Ausgabe

Die letzten Karaiten der Türkei

Robert Schild

Als Nachfahren einer Religionsgemeinschaft von der Krim- Halbinsel sind die jüdischen Karaiten (oder Karäer genannt) eine leider zunehmend verschwindende Gemeinschaft innerhalb des Jahrtausende alten Schmelztiegels Istanbul – und trotzdem sorgen ihre Mitglieder für die Erhaltung dieser Kultur.

Inhalt

Zur Aufarbeitung im Rahmen seiner 2021 in Istanbul erschienenen Studie über die „Vielvölker-Insel“ Burgaz im Marmara-Meer1 unterhielt sich der Verfasser unter anderem auch mit drei der in den Sommermonaten dort noch wohnenden karaitischen Familien. Eine unter ihnen machte folgende wichtige Feststellung: „Im Judentum zeigt die Zugehörigkeit zu Aschkenasim und Sephardim eine lokale, das heisst herkunftsbedingte Unterscheidung; die karaitischen Juden haben zudem noch eine eher ‚religionsphilosophische‘ Variante.“ In diesem Zusammenhang könnte man die Karaiten, wenn nicht als eine Art Sekte, so doch auf jeden Fall als eine Konfession definieren. Die ethischen Grundlagen ihres Glaubens sind schlicht die Zehn Gebote: „Wir beziehen uns nur auf das Alte Testament. Andere Kommentare, egal ob mündlich oder schriftlich, sind für uns unzulässig.”

 

Dieses Glaubensbekenntnis entstand im 8. Jahrhundert als eine Protestbewegung innerhalb des Judentums gegen die Auslegung der Thora im Talmud. Die karaitische Bewegung wurde vom Exilarchen (jüdisches Religionshaupt in der Diaspora, hier in Mesopotamien) Anan ben David (c. 715 - c. 795) als Ergebnis eines ideologischen Streits unter den Geistlichen in Babylon entfacht. Die Karaiten erkennen keine andere Quelle an als die Thora, das heisst die Fünf Bücher Mose, und betrachten keinerlei verbale Regeln für ihren Glauben als verbindlich – selbst nicht etwaige Urteile eines Rabbiners, den es in dieser Konfession auch gar nicht gibt (Religionsvorsteher sind hier „die Weisen“). Das weitere heilige Buch des Judentums, der Talmud, ausgehend von der Mischna, eine Sammlung mündlicher Überlieferungen und Regeln, wird von den Karaiten definitiv nicht anerkannt. Somit könnte man diesen Glauben auch als eine rigorose „Buchreligion“ bezeichnen. Der Name (hebr.: „Karaim“) Karaiten oder auch Karäer stammt daher sinngemäss von der althebräischen Bezeichnung  für „lesen“ beziehungsweise rezitieren, hier in der Bedeutung „die (Heilige) Schrift lesen“.

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Aussenansicht: Eingang zur karaitischen Synagoge in Istanbul.

Ihr religiöses Zentrum lag zunächst in Bagdad und verlagerte sich später nach Jerusalem, wo diese Bewegung nach und nach ihre kulturelle Blüte erreichte. Die karaitische Gemeinde ist eine jener historischen Gruppen, die die ältesten jüdischen Traditionen, noch aus der Zeit des Zweiten Tempels, einhalten. Ihre heutige Bevölkerung in Israel wird noch immer auf etwa 40.000 Personen geschätzt.2 Viel später in der Geschichte verbreiteten Missionare diese Konfession unter den turksprachigen Bewohnern auf der Halbinsel Krim, von wo dann laut Überlieferung einige hundert karaitische Familien gegen Ende des 14. Jahrhunderts vom Grossfürst Vytautas nach Litauen eingeladen wurden. 

 

Bereits viel früher, nämlich im 9. Jahrhundert, war ein Teil der chasarischen Türken zum Judentum konvertiert, und diese bildeten den Ursprung der türkischen Karaiten. Von der Krim-Halbinsel aus zog eine kleinere Gruppe um das Jahr 1000 in die byzantinische Hauptstadt Konstantinopel, wo sich diese Gemeinschaft wie viele andere ethnische Gruppen auch niederliess, und zwar im damaligen Stadtteil Galata, dem heutigen Karaköy, dessen Namen der Überlieferung nach von ihnen stammt (türkisch „Karay-köy“ = „Dorf der Karaiten“). In der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts erlebte der Karaismus im byzantinischen Reich eine neue, wenn auch nur vorübergehende geistige Blütezeit. In dieser Periode wirkte unter anderem Aaron ben Josef ha-Rofe, ein bedeutender karaitischer Bibeltheoretiker, der die bis dahin unbeständige karaitische Liturgie in ein organisiertes, bis heute gültiges Ritual gliederte. Sein Bibelkommentar „Sefer ha-Mivhar“ gilt als das klassische karaitische Werk der Bibelexegese. Aaron ben Elias der Jüngere von Nikomedia, ein Kodifizierer, Bibelexeget und Religionsphilosoph, der in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts lebte, wurde als „karaitischer Maimonides“ angesehen.

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Innenhof der karaitischen Synagoge.

Während der neuen osmanischen Herrschaft unter Sultan Mehmet dem „Eroberer“ wurde den nunmehr „türkischen“ Karaiten zunächst der Ort Eminönü auf der gegenüberliegen Seite des Goldenen Horns zugewiesen. Als im 17. Jahrhundert dort die grosse „Neue Moschee“ erbaut werden sollte, wurde dieses Wohnviertel enteignet und die Gemeinschaft schliesslich am nordöstlichen Ufer des Goldenen Horns, dem ländlichen Hasköy, angesiedelt. Im Laufe der Jahrhunderte entstanden dort mitunter Mischehen zwischen den seit der Antike in diesem Raum lebenden Romanioten sowie den 1492 aus Spanien unter anderem nach Istanbul eingewanderten Sefarden. Im Istanbuler Stadtviertel Hasköy steht heute noch die Karaitische Synagoge („kenesa“ = Versammlungsort – siehe auch das israelische Parlament „knesseth“ – oder Türkisch: „kahal“), deren Eingang drei Stufen unter der Strassenebene liegt3 und mit Teppichen bedeckt ist; demnach darf sie nur mit Hausschuhen betreten werden.

 

Die Art des G‘ttesdienstes der Karaiten unterscheidet sich wesentlich von jenem der sefardisch- oder aschkenasisch-türkischen Juden: Frauen und Männer beten gemeinsam und stehend, anders als im weltweiten orthodoxen Judentum – hier gilt somit das Prinzip der Gleichberechtigung. Beim Gebetsrhythmus fallen sie mitunter in die Knie, ähnlich wie beim Beten der Mohammedaner. Gebetsvorsteher ist hierbei nur ein Kantor. Die jüdische Tradition der „Bar-Mitzva“, bei der die Reife eines Jungen im Alter von dreizehn Jahren vermittels einer religiösen Zeremonie symbolisiert wird, besteht bei den türkischen Karaiten ebensowenig. Zudem liess bis vor kurzer Zeit das Istanbuler Grossrabbinat auch die Heirat zwischen karaitischen und sefardischen beziehungsweise aschkenasischen Juden definitiv nicht zu – derartige religiöse Ehen wurden daher in Israel geschlossen. Bemerkenswert ist ferner, dass der in der Thora nicht erwähnte, aber doch historisch bedeutende Feiertag Chanukkah in dieser Konfession nicht anerkannt wird, wohl aber das ähnlich Thora-fremde Purim-Fest! 

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Innenansicht der karaitischen Synagoge.

Zur byzantinischen Zeit entstand in Konstantinopel eine besondere Sprache namens Karaytika, die neben dem vornehmlichen Kiptschak-Türkisch auch zahlreiche byzantinische beziehungsweise griechische Wörter enthielt. Diese ist heute jedoch fast verschwunden, da sie bis ins ausgehende 20. Jahrhundert nur noch von älteren Menschen gesprochen wurde. Im Gegensatz hierzu ist in Litauen heute noch eines der wichtigen Bindeglieder für den Zusammenhalt der dort ansässigen Karaiten ihr ethnisches Karaimisch, eine Tatarisch-Turksprache mit späteren Entlehnungen aus dem Litauischen, Polnischen und Russischen.

 

Einer unserer Interviewpartner mit karaitischem Vater und sefardischer Mutter sagte, er versuche „so gut es geht“, die beiden Traditionen seiner Eltern weiterzuführen. „Natürlich stosse ich hierbei auf mitunter ernst zu nehmende Problemsituationen.“ Beim Tod seiner Mutter gab es neben der Beerdigungszeremonie auch ein Dilemma, auf welchem Friedhof sie beerdigt werden sollte. So wie die anderen türkischen Juden haben auch die Karaiten in Istanbul ihren eigenen Friedhof, und laut der allgemein jüdischen Überlieferung ist bei Todesfällen für die Bestattung der Ehemann ausschlaggebend. 

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Ester und Jozef Tanatar, am oberen Eingang des „kahal“; Hasköy, 21.08.1960, mit freundl. Genehmigung: L.Tanatar-Baruh.

Um die Jahrhundertwende mehrte sich unter den türkischen Karaiten die Tendenz zur Konversion zum Islam, und dieses Phänomen führte zu einem grösseren Konflikt innerhalb dieser kleinen, leider dahinschmelzenden Gemeinschaft. So ist dem Verfasser beispielsweise unter den nach 1950 geborenen türkischen Karaiten nur eine einzige Ehe bekannt, deren beide Partner Angehörige dieser Konfession sind – im besten Fall sind hier Mischehen zwischen Sefarden und Karaiten zu sehen, bei denen jedoch der Einfluss ersterer Ehepartner, vor allem im Umfeld der vorwiegend sefardischen Ausrichtung im lokalen Judentum, ausschlaggebend ist.

 

Die türkisch-karaitische Gemeinde belief sich gegen Mitte des letzten Jahrhunderts auf rund dreihundert Personen, wobei sich ihr Lebensraum zusehends auf verschiedene Istanbuler Stadtteile verstreute. Durch eine geringe Abwanderung nach Israel, aber vor allem vermittels eingegangener Mischehen (vornehmlich mit Juden, allenfalls mit Moslems) hat sich diese Zahl heute auf etwa fünfzig bis sechzig Personen verringert, die zudem mit Angehörigen der gleichen Konfession in anderen Ländern (Israel, Litauen, U.S.A.) auf internationaler Ebene keine regelmässigen Kontakte unterhalten.

 

Als kleiner Trost dient jedoch, dass in den letzten Jahren eine zunehmende Anzahl vierzig- bis fünfzigjähriger türkisch-karaitischer Frauen und Männer innerhalb einer eigens errichteten, dynamischen Stiftung den Bestand und das Erbe dieser kleinen Gemeinschaft so lange wie möglich aufrechtzuerhalten versucht. So betrachtet unter anderem die Präsidentin der „Türkischen Hasköy-Karayim-Stiftung“ Idil Karayegen diese Gruppe nicht als eine Religion (oder Konfession), sondern als eine eigene Kultur und somit „eine Farbe“ oder Schattierung in der Multikulturalität der Türkei.4

 

Anmerkungen

 

1 Robert Schild: Canlı bir Etnografik Müze – Burgazadası („Die Insel Burgaz, ein aktuelles ethnographisches Museum“); Istanbul, 2021.

2 Siehe auch https://www.deutschlandfunkkultur.de/juedische-karaiten-ohne-rabbiner-und-klagemauer-100.html

3 Anm. R. Schild: Zur Symbolisierung der seinerzeit unterirdisch befindlichen karaitischen Synagogen.

4 Yılmazcan Simonetti: Türkiye Otoktan Azınlık Toplumlarıyla Söyleşiler; Istanbul, 2024, S. 246.

 

Für weitere Details vgl. Lorans Tanatar-Baruh: Hasköy, The Study of a Quarter; unveröffentlichte Studie im Seminar von Prof. Stanford Shaw; Istanbul, 1991 (zur türkischen Übersetzung, siehe Istanbuler Wochenzeitung Şalom; Dez.1992–Jan.1993) sowie R.Schild: a.a.O., S. 112-113.

 

Alle Abbildungen: R. Schild, mit freundlicher Genehmigung.


Fortsetzung in der nächsten Ausgabe, DAVID Heft 145, Sommer 2025: 

Robert Schild: Wo gibt es heute noch Romanioten? Eine erfolglose Suche nach romaniotischen Juden in der Türkei.