Ausgabe

Ein sinnerfülltes Leben Harry Bibring s.A. zum hundertsten Geburtstag

Michael Bittner

Harry Bibring war ein Phänomen, auf vielerlei Weise. Er wurde in Wien geboren, seine Eltern führten ein Kleidergeschäft in der Mariahilferstrasse 172. Seine Kindheit verbrachte er im sechsten Bezirk, Mariahilferstrasse 105 und besuchte das nahegelegene Amerling-Gymnasium. Dieser Schule blieb er bis zum Schluss ein treuer Besucher und Zeitzeuge, sein Sohn Michael setzt die Tradition bis heute fort.

Inhalt

Im Sommer 2011, ein heisser Tag, ich gehe durch die Stadt und treffe plötzlich einen älteren Herrn, der durch die Dorotheergasse läuft, hinter ihm ein Pulk von abgekämpften, keuchenden Jugendlichen. „Herr Bibring“ rufe ich, „was machen Sie denn da?“ „Ich muss denen ja Wien zeigen, wir treffen uns abends auf einen Kaffee!“ Der ältere Herr war damals sechsundachtzig Jahre alt und machte einen jugendlichen, dynamischen Eindruck, auch im Vergleich mit seinen jungen Gefolgsleuten, die Teilnehmer der 13. Makkabiade waren.

 

Harry Bibring kam am 26. Dezember 1925 in Wien als zweites Kind von Lea Esther und Michael Bibring zur Welt. Die Normalität des bürgerlichen Familienlebens änderte sich schlagartig mit dem „Anschluss“, das Geschäft wurde arisiert, Vater und Grossvater verhaftet, der Schulbesuch unmöglich, die Familie mit fünfzig weiteren jüdischen Frauen und Kindern in eine  Sammelwohnung gepfercht. Daraufhin wurden Auswanderungspläne gewälzt, Shanghai war das Wunschziel, da dort keine Visa nötig waren, doch sie scheiterten. Das Erlebnis der Pogromnacht im November 1938 veranlasste die Eltern, ihre Kinder in Sicherheit zu bringen. Die Rettung für Harry und seine ältere Schwester Gerta kam durch den Kindertransport, den die britische Regierung organisiert hatte.

 

Harry hatte Glück, kam zu einer Familie, die sich um seine Ausbildung kümmerte. Von seinen Eltern hörte er nicht mehr viel, Nachrichten kamen via den Dienst des Roten Kreuzes sehr spärlich und langsam, sein Vater starb 1940 im Alter von neunundvierzig Jahren an einem Herzinfarkt, als er verhaftet werden sollte. Später kamen keine Nachrichten mehr, die Mutter wurde am 14. Juni 1942 nach Sobibor deportiert und dort ermordet. Harry hatte seine Eltern nicht mehr gesehen, eine Tatsache, die ihn noch im hohen Alter immer wieder beschäftigte.

 

Der 14-jährige Harry nahm sein Leben in die eigene Hand, lernte einen technischen Beruf, machte eine Ingenieursausbildung und heiratete 1947 Muriel, acht Jahre später kam ihr Sohn Michael auf die Welt. Zwanzig Jahre Arbeit in der Industrie folgten, dann ein Lehrauftrag an der Universität von Middlesex.  Neben seiner Ingenieurslaufbahn war er in der Organisation für an Multipler Sklerose erkrankte Juden karitativ tätig sowie in der jüdischen Gemeindearbeit. Die liebste Freizeitbeschäftigung der Bibrings war das Reisen, sie liebten Kreuzfahrten, fuhren aber auch gerne zum Schilaufen nach Österreich.

 

Nach seiner Pensionierung nahm sich Harry vor, der Jugend seine Geschichte zu erzählen und in der Holocaust-Aufklärung zu arbeiten. Unermüdlich besuchte er Schulen, trat in den Medien auf, wo er als Superstar gefeiert wurde – und er kam immer wieder nach Wien, er war der perfekte Zeitzeuge. Er zog durch seine Energie und seinen Humor die Schüler in seinen Bann, belegte seine Aussagen mit Originaldokumenten und wenn er ging, waren alle überzeugt, dass Antisemitismus ein Verbrechen ist. Noch einen Tag vor seinem Tod sprach er vor Schülern in Irland über seine Flucht und die Tragödie seiner Familie. Karen Pollock vom Holocaust Educational Trust schrieb über ihn, er sei für sie „half saint, half rock star“ gewesen. In der Tat, so war er!

 

Bibrings rastlose Tätigkeit hielt ihn frisch und jugendlich, er war ein unglaubliches Energiebündel, und seine Familie schwärmt heute noch über seine tollen Einfälle und seine unglaublichen Aktionen. Diese reichten vom Baumklettern mit vierundzeunzig Jahren über das Tanzen auf dem Tisch bei Familienfeiern und dem Verteilen von „Bibcoins“ an die Gewinner seines Quiz. Reisepass vergessen? Kein Problem, Opa bringt ihn nach und lässt dafür Liza Minelli beim Dinner warten. In England wurde seine Meinung von Royals und Politikern geschätzt, in seinem vorletzten Lebensjahr bekam er im Buckingham Palast die Medaille des British Empire verliehen. Darauf war er besonders stolz, er schrieb an alle Bekannten Emails, um seiner Freude Ausdruck zu verleihen. Es war ein erfülltes, tatenreiches Leben. Harry hat viele Menschen beeindruckt und bereichert und dabei so viele Mitzvot gesammelt, dass man sie gar nicht zählen kann. Wenn einer sich durch gute Taten das ewige Leben verdient hat, dann er. Danke, Harry!

 

PS: Beim nächsten Spaziergang über die Mariahilferstrasse beachten Sie bitte die Stolpersteine für die Familie Bibring beim Haus Nummer 105.

 

Ich danke Herrn Michael Bibring herzlich für die Überlassung des Bildmaterials und für die vielen Informationen über das Leben seines Vaters.

 

{8 Abbildungen:} Alle Abbildungen: Mit freundlicher Genehmigung M. Bibring.

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Familie Bibring, 1926.

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Reisedokument vom Kindertransport.

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Brief von Esther Bibring an ihre Kinder.

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Das Kleidergeschäft Bibring.

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Muriel, Harry und Michael Bibring.

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Harry Bibring im Fernsehen.

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Drei Generationen Bibrings, 2018. Harry trägt das Schild vom Kindertransport.

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Stolperstein für die Familie Bibring.