Helmuth Eiwen
Elazar Benyoëtz: Brüderlichkeit. Das älteste Spiel mit dem Feuer
Würzburg: Königshausen & Neumann Verlag 2024.
240 Seiten, erweiterte, überarbeitete Ausgabe, Euro 18,00.-
ISBN: 978-3-8260-8804-9
ISBN-10: 3826088034
ISBN-13: 978-3826088032
Das Buch Brüderlichkeit von Elazar Benyoëtz stellt sich als ein grossartiger Entwurf heraus, um mit dem Mittel der Sprache und der Ausdrucksform des Aphorismus dem Thema „Brüderlichkeit“ in seiner Vielschichtigkeit und Tiefe nahe zu kommen. Als hervorragender Bibelkenner ist der Autor von seinem rabbinischen Hintergrund her prädestiniert, anhand des ältesten biblischen Brüderpaares die Facetten und Nuancen dieser Beziehung dem Leser pointiert vor Augen zu führen und ihn zum Nachdenken zu zwingen, bis es im Heute des Lebens angekommen ist. Dabei geht es nicht nur um die zwischenmenschliche Ebene, sondern vor allem um das Sein vor G'tt, wodurch das Thema Brüderlichkeit auf eine besondere Verantwortungsebene gehoben wird. Als Theologe betrachte und beschreibe ich dieses Buch aus dieser Perspektive und überlasse es den Literaten, die literarische Grossartigkeit dieses Kunstwerkes entsprechend zu würdigen.
Es ist das WORT, das am Anfang steht, das Wort, das aus dem Munde G'ttes ausgeht,
Wirklichkeit schafft, Verantwortung hervorruft und zur Verantwortung zieht. Es ist das Wort, mit dem der Mensch G'tt gegenüber oder auch G'tt entgegentritt. Elazar Benyoëtz schreibt:
„Das biblische Drama beginnt mit zwei Fragen, die uns nie mehr zur Ruhe kommen lassen sollten.“ (S.43)
Die eine Frage stellt G’tt dem Adam, nachdem er von der verbotenen Frucht gegessen und sich im Garten versteckt hatte: „Adam, wo bist Du?“ (1.Mose 3,9) Die zweite Frage ist die Antwort Kains an G’tt, nachdem er seinen Bruder Abel erschlagen hatte: „Soll ich meines Bruders Hüter sein?“ (1. Mose 4,9) Aus diesen beiden Fragen, vor die wir uns bis heute gestellt sehen, erschliesst sich dem Autor die Sinnhaftigkeit der Frage nach der Brüderlichkeit. Dabei geht es immer um Verantwortung:
„Brüderlichkeit bedeutet nach der hebräischen Bibel höchste Verantwortung für den anderen.“ (S.48)
Wird diese Verantwortung nicht wahrgenommen, gewinnen andere Haltungen die Oberhand, die sogar zum Totschlag führen können. War es bei Kain Neid oder Eifersucht, die seine Tat auslöste? Elazar Benyoëtz schreibt:
„Weit und breit taucht kein Grund zum Neid auf und beider Herzen schienen gegen Missgunst gefeit. Mag ein Herz auch noch so neiddicht sein, gegen Eifersucht ist auch das nobelste nicht abgesichert.“ (S.49)
Es war das Versagen Kains, das G’tt zu seinem ersten Wort, seiner „grossen Lehre vom Versagen“ veranlasste, eine Lehre, „die von Anfang der Zeiten bis ans Ende der Tage vornehmlich und gültig bleibt.“ (S.61) – ausgedrückt in den Worten G’ttes: „Vor der Tür lauert die Sünde, und nach Dir ist ihr Verlangen, doch Du kannst ihr Herr werden.“ (1. Mose 4,7)
Auf der Negativfolie von Kains Verantwortungslosigkeit seinem Bruder gegenüber wird Brüderlichkeit erst so richtig sichtbar:
„Erst mit Kains ´bin ich denn´ trat Brüderlichkeit in die Bibel ein.“ (S.71)
Unter der Überschrift „die Morgenröte der Nation“ geht der Autor auf das Thema Israel ein. Judenhass und Antisemitismus sind nicht identisch, sondern unterscheiden sich grundlegend:
„Judenhass betrifft die Juden und deren Lebenswandel, Antisemitismus meint die Welt, die eigene, in der es für Juden keinen Raum gibt.“ (S.87)
Selbst im Christentum, das ja im Judentum verwurzelt ist, hat eine religiöse Entkoppelung stattgefunden, wie sie vielfach an der Sichtweise der Person Jesu gegenüber erkennbar wurde:
„Solange es Jesus im Bewusstsein des Abendlandes gibt, ist der Jude kein Fremder. Wahr ist aber auch, dass Jesus selbst als Fremdkörper empfunden und nur als Sohn G’ttes willkommen geheissen wird.“ (S.98)
Die Identifikation Jesu mit dem jüdischen Volk ist ebenso entscheidend wie die Identifikation G’ttes mit dem jüdischen Volk. Die vollkommene Auslöschung des jüdischen Volkes würde nicht nur das Ende seiner Geschichte darstellen, sondern auch das Auslöschen der Erinnerung an den G’tt Israels nach sich ziehen, der sich ja in einmaliger und nicht auswechselbarer Weise mit Israel verbunden hat. Darum ist Judenhass immer auch G’tteshass und der Versuch, die Juden auszurotten, ist zugleich der Versuch, G’tt loszuwerden. Elazar Benyoëtz schreibt:
„Denk, wären wir Juden alle verbrannt worden, es wäre mit uns auch die älteste Erinnerung an G’tt gelöscht.“ (S.102)
Im letzten Abschnitt seines Buches mit dem Titel „Das älteste Spiel mit dem Feuer Oder: Credo“ (S.163) versucht der Autor in tiefgründiger Weise dem Zusammenhang von Denken, Glaube und Zweifel auf die Spur zu kommen. Dieses Suchen, Fragen, Definieren korrespondiert mit einer G’ttesvorstellung, bei der G’tt selbst in verhüllter Gegenwart des Menschen harrt, der nach ihm fragt, ihn sucht und an ihn glauben möchte. Doch der Glaube steht in starkem Wettstreit mit dem Denken und dem Zweifel, sodass er sich bewähren muss, um zu finden, was er sucht:
„Der Glaube führt zu G’tt, verbürgt aber nicht die Ankunft. Im beharrlichen Glauben des Menschen harrt G’tt seiner.“ (S.169)
Der Autor sieht im Zweifel den ständigen Wegbegleiter des Glaubens, wobei der Zweifel sich zugleich als Freund und ebenso als Feind des Glaubens erweist. Er ist wie „der Geist, der über den Glauben kommt“ (S.170), er „schliesst das Tor, das der Glaube aufgestossen hatte“ (S.171), doch andererseits „in Zweifel gezogen, dehnt sich der Glaube aus.“ (S.170) Entscheidend ist die Ernsthaftigkeit, mit der der Mensch G’tt sucht und wie sehr er bereit ist, die Konsequenzen zu tragen, wenn G’tt sich finden lässt. Der Autor schreibt über die Suche nach G’tt:
„Wie willst du G’tt finden, wenn er bei dir nichts zu suchen hat. Du kannst nicht G’tt suchen
und Ruhe finden. Ist G’tt mit Dir, bist du nicht mehr der Entscheidende.“ (S.172)
Dabei spielt das Gebet eine entscheidende Rolle, da sich der Mensch darin in die richtige Position zu G’tt bringt:
„Im Gebet stehen wir nicht vor G’tt, sondern stellen uns ihm“ (S.188)
So ist das Beten nicht einfach ein Ausdruck unserer Seele, bei dem wir aber letztlich ganz bei uns selbst bleiben. Es ist nicht eine Art Selbstgespräch, in dem man seine inneren Gedanken, seine innere Stimme verbalisiert und artikuliert, um das seelische Gleichgewicht aufrecht zu erhalten. Das Gebet ist auf ein Du ausgerichtet, das an uns interessiert ist:
„G’tt hängt an unseren Lippen, wenn wir beten“ (S.190)
So kommt der Autor zu seinem grundlegenden Credo:
„Dass Er mit mir etwas vorhat, ist meine ganze Zukunftsperspektive“ (S.189)
Der Atheismus jedoch, als „Erbitterung gegen den nicht Existierenden“ (S.196) hat diese Zukunftsperspektive nicht. Seinem Vertreter schreibt der Autor am Ende seines Buches:
„G’tt ist tot, sagtest du, dir also gestorben, ich kondoliere!“ (S.208)
Aus theologischer Sicht beinhaltet das Buch einen reichhaltigen Schatz an Gedanken und Überlegungen, die gerade auch durch das Stilmittel des Aphorismus eine besondere Herausforderung zum eigenen Nachdenken und Eintauchen in die Welt des Glaubens darstellen. Bei allen oftmals verhüllenden Gedankengängen, die in die Tiefe gehen und deshalb zum „Graben“ anregen, bleibt für mich das oben angeführte Credo (S.189) von Elazar Benyoëtz die den Leser anregende Lebensperspektive, die das Buch so lesenswert macht.
Zum Autor
Mag. Helmuth Eiwen war 15 Jahre Pfarrer in einer evangelischen Pfarrgemeinde, bevor er 1990 zusammen mit seiner Frau eine freikirchliche Gemeinde in Wiener Neustadt gründete. Ein wichtiger Schwerpunkt seines Dienstes ist das Thema Israel, besonders die Aufarbeitung der vielfachen Schuld der Christenheit an den Juden.
Im Jahr 2005 gründete Helmuth Eiwen zusammen mit anderen Freikirchen einen neuen Gemeindebund, in dem die theologische Bedeutung Israels als Wurzel der Christenheit einen besonderen Schwerpunkt darstellt.