Auf Vancouver Island, British Columbia, Canada wurde eine Ausstellung über die musikethnologische Dokumentationsarbeit der Exil-Wienerin Dr. Ida Halpern und der Häuptlinge Billy Assu und Mungo Martin gezeigt.
Keeping the Song Alive
Auf Vancouver Island, British Columbia, Canada wurde eine Ausstellung über die musikethnologische Dokumentationsarbeit der Exil-Wienerin Dr. Ida Halpern und der Häuptlinge Billy Assu und Mungo Martin gezeigt.
Eigentlich ist es recht unwahrscheinlich, dass man hier, am anderen Ende der Welt, 9.000 Kilometer von Österreich entfernt, auf Spuren von Exilösterreicher:innen stösst. Cormorant Island ist eine verschlafene Insel im Norden von Vancouver Island, auf der Inlet-Seite gelegen, eine Dreiviertelstunde Fährenüberfahrt von Port McNeill entfernt. Das Jahr über leben hier rund 500 Menschen, mindestens die Hälfte gehört dem indigenen Stamm der Namgis, die wiederum Teil der Kwakwa̱ka̱ʼwakw sind, an.
Yalis, wie die Insel früher hiess, hat als erster Handelsstützpunkt zwischen Indigenen und britischen Seefahrern im nördlichen Vancouver Island eine bewegte Geschichte. Während des Fischereibooms und als wichtiger Hafen für Holz erlebte die kleine Insel nach dem Zweiten Weltkrieg eine Hochphase als wirtschaftliches Nachschub- und Unterhaltungszentrum der gesamten Region. Mittlerweile ist der einzige Ort auf der Insel, Alert Bay, aber eine ruhige Gemeinde fernab der Touristenströme, die Vancouver Island im Sommer heimsuchen – mit Ausnahme weniger Kreuzfahrtschiffe aus Alaska kommend, die hier für einen kurzen Landgang auf überwiegend Reservats-Territorium anlegen oder eine Wale-Watching-Tour buchen.
Die Hauptattraktion im Ort ist das U‘mista-Kulturzentrum der Kwakwa̱ka̱ʼwakw für Kulturgegenstände, die diesen in Zeiten der Verfolgung durch kanadische Behörden gestohlen wurden. Diese Totems, Masken, Insignien, Schmuck, Alltagsgegenstände kehren wieder zurück nach Alert Bay. Aus der ganzen Welt retournieren Museen die gestohlenen Schätze der Namgis und ihrer benachbarten Stämme. U‘mista bedeutet so viel wie „die Rückkehr entwendeter Kultgegenstände“.
Keeping the Song Alive: Ida Halpern (Mitte) mit Häuptling Billy Assu und seiner Frau. Abbildung aus der besprochenen Ausstellung, mit freundlicher Genehmigung: M. Franz.
Das U‘mista-Kulturzentrum widmet sich dem Überleben der Kultur der Kwakwa̱ka̱ʼwakw als Museum: mit der Dokumentation und Erforschung jeglichen kulturellen Erbes der Kwakwa̱ka̱ʼwakw, in Form von Ausstellungen, Buchprojekten, Filmen, Vorträgen, Workshops und Erzähl-Veranstaltungen. Es ist eine aktive Form des Erinnerns, die inmitten von Ritualen, Protokollen und Normen ihrer traditionellen Gemeinde, die auch auf Geheimhaltung und Schutz ihres kulturellen Erbes bedacht ist, Präsenz, Anerkennung und neue Erkenntnisse generiert.
Geheime Gesänge
Es ist eine geheime Gesellschaft der Indigenen, die viel Verlust und Diebstahl über die Jahrhunderte erlitten hat. Umso mehr verwundert, wie es der Wiener Exil-Musikethnologin Dr. Ida Halpern (1910–1987) gelingen konnte, viele Gesänge, die als geheim und persönliches Eigentum galten, zu dokumentieren – vor allem zu einer Zeit, in der es noch verboten war, diese überhaupt zu singen. Die kanadische Regierung hatte den Indigenen im Jahr 1885 untersagt, die wichtigen Zusammenkünfte der „Potlatch“, die unter anderem Gesetzescharakter hatten wie die Namensgebung von Kindern, Trauungszeremonien, Übertragung von Rechten und Privilegien oder das Trauern um Verstorbene, durchzuführen.
Bis 1951 fanden diese Zusammenkünfte im Untergrund, bei schlechtem Wetter und in unwegsamen Gebieten statt, damit die „Indian agents“, kanadische Beamte zur Kontrolle der indigenen Bevölkerung, sie nicht aufspüren konnten, was leider nicht immer gelang. Menschen wurden verhaftet und all ihrer kulturellen Schätze (Masken, Schmuck, Kultgegenstände) beraubt, wenn sie entdeckt wurden. Vielleicht war es die Überlegung der Häuptlinge, ihre Lieder mithilfe der Aufnahmen durch Ida Halpern zu erhalten, um sie späteren Generationen zurückgeben zu können.
Denn ihre eigenen Kinder waren bis in den 1970er Jahren in sogenannten Residential Schools zwangsweise untergebracht worden. In Alert Bay hat das Gebäude der St. Michael‘s Residential School bis zum Abriss den Ort überragt; ein unheimlich wirkendes, kaltes, grosses Gebäude, das schon architektonisch Furcht einflösste. Die Kinder wurden von ihren Eltern zwangsweise getrennt. In diesen internatsartigen Schulen, die meist von kirchlichen Organisationen geführt wurden, durften sie weder ihre Sprache noch ihre Kultur verwenden, wurden ihrer Identität beraubt und waren körperlichem, seelischem, emotionalem und geistigem Missbrauch ausgesetzt, bei gleichzeitiger Generierung kultureller und persönlicher Minderwertigkeitsgefühle gegenüber der kanadischen Herrschaftskultur. Vielleicht war es diese Unterdrückung auf persönlicher, wie gesellschaftlicher Ebene, die die visionären Häuptlinge dazu veranlasste, die Lieder, die ein wichtiger Kulturgegenstand bei Zeremonien und Ritualen sind, einer Exil-Österreicherin anzuvertrauen.
Ida Halpern
Ida Halpern hatte sich jahrelang das Vertrauen der Häuptlinge erarbeitet. Ein Zeitzeuge erinnert sich, dass sie fünf Jahre lang mit den Frauen des Stammes in der Küche Erbsen geschält hatte, bevor sie eingeladen wurde, Lieder aufzunehmen. Im Jahr 1947 war es so weit. Sie flog mit ihrem mehr als zwanzig Kilo schweren Meissner-Phono-Platten-Schneidegerät mit einem Wasserflugzeug auf die Insel Quadra, um zehn Tage im Reservat Camp Mudge die Gesänge von Häuptling Billy Assu zu dokumentieren. Dieses „tragbare“ Aufnahmegerät eröffnete die Ausstellung Keeping the Song Alive im U‘mista-Kulturzentrum auf Alert Bay prominent. Später verwendete Halpern Tonbänder und Kassetten zur Dokumentation.
Häuptling Billy Assu beklagte das Desinteresse der jungen Generation an seinem vokalen Kulturgut. So entschied er sich für die Dokumentation mit technischen Hilfsmitteln und dem musikethnologischen Wissen von Ida Halpern. Die Forscherin hatte schon in Wien während ihres Studiums die Arbeiten des deutsch-amerikanischen Anthropologen Franz Boas (1858–1942) studiert, der Songs of the Kwakiutl Indians (der Kwakwa̱ka̱ʼwakw) bereits 1896 im Internationalen Archiv der Ethnographie veröffentlicht hatte und vor allem durch seinen Kulturrelativismus (jede Kultur sei nur aus sich heraus zu verstehen) Rassismus in der Wissenschaft und im Alltag die Stirn geboten hatte. Halpern selbst war Verfolgte, Flüchtling vor dem Nationalsozialismus, die über Shanghai nach Kanada gekommen war. Ihr Assistent David Gordon Duke erinnert sich:
„Dr. Halpern had genuine love and genuine respect for the First Nations people. She was honoring them and there was an allyship there. I think Ida Halpern had a righteous indignation at the way the First Nations people were treated by the establishment. She certainly knew the value of this music from earlier studies of Boas. Before she ever set foot on the West Coast, she believed that this was one of the great world cultures, which is why the UNESCO recognition is so wonderful.“
(„Dr. Halpern hegte echte Liebe und echten Respekt für das Volk der First Nations. Sie ehrte sie und war dort eine Verbündete. Ich denke, Ida Halpern war zu Recht empört über die Art und Weise, wie das Volk der First Nations vom Establishment behandelt wurde. Sie kannte den Wert dieser Musik sicherlich aus früheren Studien über Boas. Bevor sie jemals einen Fuss an die Westküste setzte, glaubte sie, dass dies eine der grossen Weltkulturen sei, weshalb die UNESCO-Anerkennung so wunderbar ist.“)
Seit 2018 sind Halperns’ über 500 Aufnahmen, Transkriptionen und handschriftliche Notizen umfassende Sammlung Teil des UNESCO Canada Memory of World Register. Ihre Freundschaft mit Häuptling Mungo Martin ermöglichte Halpern die Aufzeichnung weiterer hundert Gesänge von diesem ausgezeichneten Sänger, der landesweit Berühmtheit als Schnitzer von Totems erreichte. Aber es war mehr als Halperns Dokumentationsarbeit in Ton und Schrift, sie publizierte auch über die Komplexität der indigenen Musik, verwarf die vorherrschende Theorie der sinnlosen Füllwörter in deren Gesängen und verglich die indigene Musik mit der von Schubert und Bach.
Selbst in der klassischen europäischen Musik verankert, war sie Gründungsmitglied verschiedenster Organisationen in Vancouver und unterrichtete neben Klavier im Privatunterricht auch „Music Appreciation“ (Wertschätzung von Musik) an der University of British Columbia. Ihre Forschungen zur indigenen Musik finanzierte sie selbst beziehungsweise durch die Unterstützung ihres Ehemannes, eines promovierten Chemikers aus Wien, mit dem zusammen sie emigriert war.
Der weitere Teil der Ausstellung in Alert Bay, die von der Bill Reid Gallery of Northwest Coast Art und The Jewish Museum & Archives of BC kuratiert und zusammengestellt wurde, widmet sich der Bedeutung von Gesängen im Allgemeinen für die Kultur der Kwakwa̱ka̱ʼwakw und anderer Stämme sowie dieser von Halpern dokumentierten Gesänge für heute.
„There is value in those recordings ... just to hear the old people talk and sing. Just that alone. To have a touch of the past, and a link to the old, old, old ways. That´s really important.“
(„Diese Aufnahmen haben einen Wert ... nur um die alten Leute reden und singen zu hören. Nur das allein. Um einen Hauch von Vergangenheit und eine Verbindung zu den alten, alten, alten Gewohnheiten zu haben. Das ist wirklich wichtig.“), betont der Namgis-Schnitzer und Tänzer Wayne Alfred aus Alert Bay 2022.
Schon 1993 wurde in Vancouver die Urban Dance Group gegründet, die den in der Grossstadt lebenden Stammesangehörigen mit traditionellen Gesängen und Tänzen inmitten der urbanen Anonymität Identität und Rückhalt bietet. Die aufgezeichneten Lieder, manche geheim und im Privatbesitz von Familien, andere aber auch frei zugänglich wie manche der von Ida Halpern dokumentierten und auf vier Doppel-Langspielplatten gepressten, gehen zurück in die Stämme und werden wieder zu deren Kulturgut.
Aber Dr. Ida Halpern und ihre Aufnahmen tauchen auch im zeitgenössischen Werk von Sonny Assu, dem Ururenkel von Häuptling Billy Assu auf, der sich mit der Verbannung der Potlatchs und dem Indian Act, der systemimmanenten und gesetzlichen Diskriminierung der indigenen Bevölkerung, künstlerisch auseinandersetzt. Am Digitaldruck Banned under the Indian Act, Performed for Preservation aus dem Jahr 2022, das einem Musikposter der 1960er Jahre nachempfunden ist, taucht DJ Ida für „Billy and the Chiefs“ auf. In einem Kunstprojekt aus dem Jahr 2012, Ellipsis (dt. Ellipse: Auslassung von Satzgliedern, Redeteilen), nimmt Assu direkt Bezug auf die Sammlung von Ida Halpern, indem er 136 Kupferschallplatten jenen von Halpern aus The Indian Music of the Pacific Northwest für jedes Jahr seit dem Inkrafttreten des Indian Act aus dem Jahr 1876 nachempfindet.
Assus Werk wirft einen herrschaftskritischen Blick auf Ida Halperns Dokumentationsarbeit und auf die kolonialen Umstände ihres Zustandekommens. „I present the data as I got it from the chiefs“, wäre wohl Halperns Antwort auch darauf gewesen.
Nachlese
https://de.wikipedia.org/wiki/Ida_Halpern
https://www.royalbcmuseum.bc.ca/archives/what-we-have/indigenous-material/ida-halpern-collection
Mit einem Online-Interview von Dr. Ida Halpern aus dem Jahr 1967
Zur Autorin
PDin Dr.in Margit Franz, CLIO Graz, lebt in der Oststeiermark und in Westkanada.