Ausgabe

Fall Ostschweiz: Heimtückisch

Fabian Brändle

Im Jahre 1800 ermordete ein junger Ostschweizer namens Johann Georg Louis den jüdischen Hausierer Joseph Meyer aus Hohenems.

Inhalt

Der Journalist Raffael Bollag, ein orthodoxer Jude aus Zürich, las von einem Toggenburger Mordfall aus dem Jahre 1800. Die Geschichte beschäftigte ihn dermassen, dass er mit eigenen, vertieften Recherchen begann. In österreichischen und schweizerischen Archiven fand er dank Mithilfe kundiger Archivare viel heraus über die Identitäten von Opfer und Tätern. Das Toggenburg, Tatort, ist ein Gebirgstal im Kanton St. Gallen in der Ostschweiz. Bekannteste Berge sind der Säntis (2.501 m), der Schafberg, der Schindelberg, der Speer, der Stockberg, der Köbelisberg sowie die majestätische Gebirgskette der Sieben Churfirsten, die an die Dolomiten erinnern. Historischer Haupt­ort der ehemaligen Grafschaft Toggenburg war das einzige Städtchen Lichtensteig, ein bedeutender Marktort. Das Obertoggenburg war geprägt durch Almwirtschaft (Milch, Fleisch, Käseexport) sowie Textilheimarbeit.

 

Das Opfer des Verbrechens, Joseph Meyer, stammte aus Hohenems im Vorarlbergischen. Dort lebte seit Jahrhunderten eine stattliche jüdische Gemeinde – bis zu ihrer Verelendung und schliesslichen Auslöschung unter den Nationalsozialisten ab 1938. Noch heute gibt es in der schönen Kleinstadt ein sehr sehenswertes, preisgekröntes jüdisches Museum und eine eigene „Judengasse“. Joseph Meyer war so arm, dass er als Hausierer sein karges Brot verdienen musste und mit seinen Gütern über Land zog. Es war ein typischer Beruf für ärmere Juden jener Zeit. Auch Viehhändler oder Hehler wohnten in Hohenems. Im Dezember des Jahres 1800, zur Zeit der sogenannten Helvetik (einer unruhigen Zeit mit Aufständen und Kriegshandlungen) begab sich der Hohenemser Jude Joseph Meyer auf eine längere, verhängnisvolle letzte Geschäftsreise, die ihn ins ostschweizerische Toggenburg führte. 

 

Im Obertoggenburger Dorf Alt St. Johann übernachtete der jüdische Hausierer im nach wie vor bestehenden Gasthof Schäfli, dessen heutigen Wirt, den geschichtskundigen „Schäfli-Sepp“, der Zürcher Journalist Raffael Bollag auch kontaktierte. Joseph Meyer wollte weiter zu Fuss über die Schwägalp in Richtung Kanton Appenzell-Ausserrhoden ziehen. Dort wartete eine hügelige Landschaft mit zahlreichen Weilern und Einzelhöfen auf ihn – ideales Terrain für einen Hausierer, der ja gleichsam einen kleinstädtischen Markt ersetzte. Allein traute sich Joseph Meyer nicht zu, im Winter diesen steilen, langgezogenen Pass zu überqueren, also fragte er nach einem kundigen einheimischen Bergführer. 

 

Der 24-jährige, verheiratete Johann Georg Louis (geboren am 17. November 1776) meldete sich prompt. Die beiden Männer wurden schnell handelseins und brachen gemeinsam auf. Doch statt seinen Kunden sicher über den verschneiten Pass der Schwägalp zu führen, lockte der Toggenburger Johann ­Georg Louis ihn in einen tödlichen Hinterhalt und ermordete ihn heimtückisch, um sein Opfer anschliessend zu berauben. Ein schnöder Raubmord also.

 

Ob neben Gier auch eine gewisse antisemitische Motivation hinter der Tat stand, ist zumindest fraglich. Als Ortsfremder war Joseph Meyer jedenfalls gefährdet, als Jude umso mehr, denn ein gewisser Antijudaismus und Antisemitismus war auch im Toggenburg – wie überall in Europa – präsent. Der Distriktstatthalter in Neu St. Johann (Kanton Säntis, heute Kanton St. Gallen) wurde in dem brutalen Kriminalfall schnell aktiv und handelte umsichtig. In Windeseile fand sich eine Spur zum auffällig agierenden Mörder Johann Georg Louis, der sofort in gestrenge Untersuchungshaft genommen, der Tat alsbald überführt werden konnte und ein Geständnis ablegte. Der Einheimische wurde später hingerichtet; sein Vermögen wurde der Familie des Mordopfers zugesprochen.

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Johann Balthasar Bullinger: Alt St. Johann und der Säntis im Toggenburg, Ostschweiz, 1770–1775. Zentralbibliothek Zürich, Graphische Sammlung und Fotoarchiv STF XVII, 24. Quelle: Wikimedia commons, gemeinfrei: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Zentralbibliothek_Zürich_-_Alt_St._Johann_im_Toggenburg_-_991026493309705501.jpg?uselang=de

Nachlese

https://www.swissinfo.ch/ger/auf-den-spuren-eines-ueber-200-jaehrigen-mordes/46004582

 

Zum Autor

Dr. phil. Fabian Brändle ist Historiker und Volksschriftsteller; für DAVID hat er zahlreiche Beiträge zur Schweizer jüdischen Geschichte verfasst, vgl. www.davidkultur.at