Ausgabe

Wohnungswanderung
Nach der Shoah auf Wienbesuch

Tina Walzer

Joseph Leo Koerner über seinen Vater, den Maler Henry Koerner

Inhalt

Joseph Leo Koerner ist Professor für Kunstgeschichte und Institutsvorstand an der amerikanischen Elite-Universität Harvard. Seit einiger Zeit verbringt er einen Teil des Jahrs wieder in Wien, so wie einst als Kind. Sein Vater, der Maler ­Henry Koerner (1915–1991), überlebte die Shoah durch Flucht in die U.S.A. Danach zog es ihn jedes Jahr für vier Monate zurück in seine Geburtsstadt, die Familie reiste mit. Während der Vater seine traumatische Verfolgungsgeschichte durch die künstlerische Verarbeitung zu bewältigen versuchte, sorgte die Mutter in den monatelangen Wohnungsprovisorien für ihn und die beiden Kinder. Der Sohn berichtet von den damaligen Beobachtungen, wie sie sein Weltbild formten und seinen weiteren Lebensweg beeinflussten. 2019 brachte er über die Geschichte seines Vaters einen Film heraus, The Burning Child.1

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Joseph Leo Koerner. Foto: Chrdit. Quelle: Wikimedia commons, gemeinfrei: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Joseph_Koerner.jpg

DAVID: Das Nordbahnviertel, in dem Ihre väterliche Familie bis zum NS-Regime wohnte, wies damals eine hohe jüdische Bevölkerungsdichte auf, es gab Schulen, Bethäuser, Vereine, Redaktionen, und nicht zuletzt die vielen Wohnungen.

Joseph Koerner: In der Heinestrasse 13 lebten Tanten von uns; vermutlich waren sie dort auch die Hausbesitzer. Dort, und an der Adresse Am Tabor 13, wo meine Grosseltern wohnten, haben wir die Verlegung von „Stolpersteinen“ geplant.

 

DAVID: Ist es wichtig für Sie, dass Ihre Familie aus Wien stammte?

Joseph Koerner: In meinem Leben, meiner Arbeit, meiner Familie spielt die Geschichte der Vorfahren eine wichtige Rolle. Wie der Umgang damit in der Familie weitergehen wird, hängt davon ab, wie man die Äusserungen der übrigen Mitglieder dazu interpretiert. Ich selbst habe das in einem Text über unsere Reise nach Maly Trostinec zusammengefasst.2 Die längste Zeit wollte ich dort nicht hinfahren (aus Zeitmangel, nicht aus einer psychologisch erklärbaren Verweigerungshaltung heraus). Aber mein Sohn fragte: Du arbeitest ständig über diese Frage, wieso fahren wir nicht einfach hin? Er war es dann, der die Organisation in die Hand nahm, meine anderen Kinder kamen letztlich auch mit. 

DAVID: Wie wird in Ihrer Familie mit der Shoah umgegangen?

Joseph Koerner: Jedes Familienmitglied hat seinen eigenen Zugang zu der Frage. Als Kind war ich in einer eigentümlichen Position, denn einerseits wurde zwar in meiner Familie sehr wenig über die Tatsachen der Verfolgung gesprochen, andererseits aber machte mein Vater die Erinnerung, nämlich das Durcharbeiten der Vergangenheit, zu seinem künstlerischen Beruf. Das Ergebnis seiner Arbeit wurde sowohl in Europa als auch in den U.S.A. gezeigt. My Parents, II wurde in Berlin ausgestellt, jetzt hängt es in einem Museum in Minnesota. Durch die Präsentation in den Magazinen Time und Life ist dieses Gemälde in den U.S.A. sehr bekannt.

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Am Tabor 13, in Amerika aus der Erinnerung gemalt: Meine Eltern/My Parents, I, 1944. Privatbesitz, mit freundlicher Genehmigung: J.L.Koerner.

DAVID: Wie würden Sie das Verhältnis Ihres Vaters zu seiner Herkunft charakterisieren?

Joseph Koerner: Mein Vater war zwar ein Überlebender, hat sich aber bei weitem nicht nur über die Shoah definiert. Pittsburgh spielte eine wichtige Rolle in seinem Leben, die U.S.-amerikanische Kunstszene, seine Freunde (für ihn waren das rein zufällig lauter Juden). Andererseits war aber unser Wohnviertel „Squirrel Hill“ in Pittsburgh eine typischerweise sehr stark jüdisch geprägte Gegend, mit einer aktiven jüdischen Gemeinde. Das bedeutet in der Retrospektive, alles, was ihm wichtig war, konnte mein Vater über die Kunst sublimieren; der jüdische Bezug war ihm dabei zumindest scheinbar gar nicht so wichtig.

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The Burning Child, Dokumentarfilm, 2019. Drehbuch: J.L.Koerner, Regie: J.L.Koerner, Christian D. Bruun, Produktion: J.L.Koerner, Christian D. Bruun, Bo-Mi Choi. Mit freundlicher Genehmigung: J.L.Koerner.

DAVID: Wie sehen Sie denn ihre eigene Rolle bei der Interpretation seiner Arbeiten?

Joseph Koerner: 1976/78, als ich zu studieren begann, versuchte ich bereits, meinen Vater mit seinen Bildern als Künstler der Diaspora zu interpretieren; aber erst in meinen späteren Werken wurde ich dazu expliziter. Nach 1989 hatte mein Vater auch eine Ausstellung im Gänsehäufel in Wien; die Rede, die er zu deren Eröffnung hielt, wurde aufgenommen. In ihr spricht er viel über seinen ersten Wienbesuch nach dem Krieg, 1946, aber auch über seine Kindheit in Wien vor dem Krieg. Er erklärt hier auch erstmals ganz unmittelbar die Zusammenhänge zwischen seiner Biographie und seinen Bildern. 

Für meine Interpretation als Kunsthistoriker war also durch meinen Vater alles vorbereitet.

 

DAVID: Sie haben als Kind seine Auseinandersetzung mit der Verfolgung miterlebt, wie war das für Sie?

Joseph Koerner: Mein Vater ist in seine Vergangenheit zurückgekehrt, mit uns, seiner „Truppe“: das ist mein Leitfaden. Wir waren immer mit ihm und bei ihm, als er malte und zeichnete. Er interessierte sich, wohl gemerkt, für die Gegenwart, die ihn umgab – nicht für die Zeit vor 1938: also malte er die Kriegswitwe, den Gastarbeiter, Stimmungen der Natur. In einem seiner Bilder lässt mein Vater die Strassenbahnlinie Nummer 5 mitten durch den Augarten fahren, an zwei Flaktürmen vorbei. Den „Fünfer“ bezeichnete mein Vater immer als „Schicksalswagen“, den Flakturm im Augarten als „ungewolltes Denkmal“. Wenn mein Vater gefragt wurde, wieso er so gut Deutsch spreche, gab er zur Antwort: „Meine Eltern waren Wiener.“ Wieso? Weil er die Leute dazu bringen wollte, ihm Modell zu stehen. Sein Zugang hatte etwas „kannibalistisches“, es war eine Mischung aus Zirkushumor, herabgekommener Bildkunst und der Liebe zum proletarischen Wien. Die Magischen Realisten hasste er – Ernst Fuchs, Friedensreich Hundertwasser konnte er nicht ausstehen. 

 

DAVID: Welche Art von Kontakten hatte Ihr Vater in Wien nach dem Krieg?

Joseph Koerner: Mein Vater war eine Art Anthropologe des nichtjüdischen Kleinbürgertums. Sein bester Freund war der Bademeister im Gänsehäufel, Kurt Marchel. Daneben gab es noch Otto Rüdenauer (sein Sohn ist der Avantgarde-Komponist Meinhard Rüdenauer). Otto war Künstler wie mein Vater, in etwa gleich alt wie er, und ein enger Freund. Er arbeitete als Zeichenlehrer und bewunderte meinen Vater sehr. Die meisten Wiener Freunde hatten Schrebergärten, dann gab es noch die Hüttenwirte am Schneeberg und im Wechselgebiet. Und im Gänsehäufel die Kabinen-Saisonarbeiter.

 

DAVID: Fühlte sich Ihr Vater als Amerikaner, als Wiener? 

Joseph Koerner: Mein Vater hat die Vergangenheit, die schon erforscht war, als traumatische Erinnerung aufgearbeitet, und das machte er übergreifend, von Wien aus genauso wie in Pittsburgh. Das zeigt mir, wie wesentlich auch Pittsburgh für ihn war: beide Städte waren gleich wichtig für ihn. Es war wohl gerade das Spannungsverhältnis zwischen dem „American Way of Life“ und der Kunststadt Wien, was ihn faszinierte.

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Shoah-Opfer Kurt: Mein Bruder/My Brother, 1957. Privatbesitz, mit freundl. Genehm.: J.L.Koerner.

DAVID: Sie haben von Ausstellungen seiner Werke in Berlin, New York, San Francisco, London und Pittsburgh gesprochen – wie sieht das mit Wien aus?

Joseph Koerner: Da kam ich ins Spiel, denn ich war in Wien und organisierte eine Ausstellung im Museum Belvedere unter dem damaligen Direktor Gerbert Frodl. Zwischen 1995 und 1997 war gerade eine gute Phase, es gab mehrere Ausstellungen über Exilkünstler in Wien. Meine Mutter ging mit einer Mappe voller Bilder ins Belvedere und bahnte das Ganze auf diese Weise an; die Ausstellung habe ich dann selbst gestaltet.

 

DAVID: Gibt es zwischen dem Schicksal Ihrer Familie und Ihrer Berufswahl einen Zusammenhang?

Joseph Koerner: Man kann schon einen Zusammenhang zwischen der Vergangenheit meiner Familie und der Kunstgeschichte sehen, wenn man möchte. Die heute bekanntesten Schulen der wissenschaftlichen Kunstbetrachtung, von Aby Warburg und Walter Benjamin, sind auf dem Boden der Gefahr entstanden, vor dem Hintergrund der Angst. Benjamin sagte über Kulturgut: „Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne ein solches der Barbarei zu sein.“ Das ist für mich zum Leitmotiv geworden, denn die Annahme wurde für mich durch die Erfahrungen meines Vaters bestärkt: Kunst ist etwas Unheimliches. 

 

DAVID: War die Kunst für Ihren Vater auch unheimlich?

Joseph Koerner: Mein Vater hatte eine tiefe Liebe zu den dargestellten Szenen: zum Prater, zum Augarten, dem Agnes-Brünndl – zu Heurigen, dem Kahlenberg, dem Nasenweg auf den Leopoldsberg: er liebte das. Das änderte sich zwischen den Generationen: die, die näher betroffen waren, hielten eine lockerere Beziehung zur eigenen Geschichte aus, als ihre Nachkommen es ertragen können.

 

DAVID: Wie ist denn die Ausstellung im Gänsehäufel zustande gekommen?

Joseph Koerner: Das war 1982 und fand zunächst in einem kleinen Zimmer beim Eingang statt, als Anlass diente der 75. Jahrestag der Badeanstalt. Damals war Kurt Marchel bereits Bademeister; über die kleine Ausstellung wurde ein ORF-Beitrag gesendet. Marchel und mein Vater fanden das so gut, dass sie das schwammerlförmige Restaurant des Bades kurzerhand in einen Ausstellungsraum mit fünfunddreissig Gemälden umfunktionierten – Presse, Politiker kamen in Scharen! Die Folge blieb nicht aus, es kam zu einer anonymen Anzeige gegen Marchel und einer Untersuchung, wie denn die Ausstellung dorthin gekommen sei und wer Marchel dafür bezahlt hätte. Marchel wurde in einen Bürojob versetzt und dann pensioniert – er war erst sechzig Jahre alt und froh darüber. Die Ausstellung war eine Mischung aus Erfolg und Misserfolg, sie dauerte sechs Wochen, von Anfang August bis Badeschluss zum Saisonende.

 

DAVID: Gab es einen politischen Zusammenhang mit den Europareisen Ihres Vaters nach dem Krieg?

Joseph Koerner: Bereits 1947 hatte mein Vater eine erste Ausstellung in Berlin. Es war ganz offensichtlich, er malte die Nachkriegszustände in Berlin: Einsamkeit, Zerstörungen. Die Ausstellung wurde von den Amerikanern organisiert, die auch Fragebögen an die Besucher verteilten. Das war Teil der Entnazifizierungspolitik. Die Fragebögen existieren übrigens noch, sie bilden heute einen eigenen Archiv-Bestand.

 

DAVID: Wie erlebten Sie selbst Wien, als Kind eines Überlebenden?

Joseph Koerner: Wir erfuhren unsere Nachbarschaft nur durch unseren Vater. Für seine Familie hatte die Synagoge nie eine Rolle gespielt, man feierte Weihnachten statt Chanukka. Die Natur war für meinen Vater viel wichtiger als das Judentum: das Gänsehäufel, der Wienerwald. Was wir wahrnahmen, war die alltägliche Nachbarschaft unseres Vaters: Das Gymnasium in der Vereinsgasse, die Höhere Graphische Bundes-Lehr- und Versuchsanstalt, die Strassenbahnlinie 5. Das interessierte ihn, das zeigte er uns – es war ihm nicht so wichtig, ob jemand jüdisch war. Da gab es beispielsweise eine nichtjüdische beste Freundin, Steffi Lukas: nach dem Tod ihrer eigenen Mutter lebte sie bei den Körners, die sie aufgenommen hatten. Mein Vater hatte viele Erinnerungen an Beziehungen zwischen Familien und Stockwerken im eigenen Wohnhaus. Es gab zwei illegale Nazis im Haus, einer davon war Josef Riefenthaler (er „arisierte“ dann das Haus). Die zwei Kindheitsfreundinnen meines Vaters  – da war er drei, fünf Jahre alt – waren die Töchter der beiden Nazis; er hat das in seinen Erinnerungen aber nie speziell herausgestrichen.

 

DAVID: Wie würden Sie die Beziehung Ihrer Eltern zu Wien zusammenfassen?

Joseph Koerner: Ich nenne das die psychische Geografie meines Vaters. Thema seiner Bilder waren oft unsere Ausflüge in die Natur. Sie war mit sehr freudvollen Erinnerungen besetzt für ihn, nach dem Krieg hat er viel wiedergefunden für sich: manches war hässlicher, manches schöner, wie die Berghütten auf der Rax und dem Hochschwab. Das Haus am Tabor war sehr wichtig, die Wohnung, die Nachbarschaft, durch die Strassenbahnen waren es auch die Verkehrszonen, die einen zu verschiedenen Vergnügungspunkten brachten. Im Gegensatz dazu hat er zum Beispiel die „ostjüdischen“ Siedlungsviertel nicht betont, er sagte: „alle hassten die Ostjuden“ und meinte damit die ungebildeten Juden im Gegensatz zu einem selbst als assimiliertem Juden. Er sagte: „Die Zirkusgasse war das Prostituiertenviertel“ und schilderte es als ein bisschen gefährlich, wegen der „Pücha“, so wie man auch in Ottakring nachts nicht aussteigen würde wegen der „Pücha“ (so sprach er es aus) – es war die Geografie seiner väterlichen Familie. Und das hat er mit unserer Familie wiederholt, jeweils vier Monate im Jahr. Wir verbrachten die Sommer in der Wohnung am Volkertmarkt und in der Turmkabine am Gänsehäufel. Die Badekabine hatte eine kleine, unerlaubte Küche, und dort waren wir, täglich, auch bei Regen; nur dort zu übernachten war nicht erlaubt. Meine Mutter war davon nicht so begeistert wie mein Vater: als er 1991 starb, bei einem Unfall mit dem Fahrrad in der Wachau, zog sie um, in eine Wohnung am Kohlmarkt. Als wir erwachsen waren, reisten meine Eltern immer öfter nach Wien, mein Vater kam auch im Winter und malte Winterszenen. Nach seinem Tod war meine Mutter sehr oft und lange in Wien, sie hatte mehrere Freunde hier, es wurde aber zunehmend beschwerlich für sie. Am Ende übernahmen dann wir ihre Wohnung.

 

DAVID: Sehr geehrter Herr Professor, vielen Dank für dieses interessante Gespräch!

 

Anmerkungen

1 Dt. unter dem Titel „Wohnungswanderung“ bei einem Screening im Wien Museum am 7.5.2024 gezeigt; voraussichtliches Erscheinungsdatum der deutschen Filmfassung 2025. Link: https://www.wienmuseum.at/event/691

2 vgl. Joseph Leo Koerner, Maly Trostinets. In: Granta 149, Autumn 2019, S. 15-33.

 

Nachlese

Unheimliche Heimat. Henry Koerner 1915–1991. Österreichische Galerie Belvedere, 25.6. bis 31.8.1997.