Der Gesang spielt im jüdischen Gottesdienst seit biblischen Zeiten eine bedeutsame Rolle. Dem Kantor oder Chasan fällt dabei die Aufgabe zu, die in der Synagoge versammelte Gemeinde in der Liturgie und im Gebet zu führen. Zugleich bittet er stellvertretend für die Betenden um G‘ttes Vergebung und Segen. Traditionell wird vom Chasan neben einer guten Stimme grosse Kenntnis der jüdischen Liturgie verlangt, vor allem aber ethisch einwandfreies Verhalten und Frömmigkeit.
Bedeutende Impulse zur jüdischen G'ttesdienstgestaltung gingen ab der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vom Wiener Sakralmusiker und Kantor Salomon Sulzer aus, der neben seinen beruflich-religiösen Verpflichtungen am Stadttempel der Kultusgemeinde in der Seiten-
stettengasse als Gesangsprofessor zwischen 1844 und 1847 am Konservatorium der schon damals höchst angesehenen Gesellschaft der Musikfreunde unterrichtete. Die selbsternannte „Welthauptstadt der Musik“ baute in der Folge eine Anziehungskraft auf, der sich auch jüdische Talente schwer entziehen konnten.
Wien als Impulsgeber der musikalischen G'ttesdienstgestaltung
Zevulun Kwartin geriet über Umwege in die Sogwirkung der Musik. Als Savel Kwartin wurde er am 25. März 1874 im russischen Elisabethgrad (Kropywnyzkyj, Ukraine) als Sohn des wohlhabenden chassidischen Textilhändlers Schalom Kwartin (1848–?) und dessen Gattin Pesi (?–1913) als ältester von fünf Söhnen geboren. Die schöne Stimme des Erstgeborenen fiel schon früh auf und führte zu einer Begegnung mit dem berühmten Chasan Yerucham Blindman. Wie Kwartin in seiner jiddischen Autobiographie Main Leben schreibt, sei der berühmte Sänger begeistert gewesen und drängte darauf, ihn sofort als Schüler aufzunehmen, doch habe der Vater dies abgelehnt. Ihm schien die Übernahme des Familienbetriebs durch den Sohn wichtiger als eine Karriere als Sänger. Während Zevulun Kwartin tagsüber im Textilhandel arbeitete, blieben die Abendstunden der Musikpflege vorbehalten.
Am Schabbat vor seinen eigenen Eheschliessung erhielt Kwartin in der Synagoge seiner Heimatstadt die Einladung zum Vortrag der Haftara. Die Gemeinde war überaus beeindruckt von der ausdrucksvollen und vielseitig entwickelten Stimme, die zwischen Tenor und Bariton angesiedelt war. Nach der Eheschliessung widmete sich Kwartin auf Anraten seiner Schwiegereltern ausschliesslich dem Gesang und gab wenige Wochen später am 1. Juni 1896 sein erstes öffentliches Konzert. Im Folgejahr gastierte er im damals russischen Lodz (heute Łódź, Polen), wo er vom neunjährigen Wunderkind Artur Rubinstein begleitet wurde und mit seinem Engagement 400 Rubel verdiente. Noch vor Jahresende 1897 verliess Kwartin das Zarenreich und übersiedelte zur weiteren Ausbildung nach Wien.
Engagement am Kaiserin-Elisabeth-Tempel in der Wiener Josefstadt
Der liturgische Gesang stand zu dieser Zeit in Wien nicht in allzu hoher Blüte, verglichen etwa mit Brody oder Odessa, erinnerte er sich später und liess an Joseph Singer, Sulzers Nachfolger als Oberkantor im Stadttempel in der Seitenstettengasse, kein allzu gutes Haar. Dafür knüpfte Kwartin Kontakte mit Salomon Sulzers Sohn Joseph Sulzer, der als Cellist im Hofopernorchester tätig war. Ihm war die musikalische Gestaltung der Einweihungsfeier der 1903 fertig gestellten Synagoge des Tempelvereins Josefstadt in der Neudeggergasse übertragen. Das in knapp sieben Monaten Bauzeit nach Plänen von Max Fleischer errichtete neugotische Ziegelbauwerk verdankte seine Errichtung einer Stiftung des Bankiers Moritz von Königswarter.
Zevulun Kwartin. Zeitgenösisches Porträtfoto, um 1925. Mit freundlicher Genehmigung G. Gatscher-Riedl.
Der Tempelverein drängte beim Bau auf Eile, sodass die Eröffnungsfeier noch ohne Freskenschmuck des Inneren auskommen musste. Als Sänger war der Bariton Edelman verpflichtet worden, doch platzte dieses Engagement in letzter Sekunde, sodass Kwartin als Oberkantor mit seiner Stimme die Eröffnung zu gestalten hatte, unterstützt von Sulzer und Edelman als Leiter des dreissigköpfigen Chors. Die von Rabbiner Moritz Bauer geleitete glänzende Zeremonie mit Kompositionen Salomon Sulzers verlief am 15. September 1903 zur allgemeinen Zufriedenheit und im Beisein höchster Würdenträger. Der Präsident des Tempelvereins Michael Strasser verkündete die Absicht, das G‘tteshaus dem Andenken der verstorbenen Kaiserin Elisabeth zu widmen. Die Enthüllung einer Gedenktafel rechts der Bundeslade wurde am 3. September 1904 gefeiert, das Neue Wiener Tagblatt wusste von einem „weihevollen Choral“ und „einem Gebet für das Seelenheil der Kaiserin von Oberkantor Kwartin“ zu berichten.
Für Kwartin war die Eröffnung der Ausgangspunkt seiner Wiener Popularität. Er erinnerte sich, dass bis zu 1.500 Menschen den G‘ttesdiensten im Kaiserin-Elisabeth-Tempel beigewohnt hätten, obwohl das Gebäude nur für 580 Plätze zugelassen war. Seine Beliebtheit warf Kwartin auch gegenüber seinem Arbeitgeber in die Waagschale und verhandelte einen Fünfjahresvertrag mit jährlicher Gehaltssteigerung von 2.500 auf 3.000 Kronen. Von den Summen blieb ihm aber wenig, denn bald hatte er seine gesamte Verwandtschaft finanziell zu unterstützen, Durchreisende zu beherbergen und blieb auf unbezahlten Rechnungen sitzen.
Die Wirkungsstätte Kwartins in Wien: Der Neudegger-Tempel (Kaiserin-Elisabeth-Tempel). Aufnahme vor Fertigstellung der „polychromen und styrichtigen Ausmalung“. Aufnahme aus: Der Bautechniker (1903).
Weite Bekanntheit durch Schallplattenaufnahmen
Eine zusätzliche Einnahmequelle stellten Schallplattenaufnahmen dar. Die Deutsche Grammophon hatte 1906 damit begonnen, den Wilnaer Oberkantor Gerschon Sirota aufzunehmen. Kwartin spielte eine erste Platte mit Pathé ein, wechselte aber zur Deutschen Grammophon mit einem jährlichen Salär von 3.000 Kronen. Für die Vertragsunterzeichnung war Direktor Alfred Michaelis extra aus Berlin angereist. Die erste Schallplatte mit zehn Gebeten war bald ausverkauft, weitere Aufnahmen mit Salomon Braslavsky als Organisten entstanden in Wien. Der gute Absatz der Pressungen bot die Grundlage für eine Tournee durch den russischen Ansiedlungsrayon im Juni 1906. Die Verwaltung des Elisabeth-Tempels gewährte im Jänner einen weiteren Urlaub, den der Sänger für Konzerte in Wilna und Białystok nutzte. Zu diesem Zeitpunkt hatte Kwartin bereits mehr als eine halbe Million Schallplatten verkauft.
Allerdings partizipierte er nur unzureichend an den finanziellen Erfolgen seiner Schallplattenfirma. Dieses Schicksal teilte er mit Leo Slezak, laut Kwartin „second only to Caruso“, die sich beide von der Deutschen Grammophon übervorteilt fühlten. Während sich Slezak in einen Prozess stürzte, verhandelte Kwartin nach und lizitierte seine Jahresgage auf 12.000 Kronen für vierzig Aufnahmen pro Jahr. Die Konzerttätigkeit wurde zu einem jährlichen Fixpunkt, und Kwartin konnte mittlerweile 1.000 Rubel pro Auftritt verlangen.
Seine Arbeitgeber im Elisabethtempel waren von diesen Summen mittlerweile überfordert, andererseits schlugen sie auch eine Festanstellung zu günstigeren Bedingungen aus. Unter den sich bietenden Angeboten wählte Kwartin im Herbst 1910 die Grosse Synagoge (Tabaktempel) in der Budapester Dohánystrasse aus. Dort erhielt er ein Jahresfixum von 12.000 Kronen und weitere Zulagen, allerdings war sein Engagement durch die beginnende Krankheit seiner Frau überschattet. 1914 erhielt er ein Angebot für eine Tournee in den U.S.A. mit einer Rekordgage von 30.000 Dollar, musste aber nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs in Budapest bleiben.
Der klassizistische Emanu El-Tempels in Borough Park New Yorker Stadtteil Brooklyn. Ansichtskarte, um 1910. Mit freundlicher Genehmigung G. Gatscher-Riedl.
Enkelin Evelyn Lear
Erst 1920 gelang es ihm, in Amerika aufzutreten. Mit seiner Tochter, der Sopranistin Anna Kwartin, feierte er am 27. April 1920 sein Debut an der New Yorker Metropolitan Opera vor 4.000 begeisterten Zuhörern. Diese Erfolge konnte er auf einer Tournee fortsetzen. Die Rückkehr ins Nachkriegseuropa verhinderte ein Angebot des Emanu El-Tempels im New Yorker Stadtteil Brooklyn. Kwartin wurde eine Fixanstellung zu 12.000 Dollar angeboten, die er unmöglich ausschlagen konnte. Eine reiche Konzerttätigkeit machte ihn zum bestbezahlten Chazan seiner Zeit. Nach dem Tod seiner ersten Frau heiratete er die gleichfalls verwitwete Gittel Rafalowitsch und besuchte 1926 erstmals den Jischuw, wohin er bis 1937 übersiedelte, bevor er sich in Safed niederliess. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er als Kantor in Newark im Grossraum New York, wo er am 3. Oktober 1952 starb. Kwartins Bedeutung liegt nicht nur in seiner wandlungsfähigen Stimme, die ein breites Spektrum abdeckte. Als Komponist hat er 1928 die zweiteilige Sammlung Zemirot Zevulun hinterlassen, der T’fillot Zevulun folgte. Das musikalische Talent gab er in der Familie weiter: seine bereits genannte Tochter und die Enkelin Evelyn Lear (1929–2012) feierten als Sopranistinnen grosse Erfolge, unter anderem an der Wiener Staatsoper und als Mozart-Interpretinnen bei den Salzburger Festspielen.
Quellen:
Sevulun KWARTIN, Main Leben, (Philadelphia-New York 1952), Digitalisat unter: https://archive.org/details/nybc211827
Zavel KWARTIN, My life in Turn-of-the-century Vienna & its Environs. In: Joseph A. LEVINE, Richard BERLIN (Hg.), Hazzanut in the 20th century and beyond. (= Journal of Synagogue Music, Jg. 36, Fairlawn 2011)
Velvel PASTERNAK, The Jewish Music Companion. Historical Overview,Personalities, annotated Folksongs, (Cedarhurst 2002)
Joann PEYSER, The Music of my Time, (White Plains – London 1995)
Geofrrey SHISHLER, Zevulun (Zavel) Kwartin (1874-1954), online unter: http://www.chazzanut.com/articles/kwartin.html
Die NEUZEIT, Wien, 18.9.1903
Neues Wiener TAGBLATT, Wien, 6.9.1904