocide“ ist eine Wortneuschöpfung aus den Wörtern „kin“, was im Englischen „Verwandtschaft“ bedeutet, und „Genocide“.

 Hamas hat die Gewalt gegen Familien als Mittel missbraucht, um ein Trauma zu schaffen, das für kommende Generationen andauern wird“, sagte sie.

 

Während Genozid (Genocide) sich gegen eine Gruppe von Menschen richtet – „national, ethnisch, rassisch oder religiös“, wie es in der Völkermordkonvention der Vereinten Nationen von 1948 heisst – ist Kinocide ein spezifischer Angriff auf
eine Gruppe, bei dem die Beziehungen zwischen Familienmitgliedern und ihre emotionalen, identitätsbezogenen, kulturellen, symbolischen, materiellen und anderen Bindungen genutzt werden, um den beabsichtigten Schaden des Angriffs zu maximieren. Familien werden gezielt durch Massentötungen, Grausamkeit und Folter angegriffen. Dabei geht es nicht um die sofortige Zerstörung einer Nation, sondern um Gewalt gegen Familien, die den Kern einer Gesellschaft treffen. 

 

Im weiteren schreibt Cochav Elkayam-Levy in einem Bericht zum Begriff Kinocide

„Der brutale Missbrauch von Familien während des Angriffs der Hamas am 7. Oktober zwingt uns, eine quälende Frage zu stellen: Stellt die Instrumentalisierung der Familie als Waffe ein neues Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar? Es ist unerlässlich, die abscheuliche Natur des Missbrauchs von Familien als Verbrechen gegen die Menschlichkeit anzuerkennen und Parallelen zu anderen historischen Gräueltaten zu ziehen. Der gegenwärtige Höhepunkt der Grausamkeit bei solchen Angriffen rechtfertigt diese Anerkennung eindeutig.“ 

 

Der Kinocide geht weiter 

Dass dieser Kinocide immer noch nicht vorbei ist, zeigen die verbleibenden Geiseln, die sich seit über 17 Monaten in Gefangenschaft der Hamas befinden, während ihre Familien zu Hause um sie bangen. Diese Familiengeschichten sind mehr als Tragödien – sie zeigen systematische Verstösse gegen das Grundrecht auf Familienleben. Trotz internationaler Schutzmechanismen fehlen im Völkerrecht gezielte Rechtsmittel gegen die bewusste Zerstörung von Familien, was Justiz und Rechenschaft erschwert. Im Prinzip geht es um die psychosoziale Aufarbeitung der Gräueltaten, die Anstrengung, die in die Aufarbeitung gesteckt wird. Mit ein bisschen Beharrungsvermögen kann die Resilienz gestärkt und das Erlebte verarbeitet werden. 

 

„Diese abscheulichen Taten waren kein Zufall“, erklärt Elkayam-Levy: 

„Die Vorgehensweise der Hamas am 7. Oktober und was danach folgte war ebenso kalkuliert wie grausam; es war eine vorsätzliche Strategie, die Familie als Waffe des Terrors zu missbrauchen. Diese Form der Instrumentalisierung ist im Völkerrecht noch nicht definiert, obwohl die begangenen Gräueltaten eindeutig Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen, insbesondere die Instrumentalisierung familiärer Bindungen für strategische Zwecke. Diese Folge von Gräueltaten erfordern neue Denkweisen. Zu diesem Zweck möchten wir einen neuen Begriff definieren, „Kinocide“, der dieses Konzept widerspiegeln soll.“ 

 

Nachlese

 

Johanna Weiss: Resilienz finden. In: Jüdische Allgemeine, 7. September 2024.