Christoph Tepperberg
Jérôme Segal: Wie ein roter Faden. Eine Familie in den Katastrophen des 20. Jahrhunderts.
Aus dem Französischen von Susanne Petersen.
(Erschienen in der Reihe „Europa neu erzählen“ von Georg Hauptfeld)
Wien-Hamburg: Edition Konturen 2019, Druck: Berger, Horn (NÖ)
Hardcover, 184 Seiten, 80 Abbildungen, 26,80 Euro
ISBN: 978-3-902968-42-5; auch als E-Book erhältlich
Die Geschichte einer europäischen Familie über vier Generationen: von den Urgrosseltern in Galizien (heute zwischen Polen und der Ukraine aufgeteilt), die dank der Erdölfunde zu Reichtum gelangten, über den Grossvater im französischen Widerstand, dann die Eltern, die als engagierte Kommunisten in den 1970er Jahren den neuen Menschen erschaffen wollten, bis hin zum Autor selbst, der als Franzose seit 15 Jahren in Wien lebt. Wie ein roter Faden zieht sich der Eigensinn durch die Familiengeschichte: Ablehnung des traditionellen Judentums, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Kampf gegen die wachsende soziale Ungleichheit nach dem Zweiten Weltkrieg, schliesslich das Engagement des Autors selbst gegen Rassismus und Nationalismus.
Jérôme Segals Texte sind üblicherweise eine Mischung aus Feuilleton und Sachbuch. Für die Darstellung der vorliegender Familiengeschichte wählte der Autor acht feuilletonistische Kapitelüberschriften, unter denen die einzelnen Generationen der Familie Segal abgehandelt werden:
Eine Stadt für ein neues Leben (1974-1979) Jaques und Marie-Laure [die Eltern des Autors, S. 7-24].
Die Erde bebt (1925-1938) Heinrich, Stanislaus und Erna [Grossvater, Grossonkel, Grosstante des Autors, S. 25-50].
Schwarzes Gold ohne gelben Stern (1877-1913) Aron und Abraham werden zu Arnold und Adolf [Urgrossvater und Urgrossonkel des Autors, S. 51-64].
Undiszipliniert (1990-2008) Jérôme [der Autor, S. 65-89].
Eine „insgesamt negative“ Bilanz? (1990-2018) Marie-Laure und Jaques [nochmal die Eltern, S. 90-103].
Aus Heinrich wird Henri (1939-1945) [der Grossvater, S. 104-133].
Innere Migration (1914-1925) Arnold [nochmal der Urgrossvater, S. 134-147].
Wien – Zwischen Anziehung und Abscheu (2008-2018) Jérôme [der Autor, S. 148-177].
Charakteristisch für assimilierte jüdische Familien, die ihr jüdisches Selbstverständnis nicht primär auf die Religion gründen, sind ihre vielschichtigen sozio-kulturellen Identitäten. Diese erlangten durch die schrecklichen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts unvergleichliche Ausprägungen. Dies trifft im hohen Masse auf die Familie Segal zu. Die Segals waren multilingual, sprachen deutsch, polnisch, französisch und englisch. Der Urgrossvater des Autors Aron (Arnold) und der Urgrossonkel Abraham (Adolf), waren assimilierte jüdische Geschäftsleute, die durch den Handel mit Erdölprodukten in Galizien, Wien und Niederösterreich zu materiellem Reichtum gelangten (S. 51-63, 104). Mit dem „Anschluss“ Österreichs im März 1938 verloren sie ihr Vermögen: „Arnold und seiner Familie haben alles verloren, aber nicht ihren kulturellen Schatz, ihre Beziehungen, ihre sprachlichen und sozialen Kompetenzen.“ (S. 147). Der Vorname des Grossvaters: in Galizien, Polen und Österreich Heinrich und Henryk, mutierte im Internierungslager Meslay-du-Maine („Ex-Österreicher“), in der Fremdenlegion, in der Résistance und durch die französische Staatsbürgerschaft zu Henrick, Henry und Henri (S. 114-120, 132). Jérômes Grossonkel Stanislaus wurde beim britischen Militär zu Stanley (S. 118). Beeindruckend ist ein 2015 zwischen dem Vater Jérôme und seinem 12-jährigen Sohn Anton geführtes Gespräch über den Ur-Urgrossvater Dr. Arnold Segal (geb. 1877 in der Galizischen Salzmetropole Drohobycz, gest. 1944 in Grenoble), über Weltkrieg, Juden und Pogrome, über Heizöl für das Dianabad in der Wiener Leopoldstadt und das einst im Familienbesitz befindliche Schloss Schwadorf in Niederösterreich (S. 134-135). Spannend ist die „Schatzsuche“ nach der Grab - stätte der „Stammmutter“ Pauline Segal geb. Perl Seif (1833-1917) und das Foto des Autors mit seinen Söhnen Nathan und Anton vor Paulines Grabstein in Wien (S. 137-139).
Die beiden Kapitel über Jérômes Eltern thematisieren den Sozialismus, die französische Linke, spiegeln kommunistische Überzeugung und linkes Lebensgefühl zusammen mit den schätzenswerten Vorzügen bürgerlich-materieller Sicherheit.
Die beiden Kapitel über den Autor Jérôme, seine Gattin Caroline und ihre Kinder schildern einerseits das unstete Leben zwischen Berlin, Montreuil, Paris und Wien (1990-2008) mit drei unerfreulichen Jahren an der französischen Botschaft (S. 86); anderseits werden die widersprüchlichen Vorstellungen, Standpunkte und Erfahrungen in Bezug auf das Wien der Jahre 2008-2018 thematisiert, einer Stadt, in der Jérôme selbst seit 2004 tätig ist, aus der allerdings sein Grossvater Heinrich 1938 hatte fliehen müssen. Wiederkehrende Motive sind der Aufstieg der Haider-FPÖ, Neonazis, Holocaust-Leugner, Rassisten, Islamisten und natürlich die immerwährende Diskussion um jüdische Identität.
Das Buch bietet einen Mix aus interessanten historischen Fakten und Details des Alltags. Dies ergibt zusammen eine spannende Familiengeschichte, die dank der feuilletonistischen Darstellung zugleich an Lebendigkeit gewinnt. Segal unterstützt seine Angaben mit zahlreichen Quellenbelegen (Anmerkungen, S. 178-179) und einem Verzeichnis der Bildquellen (S. 180-181). Darüber hinaus enthält auch die narrative Darstellung selbst Hinweise auf Archivdokumente und gedruckte Quellen. Eine Chronologie biographischer Grunddaten (S. 182-183) sowie ein Stammbaum der Familie Segal erleichtern die Einordnung historischer Fakten und Zusammenhänge (S. 184).
Zum Autor: Jérôme Segal, geboren 1970, Ingenieurstudium an der École Centrale in Lyon, 1993–2000 in Berlin: Promotion in den Geisteswissenschaften (Dissertation über den Informationsbegriff und die Geschichte der Kybernetik), danach als Postdoc am Berliner Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, ab 2000 als Dozent an der Universität Paris Sorbonne (ESPE Paris), seit 2004 in Wien: 2004-2007 als Wissenschaftsattaché an der französischen Botschaft, danach in verschiedenen universitären bzw. wissenschaftlichen Funktionen. Jérôme Segal ist seit 2018 österreichischer Staatsbürger, er pendelt zwischen Wien und Paris, publiziert in österreichischen Zeitschriften zu aktuellen Themen aus Religion, Politik und Kultur: über das Judentum, Kino und Film, die extreme Rechte in Österreich und die Lage der Roma in Europa.