2007 gründete Irmtraut Karlsson gemeinsam mit Manfred Kerry den Verein Steine der Erinnerung an die Opfer des NS-Regimes in der Josefstadt. Zu den Gedenkprojekten zählt neben Recherchen über die verfolgten Bewohnerinnen und Bewohner von Wiens 8. Bezirk während der NS-Zeit, der Betreuung ihrer Nachkommen sowie mehreren Buchpublikationen vor allem die Verlegung von Stolpersteinen. Auch Karlsson hat dieses Projekt des deutschen Künstlers Gunter Demnig aufgenommen, denn, wie sie über die kleinen, im Boden eingelassenen Gedenk-Metallplatten sagt, „Wer den Text lesen will, muss sich vor dem Andenken an die Person verneigen.“
DAVID: Bemerken Sie Antisemitismus in Zusammenhang mit den von Ihrem Verein gesetzten Stolpersteinen in der Josefstadt?
Irmtraut Karlsson: Kaum hatten wir am 10. Mai 2019 einen Stolperstein vor dem Haus Josefstädterstrasse 56 gesetzt, wurde der Stein mit Lack bespritzt. Daraufhin haben wir den Stein zunächst behelfsmässig mit einem Baustellenhütchen abgedeckt, um ihn wiederherzustellen. Über Nacht war dann das Hütchen weg und der Stein auch noch zerkratzt. Schon lange hatten wir keine derartig schweren Zerstörungen. Der letzte Vorfall war 2011, beim Bernard-Hof 1: von vier Steinen wurde der mittlere herausgebrochen. Mich erschreckt, wie so ein kleiner Stolperstein derartige Aggressionen auslösen kann.
DAVID: Wie sind Sie zu dem Stolpersteine-Projekt gekommen?
Irmtraut Karlsson: Den Anfang hat für mich im Jahr 2005 eine Aktion am Volkertmarkt im zweiten Bezirk gemacht: Damals haben mein Mann, Lars Karlsson, und ich im Rahmen des Vereins von Elisabeth Ben David-Hindler und Karl Jindrich einen Stein in der Leopoldstadt gestiftet. Das Geniale an diesem Projekt ist ja, dass die abstrakten Zahlen der Opfer und ihre Namen mitten in die Stadt und auf die Gehsteige gebracht werden. Damit wird erst die ungeheure Anzahl sichtbar und die Vermittlung, das waren Mitmenschen, Nachbarn.
Durch das grosse Interesse an den Stolpersteinen und der notwendigen, umfangreichen Nachforschungsarbeit kam es zu langen Wartezeiten. Um sie zu verkürzen, haben wir in Übereinstimmung und Zusammenarbeit mit Elisabeth und Karl beschlossen, einen eigenen Verein für den 8. Bezirk zu gründen. Dennoch war auch bei uns die Zeit zwischen Ansuchen und Umsetzung am Anfang lang. Mich bedrückt noch immer sehr, dass beim Haus Langegasse 70 der Initiator des Stolpersteins während des bürokratischen Ablaufs gestorben ist und das Gedenken nicht mehr erlebt hat. Seither ist für mich klar, es gibt eine Priorität: und zwar für Familien. Wo niemand mehr wartet, dauert es eben länger, bis ein Stein gesetzt werden kann. Aber bei betagten Angehörigen darf so etwas nicht mehr passieren.
Uniform von Dr. Ignatz Kauders. Foto: R. Wolff, mit freundlicher Genehmigung.
DAVID: Wie wählen Sie die Adressen für Ihre Stolperstein-Projekte aus?
Irmtraut Karlsson: Unser Ziel ist den Stein vor dem letzten frei gewählten Wohnsitz zu setzen. Als wir 2007 angefangen haben, war die Datenlage noch nicht so gut. Da haben wir Steine gesetzt auch für Menschen, die in der Josefstadt zwangsweise einquartiert waren, etwa in der Alserstrasse 21. Dennoch hat die Datenbank, die das DÖW uns damals für den Bezirk zur Verfügung gestellt hatte, sehr geholfen. Im 6. Bezirk, Mariahilf, wurde eine andere Vorgangsweise gewählt. Es wurden Platten mit kleinen Tafeln mit den Namen der Opfer verlegt, aber nicht direkt vor der Haustür. Daraufhin bekamen wir Anfragen, weil die Angehörigen die Gedenksteine bei der Haustür legen wollten. Hier haben wir die andere Vorgangsweise erklären müssen.
Von Anfang an haben wir Schritt für Schritt auch Institutionen einbezogen – zuerst einen Stein vor dem Landesgericht, einen vor der Synagoge in der Neudeggergasse. 2008 wurde unser erstes Buch veröffentlicht.
DAVID: Welche Schicksale, mit denen Sie sich in Ihrer Gedenkarbeit beschäftigt haben, sind Ihnen besonders in Erinnerung?
Irmtraut Karlsson: Die Schriftstellerin Alma Johanna Koenig versuchte zunächst vergeblich sich bei Bekannten zu verbergen. Sie wurde danach acht Mal von Sammelwohnung zu Sammelwohnung verlegt und ins Ghetto von Minsk deportiert, wo sie getötet wurde. Auch in der Josefstadt gab es Sammelwohnungen, ein bis heute kaum bekannter Umstand. Beispielsweise im Wohnhaus des Kabarettisten und Librettisten Fritz Löhner-Beda: hier wurden viele Menschen in die Löhner-Wohnung hineingestopft. Zum Teil waren die Menschen nur acht Wochen lang dort gemeldet, dann wurden sie woandershin zwangseinquartiert. Mit der Genauigkeit eines eingespielten Uhrwerks ist die Vernichtungsmaschinerie der NS-Bürokratie weitergelaufen, damit war das Haus plötzlich eine Sammelwohnung.
Steinenthüllung Josefstädterstrasse 56: von rechts: Richard S. Henderson-Hecht, Bezirksvorsteherin Veronika Mickel-Göttfert, Irmtraut Karlsson. Foto: T. Walzer, mit freundlicher Genehmigung.
DAVID: Bei der Enthüllung eines Steines der Erinnerung für die Familie Hecht in der Josefstädterstrasse 56 kam dieser Leidensweg auch zur Sprache.
Irmtraut Karlsson: In der Biberstrasse 3 im ersten Bezirk wohnte der Eigentümer jenes Hauses in der Josefstadt, in dem die Familie Hecht Mieterin war, der Rechtsanwalt Dr. Josef Neugröschl. Er wurde durch das NS-Regime enteignet. Die Familie Hecht zog in die Biberstrasse 3 um, und wartete dort auf die Ausreisevisa. Das war das Haus der Urgrosseltern von Richard Hecht – der übrigens erst wieder Hecht heisst, seit er die österreichische Staatsbürgerschaft wiedererlangt, und der den Stein gespendet hat. Sein Vater war Josef Otto Hecht, dem es am 25. November 1938 noch gelang, nach Grossbritannien zu fliehen. Damals war er sechszehn Jahre alt. Seine Grosseltern, Dr. Robert und Lucie Hecht geborene Neugröschl, wurden ermordet, der Grossvater in Theresienstadt 1942, die Grossmutter zwei Jahre später in Auschwitz. Eine der Urgrosstanten, Dr. Margarethe Neugröschl, hatte 1922 als Kinderärztin promoviert, konnte nach Grossbritannien fliehen, starb aber kurz danach.
DAVID: Konnte man denn freiwillig in eine Sammelwohnung kommen? Die Verfolgungssituation war jedenfalls gegeben, sobald jemand gezwungen war, seine Wohnung fluchtartig zu verlassen, um zu versuchen, sich vor den Nazis in Sicherheit zu bringen.
Irmtraut Karlsson: Laut bisherigem Verständnis nein, das Haus Biberstrasse 3 ist auch nicht beim Memento-Projekt aufgelistet. Aber die Familie hatte in ihrer Verzweiflung geglaubt, „ziehen wir alle zusammen, so sind wir sicherer“. De facto wurde durch deren weitere Verfolgung dieselbe Situation wie in einer Sammelwohnung geschaffen. Hier gibt es noch einen ganz grossen Forschungsbedarf individueller Schicksale. Josef Otto Hecht hat die Geschichte seiner Kindheit in der Josefstadt im Jahr 2000 aufgeschrieben. Ich würde sie gerne in jener Vitrine unterbringen, die uns das Bezirksmuseum Josefstadt für unseren Verein zur Verfügung stellt. In seinem Buch schildert er, wie er als enemy spy in England interniert wurde. Er sollte auf die Isle of Man kommen, wurde aber irrtümlich nach Australien geschickt. Mit 203 anderen war er auf dem Schiff Dunera, das in Kapstadt Station machte. In Australien wurde er auch in ein Lager gesperrt, über Panama kam er nach 18 Monaten wieder zurück nach Grossbritannien. 2014 ist er gestorben.
DAVID: Ihre Gedenkarbeit hat inzwischen eine grosse Lebendigkeit für Sie erlangt, grosse Aktualität?
Irmtraut Karlsson: Dazu ein Beispiel: In der Langegasse 70, im Mezzanin, hatte ein Rechtsanwalt seine Kanzlei und wohnte auch dort. Er war aus Ottakring übersiedelt, wo er viele Arme vertrat. Er hat sich einäschern lassen, also war er vermutlich ein Sozialdemokrat. Die Familie konnte nach 1938 teils nach Palästina fliehen. Ein Sohn floh nach Frankreich, wurde dort durch die Résistance vor der Deportation gerettet und heiratete eine Französin, ein anderer floh nach Grossbritannien und kehrte später zurück nach Ulm. Alle drei Familienzweige haben sich erst durch die Enthüllung der Stolpersteine getroffen! Das war sehr bewegend und berührend. Die Steine sind in vielen Fällen die einzigen sichtbaren Mementos der Toten, da sie keine Grabstätten in den Vernichtungslagern haben.
Irmtraut Karlsson. Foto: L. Karlsson, mit freundlicher Genehmigung.
DAVID: Sie zeichnen durch Ihre Arbeit auch nach, wie sich die Vorurteile zur Verfolgung weiterentwickeln.
Irmtraut Karlsson: Das Ehepaar Selma und Josef Stössel in der Josefsgasse 11 wurde bereits 1934 als „arbeitslose Nichtstuer“ diffamiert. Beide hatten ihre Jobs als Bankbeamte verloren. Die verheiratete Frau wurde nach dem Doppelverdienererlass (1933) aus dem öffentlichen Dienst entlassen, beide waren noch dazu Juden. Ihre bürgerlichen Existenzen wurden ruiniert, und zwar bereits unter dem Austrofaschismus. Vorurteile und Verfolgung haben sich vielfach angekündigt. Menschen wurde ihre Menschenwürde sukzessive genommen. Im letzten grossen Flüchtlingsstrom 2015 gab es neben sehr viel Hilfsbereitschaft auch das Schüren von Vorurteilen. Das hat mich betroffen gemacht. In Dänemark haben dann die Vorurteile zu Handlungen geführt: den Flüchtlingen wurden Mobiltelefone und Wertgegenstände abgenommen. Hier wurde eine Grenze überschritten.
DAVID: Eines Ihrer Anliegen ist, junge Menschen in die Erinnerungsarbeit einzubeziehen und ein breiteres Bewusstsein für die Schicksale der einstigen Josefstädter Bevölkerung herzustellen.
Irmtraut Karlsson: Ganz wichtig ist die Zusammenarbeit mit den Schulen. Wir hatten unter anderem ein Schulprojekt mit dem BRG Albertgasse. Die Schülerinnen und Schüler konnten anhand ihrer Wohnadressen im historischen Adressbuch Lehmann nachvollziehen, was damals passiert ist: die Enteignungen der Häuser und massenweise Vertreibung der Mieter. Dan Shefy besuchte im Schuljahr 1937/38 die Klasse 2.B in der Albertgasse. Vor der Enthüllung des von ihm gestifteten Steines der Erinnerung an Familienmitglieder in der Josefstädterstrasse besuchte er seine alte Schule und diskutierte mit den Schülerinnen und Schülern. In der VBS Hamerlingplatz wurden 32 Klassenbücher aus den Jahren 1936/37 bis 1944/45 von einem Projektteam von Schülerinnen digitalisiert und analysiert. Ab 1938/39 besuchte kein einziger jüdischer Schüler mehr die Schule. Das Schicksal der ehemaligen Schüler wurde vom Projektteam in Archiven erforscht, am 12. März 2020 ein Tag der Erinnerung organisiert. Von unserem Verein wurde vor dem Schulgebäude ein Stolperstein im Beisein des Wiener Bürgermeisters Michael Ludwig sowie von Margit Fischer enthüllt. In der Josefsgasse lernte eine Familie, dass sie in der ehemaligen Wohnung der Vertriebenen lebte. Der Sohn der Familie erarbeitete einen Bericht darüber für seine Schule. Die Stolpersteine erwecken ein Bewusstsein dafür, wie viele Menschen betroffen waren. Sie schaffen eine lebendige Erinnerung.
DAVID: Tauchen manchmal sogar Gegenstände zu den Geschichten der Verfolgten auf?
Irmtraut Karlsson: Das Haus in der Bennogasse 28 gehörte einem Schmied, er war 1898 Innungsmeister und kaufte es für seine Familie. Seine Kinder lebten noch dort, ein Sohn starb vor der Deportation. Alle anderen wurden in eine Sammelwohnung in der Rembrandtstrasse verbracht und von dort deportiert. Ein Teil der Familie konnte sich retten. Das Haus wurde enteignet, die Familie verstreut. Ein Verwandter versuchte in den 1950er Jahren, das Haus zu restituieren. Ein österreichischer Rechtsanwalt drängte alle Restituenten zum Verkauf. Die Tochter eines Überlebenden aus den U.S.A. wohnt jetzt wieder in Wien. Sie zeigte mir ein Objekt vom Dachboden, auch im Keller waren Koffer übrig geblieben von den ursprünglichen Eigentümern: die Ariseure hatten das offenbar nicht angeschaut, und so holte sie diese aus der Bennogasse ab. Unter den Gegenständen fanden sich die Uniform des Generalstabsarztes Dr. Ignatz Kauder, seine Orden, sowie zwei Jugendstil-Bilderrahmen. All das sollte nun in einem Museum fachgerecht aufbewahrt und auch ausgestellt werden.
Stein der Erinnerung für die Familie Hecht, Josefstädterstrasse 56, noch unbeschädigt bei der Enthüllung. Foto: T. Walzer, mit freundlicher Genehmigung.
DAVID: Sie haben inzwischen bereits zwei Bücher herausgebracht, in denen Sie die Schicksale der Verfolgten schildern. In Form von Spaziergängen durch den Bezirk kann das Lesepublikum die Geschichten erfahren und sich dazu anhand von Familienfotos ein Bild von der zerstörten Welt machen.
Irmtraut Karlsson: Mir ist wichtig, dass wir in den Büchern Fotos der Menschen in freundlicher Erinnerung zeigen, von Ausflügen, Familienfesten. Im ersten Buch haben wir nur die Häuser und Stolpersteine aufgelistet und dazu vertiefende Artikel, je nach Interessen der Beitragenden, gebracht. Im zweiten Buch habe ich mich von Konzept Weg der Erinnerung, wie dies im zweiten Bezirk umgesetzt wurde, inspirieren lassen. Vier verschiedene Routen durch die Josefstadt werden vorgestellt, mit Anknüpfungspunkten zum Gedenken, und zwar nicht nur an jüdische Verfolgte, sondern auch an den politischen und kirchlichen Widerstand. Mir war dabei wichtig, zu erklären „warum erinnern“ wichtig ist, zu beschreiben, was die Faschismus-Forschung in der Tradition Max Horkheimers 2 als Einschleichung festgestellt hat. Im zweiten Buch gibt es darüber hinaus thematische Ergänzungen: einen Beitrag von Milli Segal über die Kindertransporte: „Diese Kinder waren oftmals die einzigen aus ihren Familien, die den Holocaust überlebten. Die strengen Einreisebestimmungen vieler Länder machten es Jüdinnen und Juden trotz Verfolgung fast unmöglich Nazideutschland zu verlassen.“ Elfie Coleman lebt heute in London. Als Fünfjährige konnte sie mit einem Kindertransport gerettet werden und setzte für ihre Mutter, die sie selbst kaum gekannt hatte, einen Stein der Erinnerung in der Lerchenfelderstrasse 124. In diesem Buch stellen wir auch mehr Familien vor, beispielsweise die Familie Grünsfeld, die Besitzer der Druckerei in der Schönborngasse, dort, wo heute ein Escape Room zu finden ist. Die Druckerei hatte ein Monopol für Buchhaltungs-Bücher. Sie wurde enteignet, konnte aber restituiert werden.
Jahresbericht 2019/2020 des VBS Hamerlingplatz mit dem Bild von der Enthüllung des Stolpersteins vor der Schule. Mit freundlicher Genehmigung: I. Karlsson.
DAVID: Vielen Dank, Frau Karlsson, für dieses interessante Gespräch. Wir wünschen Ihnen und dem Projekt „Steine der Erinnerung an die Opfer des NS-Regimes in der Josefstadt“ ein stetig wachsendes Publikum und viel Erfolg!
Nachlese:
Irmtraut Karlsson/Manfred Kerry/Tina Walzer: …lebte in der Josefstadt. Steine der Erinnerung 1938 – 1945. Wien: Milena Verlag 2008. 196 Seiten, Euro 19,90.- ISBN-13: 9783852861708
Irmtraut Karlsson (Hgin.): Wege der Erinnerung in der Josefstadt. Wien: Czernin Verlag 2019. 199 Seiten, Euro 20,00.-, ISBN-13: 9783707606553
Zur Person:
Irmtraut Karlsson, Psychologin, Schriftstellerin, Frauenpolitikerin, 1980 bis 1986 Generalsekretärin der Sozialistischen Fraueninternationale in London, 1987 bis1993 SPÖ Bundesrats-, 1993 bis 1999 Nationalratsabgeordnete. Mitbegründerin des ersten Wiener Frauenhauses.
Spendenkonto:
Steine der
Erinnerung
Josefstadt
IBAN: AT98 1200 0501 6601 7738
Anmerkungen:
1 Wien 8, Skodagasse 9/Feldgasse 4/Laudongasse 38
2 Max Horkheimer (1895 – 1973), Sozialphilosoph, gemeinsam mit Theodor W. Adorno Autor des Buches Dialektik der Aufklärung, Begründer der Frankfurter Schule am Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main und Vertreter der Kritischen Theorie, die er 1937 formulierte.