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Die Idee, die hinter Esperanto steckt

Heinz-Paul Kovacic

Inhalt

Der Schöpfer der Internationalen Sprache Esperanto, Dr. Ludwik Lazarus Zamenhof, wurde am 15. Dezember 1859 in Bialystok geboren (heute Polen, nahe der Grenze zu Weissrussland, damals Teil des Russischen Reiches, historisch Litauen), als ältestes von acht Kindern. Sein Vater war Sprachlehrer (Deutsch, Französisch), er selbst lernte neun Sprachen: Russisch, Polnisch, Jiddisch, Hebräisch; in der Schule Deutsch, Französisch, Latein, Griechisch und Englisch. 1873 übersiedelte Zamenhof nach Warschau; 1879 bis 1881 studierte er in Moskau Medizin. Von 1882 bis 1887 arbeitete er für „Ĥibat Cion“ (Gründung einer zionistischen Studentenvereinigung in Warschau). 1885 erfolgte der Studienabschluss in Warschau; in Wien spezialisierte er sich 1886 auf Augenheilkunde. Am 26. Juli 1887 erschien das „Unua Libro“, das „erste Buch“ über Esperanto. 1905 fand der Erste Esperanto-Kongress in Boulogne-sur-Mer mit einer Eröffnungsrede Zamenhofs statt. Am 14. April 1917 verstarb Zamenhof in Warschau. Sein Sohn Adam wurde 1940 von der Gestapo erschossen, seine Töchter Sofia und Lidia wurden im Lager Treblinka ermordet. Nur seine Schwiegertochter Wanda, die Frau Adams, und deren Sohn konnten den Krieg beziehungsweise die Shoah überleben.

 

L. L. Zamenhof, wie er sich selbst nannte (von Ludwik Lazarus, ursprünglich eigentlich „Lejzer“) war zutiefst geprägt von seinem Elternhaus und von dem jüdischen Umfeld, in dem er aufwuchs. Seine Mutter war sehr religiös, sein Vater eher ein Freidenker, der jedoch sein Judentum nicht verleugnete und als Zeichen seiner Zugehörigkeit die wesentlichsten jüdischen Riten und Gebräuche mit vollzog. Er war ein Anhänger der jüdischen Aufklärung (hebr. Haskala), die vor allem unter den litauischen Juden verbreitet war. Auch Dr. L. L. Zamenhof hat – wenn er danach gefragt wurde – seine Zugehörigkeit zum Judentum nie verleugnet. „Ich bin Jude und wurde in Litauen geboren“, schrieb er 1912 an das Organisationskomitee des Esperanto-Weltkongresses in Krakau. Zur Zeit Zamenhofs gab es in Russland immer wieder grauenhafte Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung. Zamenhof war durchdrungen von der Idee, einerseits sein jüdisches Volk vor Verfolgungen zu schützen, andererseits aber die gesamte Menschheit zu einer Familie zu vereinigen – zwei Ziele, die voneinander nicht zu trennen sind.

 

 

In einem Brief an den französischen Juristen Michaux schreibt Zamenhof im Jahr 1905:

„Wäre ich nicht ein Jude des Gettos gewesen, der Gedanke, die Menschheit zu einigen, hätte meinen Geist entweder nie berührt oder er hätte mich nicht mein ganzes Leben hindurch so hartnäckig verfolgt. Niemand kann das Unheil der menschlichen Spaltung so empfinden wie ein Jude des Gettos. Niemand kann die Notwendigkeit einer menschlich neutralen, anationalen Sprache so stark empfinden wie ein Jude, der gezwungen ist, zu Gott zu beten in einer seit langem toten Sprache, der seine Erziehung und Unterweisung erhält in der Sprache eines Volkes, das ihn ablehnt, und der Leidensgenossen hat auf der ganzen Welt, mit denen er sich nicht verständigen kann. Ich habe jetzt weder die Zeit, noch die Geduld, Ihnen im Einzelnen die Lage der russischen Juden und den Einfluss dieser Situation auf mein ganzes Streben und Kämpfen zu erklären. Ich sage Ihnen nur einfach, dass mein Judentum der Hauptgrund war, weshalb ich mich seit meiner frühesten Kindheit einer Idee und einem grossen Traum verschrieben habe – dem Traum, die Menschheit zu einigen.“ Er setzt fort: „Diese Idee“ – nämlich die Aussöhnung der Menschen – „ist Zweck und Inhalt meines ganzen Lebens. Esperanto voranzutreiben, ist nur ein Teil dieser Idee. Ich höre nicht auf, an den anderen Teil zu denken und von ihm zu träumen…“

 

Diese Denkweise entspricht übrigens durchaus den Traditionen des Judentums. Dies bestätigt unter anderem auch der evangelische Theologe Felix Propper, der 1961 – ohne irgendeinen Zusammenhang mit Dr. Zamenhof – schreibt:

„Die grosse Idee, von der Israel sich leiten lässt, ist die Herstellung einer die ganze Völkerwelt umfassenden Lebens- und Friedensordnung."

 

In dem oben erwähnten Brief an Michaux (1905) stellt Zamenhof die Entwicklung seiner Ideen dar wie folgt:

„In meiner Kindheit liebte ich leidenschaftlich die russische Sprache und das ganze russische Reich; aber bald kam ich zur Überzeugung, dass man meine Liebe mit Hass erwiderte, dass die ausschliesslichen Beherrscher dieser Sprache und dieses Landes sich selbst Menschen nannten, die in mir nur einen rechtlosen Fremden sahen (obwohl  ich und meine Vorfahren in diesem Land geboren wurden und hier arbeiteten); alle hassten, verachteten und unterdrückten meine Brüder; ich sah, dass auch alle anderen Rassen, die in meiner Stadt wohnten, einander hassten und verfolgten…Ich litt sehr unter diesen Verhältnissen und ich  begann  von einer glücklichen Zeit   zu träumen, in der alle nationalen Hassgefühle verschwunden sein würden und es eine Sprache und ein  Land  geben  würde,  die  mit  vollem  Recht allen  ihren  Benützern  und  Bewohnern gehören würden,  von  einer  Zeit,  in  der  die  Menschen beginnen würden, einander zu verstehen und zu lieben."

 

Weiters schreibt er in diesem Brief über seine Teilnahme in der zionistischen Bewegung:

„In meiner Jugend war ich lange Zeit feuriger „Zionist“ (damals war der Zionismus noch nicht in Mode, ich war einer der ersten Pioniere dieser Idee; und damals erntete ich vehementen Spott von meinen Landsleuten, wenn ich zu ihnen mit jugendlichem Eifer und tiefem Glauben über die Wiedererrichtung des jüdischen Reiches in Palästina sprach). Ich arbeitete mit grosser Energie für diese Idee und ich gründete mit Erfolg die ersten zionistischen Gruppen. (Nach drei, vier Jahren intensiver Arbeit für den Zionismus kam ich zur Überzeugung, dass diese Idee zu keinem Ziel führen würde und daher verwarf ich diese Idee, obwohl sie mir im Herzen immer teuer blieb. Als 1897 die grosse, von Herzl in die Wege geleitete zionistische Bewegung entstand, konnte ich dieser schon nicht mehr beitreten.)"

 

Zwei Jahre später, im August 1907, gab Zamenhof in England der Zeitschrift „Jewish Chronicle“ ein Interview, in dem er seine Tätigkeiten noch genauer beschrieb:

 

„Ich hatte immer starkes Interesse für das soziale Leben meiner Nation, und in meiner Jugend war ich ein grosser politischer Zionist. Das war viele Jahre bevor Herzl in Erscheinung trat und bevor die Idee eines jüdischen Staates unter den Juden populär wurde. Die Menschen verspotteten mich, als ich erklärte, dass wir ein eigenes Land benötigten. Schon im Jahr 1881, als ich an der Universität in Moskau studierte, veranstaltete ich ein Treffen von fünfzehn meiner Mitstudenten und schlug einen Plan vor, den ich ausgedacht hatte, nämlich dass wir eine jüdische Kolonie in irgend einem menschenleeren Teil der Welt gründen sollten, die der Beginn wäre und das Zentrum eines unabhängigen jüdischen Staates werden würde. Es gelang mir, meine Kollegen zu überzeugen, und wir gründeten etwas, das – so scheint es mir – die erste politische Organisation der Juden in Russland war. Einige Monate später zwang mich die finanzielle Situation meines Vaters, Moskau zu verlassen und nach Warschau zurückzukehren.

 

Auch dort begann ich eine aktive Werbung für die Verwirklichung meiner Idee. Ich veröffentlichte einen grossen Artikel über dieses Thema in der russisch-sprachigen jüdischen  Zeitung „Razsvet“  unter  dem  Titel  „Was tun wir also?“ . In diesem Artikel, unterschrieben mit „Hamzefon“, erklärte ich im Einzelnen, dass die ewigen Leiden unseres Volkes nur  enden  würden,  wenn wir dort,  wo wir leben, die Mehrheit der Einwohnerschaft würden, denn die Starken haben immer Recht und die Schwachen haben immer Unrecht. Daher empfahl ich, dass die Juden eine sehr schwach besiedelte Gegend in den USA auswählen und in solcher Zahl kolonisieren sollten, dass sie früher oder später einen jüdischen Staat bilden könnten, so wie es die Mormonen in Utah gemacht hatten. Mein Artikel, der kurze Zeit nach den ersten Pogromen verfasst wurde, hinterliess einen sehr tiefen Eindruck.

 

Zur gleichen Zeit begannen aber die hebräisch-sprachigen Zeitungen „Hamagid“ und „Haŝaĥar“ die Kolonisation von Palästina zu propagieren. Mir war bewusst, dass wir vor allem Einigkeit benötigten, um unser Unternehmen zum Erfolg zu bringen; daher veröffentlichte ich in „Razsvet“ einen zweiten Artikel und empfahl, dass wir uns nicht aufspalten sollten, und deswegen – obwohl die USA für unseren Zweck viel geeigneter wären als Palästina – sollten wir unsere Bemühungen auf Palästina konzentrieren.

 

So gründete ich unter der jüdischen Jugend in Warschau die erste Vereinigung von Ĥibat-Cion. Ich arbeitete Statuten aus, hektografierte und verteilte sie, organisierte Zusammenkünfte, Konzerte und Bälle, warb Anhänger und gründete eine patriotische jüdische Bibliothek. Filialen unserer Haupt-organisation entstanden in vielen Städten Polens und Westrusslands, und von diesen Filialen sammelte ich Monatsbeiträge für die Kolonisierung Palästinas, die ich an Rabbi Salvendi in Nürnberg weiterleitete…Zu dieser Zeit schloss ich die Universität ab und begann meine medizinische Praxis in einem kleinen Dorf. Das ruhige Leben dieses Ortes veranlasste mich zum Nachdenken und bewirkte eine grundsätzliche Änderung meiner Ideen. Nach und nach kam ich zur Überzeugung, dass der Zionismus ein angenehmer aber unerfüllbarer Traum ist; dass er niemals die ewige jüdische Frage lösen würde. Die Lösung muss man auf anderer Grundlage suchen. Glauben Sie mir, dass es für mich sehr schmerzlich war, meine nationalen Aktivitäten aufzugeben. Von da an gab ich mich ganz der anationalen neutralen Idee hin, die meine Gedanken von früher Kindheit an beschäftigte, nämlich der internationalen Sprache.“

 

Im Interview 1907 führt Zamenhof weiter aus:

„Mehr und mehr war ich überzeugt, dass es meine Aufgabe als russischer Jude sei, eine neue Sprache zu schaffen, die einerseits nicht das ausschliessliche Eigentum einer bestimmten Nation wäre und andrerseits von sprachlosen und unterdrückten Völkern frei benützt werden könnte. Nur eine neutrale Sprache kann ein universales Verständigungsmittel werden, und Neutralität war ja der wichtigste Charakterzug, den ich Esperanto gab. Esperanto ist ja Eigentum der ganzen Welt, weil es nicht von einer bestimmten Sprache abgeleitet ist; es ist international, weil es nie die Sprache eines bestimmten Volkes war. Diejenigen die es sprechen und benützen, sind Bürger einer ideellen Demokratie, die man ‚Esperantujo’ (etwa: ‚Esperantoland’) nennen kann.“

 

Anm. d. Autors:

Dieser Bericht entstammt einem Artikel von Hofrat Dr. Klaus Perko in der steirischen Esperanto-Zeitschrift „voko el stirio“ (Ruf aus der Steiermark), die von mir redigiert wird.

 

 

„Esperanto verbindet die Menschheit“. Abbildung: mit freundlicher Genehmigung Heinz-Paul Kovacic.