Weit abseits der Mazzesinsel bildeten sich im 19. Jahrhundert in Wien kleine jüdische Zentren. Eines davon befand sich im heutigen
15. Bezirk, damals ein typischer Arbeiterbezirk.
„Arbeiter – Ein Beruf für Juden?“, fragt das Vorurteil. „Sind Juden nicht Kapitalisten, Diamantenhändler oder Schnorrer?“ Tatsächlich bildete das Wiener Judentum der Franz-Joseph-Ära einen Querschnitt durch die Bevölkerung, neben den Ringstrassen-Baronen gab es viele Einzelhändler, Gastronomen, Gewerbetreibende und Lohnarbeiter, freilich auch Obdachlose und Schnorrer, wie sie aus dem Shtetl bekannt sind. In der Vorstadt wohnte eher das einfache Publikum, ihr Renommee war schon um 1900 gering. Karl Kraus lässt die Schalek im zerstörten Belgrad sagen: „Diese Häuser sind mit den letzten Geschäftshäusern in Fünfhaus zu vergleichen, sie haben deshalb die Bombardierung verdient.“1
Otto Pollak. Foto: Privatsammlung Kinsky, mit freundl. Genehmigung B. Schäffner. Quelle: DAVID 130, Rosch Haschana 5782/Sept. 2021.
Bereits vor dem Bau des ersten Bethauses, des Turnertempels, im Jahr 1870 gab es jüdisches Leben hier, wie der Kiddusch-Becher von 1852 im Jüdischen Museum Wien bezeugt.2 Neben dem Turnertempel gab es die Storchenschul für Juden, denen die orthodoxe Synagoge nicht konvenierte, dann den berühmten Kindergarten (Herklotzgasse 21)3, den Sportverein Maccabi XV und eine koschere Wurstfabrik sowie zahlreiche jüdische Geschäfte.
Die Beraubung der jüdischen Bevölkerung 1938 funktionierte in Wien besonders schnell. Unmittelbar nach dem Anschluss führten die Illegalen „wilde“ Arisierungen durch: man klopfte an die Türen und sprach „Das gehört jetzt mir“, oder so ähnlich. An diesen Raubzügen waren zu etwa einem Drittel Frauen beteiligt. Auf diese Weise wechselten Wohnungen, Geschäfte und Zinshäuser von einem Tag auf den anderen ihre Besitzer. Später schob man vieles auf die „Reichsdeutschen“, doch Florian Wenningers Untersuchung zeigte, dass die meisten Ariseure aus dem Bezirk stammten, andere aus dem restlichen Wien und nur ganz wenige von ausserhalb. Die Juden wurden also von ihren eigenen Nachbarn beraubt, nicht von einmarschierten Nazis.4 Der Anteil der jüdischen Bevölkerung war in Rudolfsheim-Fünfhaus mit 4,5 Prozent oder 5.575 Personen signifikant geringer als der Wiener Durchschnitt von 9,4 Prozent (Volkszählung 1934). Diese Zahlen sind nur bedingt aussagekräftig, weil für die Nationalsozialisten die „Abstammung“ und nicht die religiöse Zugehörigkeit entscheidend war. Von den rund 6.000 Verfolgten wurden etwa 3.780 vertrieben, 1.480 ermordet, 382 sind in Wien vor 1945 verstorben, 90 wählten den Freitod und 156 „Glaubensjuden“ beziehungsweise in „geschützten Mischehen“ befindliche Personen überlebten (Daten nach Wenninger). In einem „armen“ Bezirk war die Todesrate höher und die Ausreisequote niedriger als im Wiener Durchschnitt, die Flucht war teuer und vor allem alte Menschen fürchteten einen Neuanfang. Den 1.480 ermordeten jüdischen Menschen stehen 129 Nichtjuden gegenüber, die Opfer des Naziterrors wurden, die Mehrzahl davon Kommunisten.5
Zur Illustration beleuchte ich einige Einzelschicksale, die sich aus den Dokumenten erschliessen. Leider sind von den Opfern kaum Fotos erhalten geblieben, sodass man den meisten Toten kein Gesicht geben kann, eher den Überlebenden, deren Habseligkeiten die Zeiten überdauert haben.
Ein solches Beispiel ist Otto Pollak, Cafetier, Besitzer des Café-Concert Palmhof und Eigentümer des Hauses Palmgasse 7. Sein Lokal war berühmt für die Musikveranstaltungen mit internationalen Kapellen und thematischen Festen, bis hin zu einer der ersten Misswahlen in Wien. Die Verfolgung begann für die Pollaks schon 1934 mit zwei Bombenanschlägen der illegalen Nazis. Das Café wurde 1938 von einem Kellner arisiert, Otto Pollak, der im Ersten Weltkrieg ein Bein verloren hatte, war durch seine Kriegsauszeichnungen noch geschützt. Die Tochter Helga, später eine berühmte Zeitzeugin, wurde zu Verwandten nach Mähren geschickt, 1940 trafen sich Tochter und Vater im KZ Theresienstadt wieder, später kamen sie gemeinsam in die Hölle von Auschwitz, die beide überlebten. Otto Pollak marschierte 1945 mit seinem Holzbein zu Fuss von Auschwitz nach Fünfhaus.6 Helga Pollak-Kinsky veröffentlichte erst 2014 ihr „Theresienstädter Tagebuch“, eine lesenswerte Erinnerung an die grauenvolle Zeit, wo auch Aufzeichnungen ihres Vaters abgedruckt sind.7 Als Zeitzeugin beeindruckte sie Generationen von Schülern, die ihre Objektivität und ihre Liebenswürdigkeit sehr schätzten.
In der Herklotzgasse 17 gründete Leopold Ehrlich (als Literat verwendete er das Pseudonym Hichler) um 1900 die koschere Selcherei „Tauria“. Geboren am 21. März 1877 in Wien, starb er hier am 7. März 1972. Er konnte sich durch Flucht nach Palästina retten und kehrte als einer der Wenigen nach Wien zurück. Seine ungewöhnliche Karriere begann mit einem Studium an der Universität Wien, das er neben seiner Tätigkeit als Fabrikant mit dem Dr. phil. abschloss. Seit 1927 publizierte er Romane, darunter Heimweh nach Wien (1933) und Ein Wiener in Palästina (1964).8 Sein Erlebnis der Arisierung schrieb er im Roman 1938 nieder, der 1956 erschien.9
Mottoparty „Pirateninsel“, Aquarell. Privatsammlung Kinsky, mit freundl. Geneh-
migung B. Schäffner. Quelle: DAVID 130, Rosch Haschana 5782/Sept. 2021.
Etwa hundert Meter weiter bergauf, in der Clementinengasse 4, wohnte die Familie Hermann, an die ein Stolperstein erinnert. Charlotte und Isak Hersch Hermann wurden am 6. Mai 1942 nach Maly Trostinec deportiert und ermordet, ihrem Sohn Ernst, Jahrgang 1912, gelang 1938 die Flucht nach England und später in die U.S.A. Dieses Schicksal ist bezeichnend – junge Menschen hatten bessere Fluchtmöglichkeiten, während ältere sehr häufig zu Opfern der Shoah wurden. Der Todesort Maly Trostinec findet sich bei Wiener Juden sehr häufig, etwa bei Béla und Kurt Löffler, wohnhaft in der Sechshauserstrasse 29 oder der Familie Dr. Munk, Moritz, Margarethe und ihrer Tochter Lotte, bei der Deportation am 14. September 1942 im 17. Lebensjahr.
Ebenfalls in Maly Trostinec ermordet wurden die Eltern des berühmten Dramatikers Fritz Hochwälder. Er war 1911 in der Westbahnstrasse 3 am Neubau zur Welt gekommen und hatte bei seinem Vater Leonhard König das Tapeziererhandwerk gelernt. Er besuchte 1927 bis 1930 die Berufsschule in der Hütteldorferstrasse10, wo eine Gedenktafel an ihn erinnert. Hochwälder war bekennender Sozialist und Jude, also nach dem Anschluss besonders gefährdet. Er durchquerte als Nichtschwimmer bei Buchs den Rhein und rettete sich so in die Schweiz, wo er meist in Internierung leben musste. Nach dem Krieg startete er seine Schriftstellerkarriere. Seine Eltern wurden am 20. Mai 1942 mit dem Transport DA 202 nach Maly Trostinec deportiert und dort erschossen.11
Siegfried Wollner, geboren am 20.08.1883 in Pohrlitz (Südmähren, tschech. Pohořelice) wohnte in der Reichsapfelgasse 31/12. Er und seine Ehefrau Irma hatten das Zinshaus 1924 gekauft, es hatte eine Wohnfläche von 759 Quadratmetern.12 Wollner führte in der Schwendergasse 37 ein Kolonialwarengeschäft, das ebenso wie das Zinshaus von Maria Niederhafner aus der Mariahilferstrasse 204 arisiert wurde.13 Siegfried Wollners Name findet sich auf der Deportationsliste nach Modliborzyce vom 05.03.1941, neben dem seiner Gattin Irma, geboren am 15.01.1883, sie tragen die Nummern 450 und 451 – Menschen, zu Nummern degradiert. Das dortige Ghetto hatte eine hohe Sterblichkeitsrate und wurde am 8. Oktober 1942 geschlossen, die Insassen kamen in ein Vernichtungslager der „Aktion Reinhard“. Von den 999 nach Modliborzyce Deportierten überlebten nur 13.14
Zu den wenigen Überlebenden zählte der Herrenhut-Vertreter Emil Gottesmann. Er wurde 1903 in Wien geboren und wohnte in der Märzstrasse. 1932 trat er aus der Israelitischen Kultusgemeinde aus und wurde Mitglied des Republikanischen Schutzbundes, später der Revolutionären Sozialisten. Gottesmann arbeitete für die Aktion Gildemeester, die nichtmosaische Juden unterstützte und ihnen zur Auswanderung verhelfen wollte. Diese Zentralstelle für jüdische Auswanderung war bis Ende 1943 tätig, als auch die letzten „privilegierten“ Juden deportiert wurden, Gottesmann kam im November dieses Jahres nach Theresienstadt und dann nach Auschwitz, 1945 wurde er in einem Nebenlager von Dachau befreit und kehrte nach Wien zurück.15
Stempel der Auswanderungshilfsaktion "Gildemeester" in Wien. Foto: Birkho, Yad Vashem https://collections.yadvashem.org/en/documents/3665984. Quelle: Wikimedia commons, gemeinfrei: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Stempel_Gildemeester_Auswanderungshilsaktion_f%C3%BCr_Juden_Wien_1._Kohlmarkt_8.png
Und Widerstand gab es keinen? Die gängige Vorstellung ist ja, dass sich die Juden „zur Schlachtbank“16 führen liessen. Dazu muss man bemerken, dass es nennenswerten Widerstand österreichischer Nichtjuden gegen das Nazi-Regime erst zu einer Zeit gab, in der die Juden bereits fast ausnahmslos deportiert waren – ab 1943, die Moskauer Deklaration mag da eine gewisse Rolle gespielt haben. Andererseits muss man die Tatsache der geringen Anzahl bedenken, meist wurden Einzelpersonen auf der Strasse von Gruppen von Nazis verprügelt, etwa am Eck Herklotzgasse/Gürtel gleich nach dem Anschluss, wie mir Zwi Preminger, der als Bub auf dem Foto mit dem Tretroller abgebildet ist, erzählte.17 Er besuchte in der Herklotzgasse 21 den jüdischen Kindergarten und konnte in die U.S.A. emigrieren. In den Familien wurden die Geschichten über den Widerstand besonders gepflegt und bei Oral-History-Interviews wiedergegeben. Sie dürften einen ähnlichen Stellenwert haben wie die Geschichten der Nazis, die später erzählten, dass sie keine Nazis waren und die Arisierungen gar nicht wollten.
Eine solche Geschichte vom jüdischen Widerstand wurde von Dita Segal erzählt, deren Grossvater seine Wohnung und sein Geschäft heldenhaft verteidigt hatte, was aber nur kurzen Aufschub einbrachte; schliesslich musste die Familie ihre Wohnung verlassen und das Geschäft den Ariseuren übergeben.18 Man war der Willkür der Nazis ausgeliefert, die Androhung von Gewalt oder „Verschickung“ reichte meist für Unterschriften, mit denen man sich den „arischen“ Ausbeutern auslieferte. Versuche von Widerstand verliefen selten erfolgreich und betrafen meist Vermögensübergaben an arische Ehepartner.19 Weiters ausschlaggebend war die Euphorie der Nazi-Sympathisanten, deren Traum von einer besseren Zukunft plötzlich zum Greifen nahe schien – ihr Furor lähmte die Opfer und liess als einzige Option die Auswanderung gelten. Leopold Ehrlich veranschaulicht dies in seinem Buch 1938. Ein Wiener Roman, indem er sein Alter Ego Gustav Mautner nach einer Tirade von Beschimpfungen und Drohungen zum Nazi-Kommissär sagen lässt: „Ich … ich unterschreib.“20 Ehrlich war einer der wenigen Vertriebenen, die zurückkehrten, den meisten war die Hölle von 1938 zu viel und sie wollten – verständlicherweise – nicht mehr in Wien leben.
Heute gibt es leider keine Statistiken über die religiösen Bekenntnisse mehr (Es lebe der Datenschutz!), doch gibt es kaum mehr Juden im 15. Bezirk, zumindest keine, die als solche erkenntlich sind (siehe den alten Witz in der deutschen und der chinesischen Version!). Statistisch ist Rudolfsheim-Fünfhaus der Bezirk mit dem höchsten Ausländeranteil, dem geringsten Wähleranteil (rund 60 Prozent), der höchsten Arbeitslosenquote (rund 14 Prozent), dem geringsten Nettoeinkommen und einer sehr hohen Umzugsquote, was auf eine geringe Wohnzufriedenheit schliessen lässt.21 Durch die Vertreibung und Vernichtung einer Bevölkerungsgruppe ist die Gegend nicht besser geworden – eine weitere Möglichkeit, aus der Geschichte lernen zu können, die nicht verpasst werden sollte.
Foto: M. Bittner, mit freundlicher Genehmigung.
Anmerkungen
1 Karl Kraus, Die Letzten Tage der Menschheit, Akt II, Szene 19.
2 https://www.jmw.at/news/unterwegs_in_unserer_stadt__rudolfsheim-fuenfhaus abgerufen 20.11.2024
3 „Das Dreieck meiner Kindheit“ war 2008 das wegweisende Projekt zur Erforschung der jüdischen Gemeinde in Fünfhaus https://hkg21.arbeitplus.at/aktivitaeten/publikation/ abgerufen 01.01.2025
4 Florian Wenninger, Nachbarliche Raubzüge, Wien 2008, Typoskript s.n.
5 Manfred Mugrauer, Widerstand und Verfolgung in Rudolfsheim-Fünfhaus 1938 – 1945
(Wien 2024) S. 16f
6 https://hkg21.arbeitplus.at/audioguide/mariahilferstrasse-cafe-palmhof/ abgerufen 21.11.2024
7 Helga Pollak-Kinsky: Mein Theresienstädter Tagebuch und Aufzeichnungen meines Vaters Otto Pollak, hrsg. Hannelore Brenner, Edition Room 28 Berlin 2014
8 https://www.digital.wienbibliothek.at/wbrobv/content/titleinfo/2933469 abgerufen 21.11.2024
9 https://www.booklooker.de/B%C3%BCcher/Angebote/autor=Hichler-Ehrlich+Leopold+ abgerufen 10.01.2025
10 https://www.w24.at/News/2021/10/Gedenktafel-fuer-Fritz-Hochwaelder abgerufen 16.12.2024
11 https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Fritz_Hochw%C3%A4lder abgerufen 16.12.2024
12 Salzberg, Johann Wolfgang: Häuser-Kataster der Bundeshauptstadt Wien, Wien 1928, S. 343
13 Wenninger, Florian: Nachbarliche Raubzüge, Typoskript Oktober 2008, Anhang II, o.S. VEAV Akt MBA 15 Z 213/46 Grundbuch
14 https://www.doew.at/erinnern/fotos-und-dokumente/1938-1945/nachrichten-aus-dem-ghetto/modliborzyce abgerufen 20.11.2024
15 https://www.doew.at/erinnern/biographien/erzaehlte-geschichte/ns-judenverfolgung-ausgrenzung-entrechtung/emil-gottesmann-aktion-gildemeester abgerufen 20.12.2024
16 Der Satz „Nicht wie die Schafe zur Schlachtbank gehen“ stammt von Abba Kovner und wurde im Ghetto von Wilna am 1. Jänner 1942 verlesen. https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/politik/nicht-zur-schlachtbank-gehen-11029902.html abgerufen 01.01.2025
17 Kofler,Michael; Pühringer, Judith; Traska, Georg (Hg.): Das Dreieck meiner Kindheit. Eine jüdische Vorstadtgemeinde in Wien(Wien 2008) S. 12.
18 Kofler et al., S. 131 f.
19 Kofler et al, S. 168
20 Ehrlich-Hichler, Leopold: 1938. Ein Wiener Roman (Wien 1956), S. 122
21 https://www.wien.gv.at/statistik/bezirke/rudolfsheim-fuenfhaus.html abgerufen 01.01.2025