Ausgabe

Rosch Haschana 5781/2020

Rabbiner Dr. Joel Berger

Inhalt

Rosch Haschana, das jüdische Neujahrsfest, und Jom Kippur, der Versöhnungstag, werden in der jüdischen Tradition die „Hohen Feiertage“, oder auf Hebräisch „Jamim Nora’im“, die „ehrfurchtsvollen Tage“ genannt.  An diesen Tagen wird nach jüdischer Vorstellung vom Richterstuhl G’ttes aus das Urteil über unser Schicksal im kommenden Jahr gefällt. Dieser Inhalt beeinflusst sowohl die Liturgie als auch die Sitten und Bräuche dieser Festtage, in der Synagoge, wie auch zu Hause. Vor diesen Hohen Feiertagen pflegt man die Gräber der Vorfahren zu besuchen. Bei den Gräbern der Eltern, weiterer Angehöriger und frommer Ahnen erflehen wir für uns die Gunst und Gnade des Ewigen.

 

Nach dem Abendgebet in der Synagoge, wie auch zu Hause, begrüsst man sich mit der althergebrachten Formel: „Leschana Towa tikatewu“ – Mögen wir alle für ein gutes, neues Jahr (beim Herrn) eingetragen werden. In den sefardischen Gemeinden im Orient wird die Aufrichtigkeit der guten Wünsche anstelle des Händedrucks auch mit Küssen auf die Wangen zum Ausdruck gebracht.

Das Menü der Festtage ist sehr charakteristisch. Die meisten Länder und Regionen prägen nach ihren Besonderheiten auch die jüdische Küche.  Die Challah, der Weissbrotzopf der Festtage, der zu Beginn der Mahlzeit gebrochen wird, ist rund geformt.  Man will mit dieser Formgebung auch zum Ausdruck bringen, dass das Schicksal des kommenden Jahres uns rundum gnädig sein möge.

Das jüdische Gebetbuch, Siddur genannt, kann auf eine Jahrtausende alte Entwicklung zurückblicken. Für die Hohen Feiertage entstand wegen ihrer durchwegs ernsten Inhalte eine besondere Gebetsordnung. Sie befindet sich in einer eigenen Gebetsammlung, auf Hebräisch Machsor genannt. Diese Bezeichnung weist auf den Jahreskreislauf der aufeinander folgenden Feste hin. In diesen „Zyklus“ ist jedes Fest eingebettet, wie auch die zu ihm gehörenden liturgischen Texte und Gebete. Die wesentlichsten Themen des Machsor für Rosch Haschana sind: der Mensch am Tag des G’ttlichen Gerichts, wie auch Sinn, Bedeutung und Symbolik des Schofar-Blasens. Das Rosch Haschana-Fest wird in der Thora das „Fest des Posaunenschalls“, wie auch des Gedenkens genannt. Den Posaunenschall deutete die rab-
binische Exegese als Schofar-Blasen.

 

Unsere Bibel weiss noch über zahlreiche andere Musikinstrumente zu berichten. Diese ertönten im damaligen Heiligtum in Jerusalem während der festlichen Umzüge (2. Sam. 10:5; 1. Chron. 13:8-15; 2. Chron. 5: 12-13). Wir lesen über Trommel, Harfe, Triangel, Zither, Flöte und weitere Blasinstrumente. Es kann als Widerspruch verstanden werden, wenn uns heute anstelle dieser weit verbreiteten Instrumente nur das raue, schlichte, gebogene Widderhorn, der Schofar, übrigblieb. Man kann es nur damit erklären, dass all die prachtvollen Streich- und Blasinstrumente, die im alten Israel sowohl im Heiligtum wie auch im übrigen Land kultische Zeremonien, Tänze und auch Volksfeste begleitet hatten, an jenen Tagen der Tempelzerstörung durch die Römer im Jahre 70 n.d.Z. verschwunden sind. Allein der Schofar passt in die karg gewordenen synagogalen Zeremonien der Feste der Umkehr und Busse.

 

In der Thora erscheint der Schofar im zweiten Mosebuch, Schemot, während der G’ttlichen Offenbarung am Berge Sinai. Die Farbe dieses Instruments ist naturbelassen. Es gab und gibt auch noch den schwarzen Schofar, der früher in einigen Gemeinden ausschliesslich dazu diente, bei der Ausrufung des „religiösen Banns“ diesen zu begleiten. Diese Posaune wurde in früheren Zeiten auch eingesetzt, um erhöhte Aufmerksamkeit herbeizuführen oder Alarm auszulösen. In Friedenszeiten rief sie zu Versammlungen. In Jerusalem kündete sie den Beginn der Schabbatruhe an. Im alten Israel verkündete sie im 50. Jahr, dem Jobeljahr, die verbindliche Befreiung all jener, die in Schuldknechtschaft geraten waren und ihr Vergehen durch Arbeit ausgleichen mussten. (3. B.M. 27:9-10)

 

Der erste Tag des siebenten Monats im jüdischen Kalender wird in der Thora „Gedenken des Posaunenschalls“, Sichron Terua, genannt. Damit bezeichnete man den Festtag der Gemeinschaft, den wir heute Rosch Haschana, Neujahrstag, nennen. (3. B.M. 23:24; 4. B.M. 29:1)

 

Das „Lärmblasen“ des Schofars am Rosch Haschana ist zugleich Erinnerung und Ermahnung, dass der Tag der Versöhnung, Jom Kippur, naht. Im letzten Monat des alten Jahres, am Ende des Morgen-G’ttesdienstes, ertönt der Schofar täglich als Ermahnung für die kommenden ernsten Feiertage. Seit der Zerstörung des Heiligtums in Jerusalem, und seitdem die Tempelopfergaben nicht mehr vollbracht werden können, bilden die Schofar-Töne das Gerüst des Fest-G’ttesdienstes. Die Spiritualität des Talmuds verbindet das Schofar-Blasen mit der Geschichte Abrahams, dessen Hingabe so weit ging, dass er auf G’ttes Geheiss sogar bereit gewesen wäre, seinen Sohn zu opfern. So wollte G’tt Abraham und dessen Opferbereitschaft auf die Probe stellen. Anstelle des Kindes opferte Abraham einen Widder, der sich mit seinen Hörnern im Gestrüpp verfangen hatte (1. B.M. 22: 1-13) Auch daran erinnert uns das Widderhorn, der Schofar.

 

Am Rosch Haschana, am Gerichtstag G’ttes, muss im Sinne der G’ttlichen Gerechtigkeit neben unserer Verteidigung, nach volkstümlicher Vorstellung auch der Ankläger gegen uns, auf Hebräisch Satan, zu Wort kommen. Die talmudische Mystik behauptet, dass die Schofar-Töne den Ankläger verwirren sollen und wir nun freimütig, trotz unserer Schwäche „Punkte sammeln“ dürfen, wenn wir reuevolle Bussfertigkeit an den Tag legen. Nach dem Abschluss des Schofar-Blasens, nach den festlichen Litaneien flehen wir: „…heute stellt er vor Gericht alle Geschöpfe, …gleich Seinen Kindern und Seinen Knechten. Wenn wir gleich Deinen Kindern sind, so erbarme Dich über uns, wie ein Vater über seine Kinder… Wenn wir gleich Deinen Dienern sind, so sind unsere Augen zu Dir erhoben, bis Du uns begnadigst.

 

Im dritten Buch Mose, Wajikra (3. B.M. 23:24) wird Rosch Haschana als „Mahnung des Posaunenschalls“ bezeichnet. Daher wird, mit Ausnahme des Schabbattages, der Schofar inmitten des G’ttesdienstes geblasen.

 

Der Klang des Schofars verinnerlicht in uns den Klang der Gegenwart G’ttes. Es ist der Klang, mit dem wir den Herrn anrufen, uns ein gutes, gesundes, friedliches und süsses Neues Jahr zu gewähren.