Noch tief betroffen von der Geschichte der grausamen Vertreibung der Juden von Kittsee1 kam mir wieder der
grosse Sohn dieser Gemeinde ins Gedächtnis: Joseph Joachim, wahrscheinlich der grösste Geigenvirtuose des 19. Jahrhunderts, wurde hier am 28. Juni 1813 als siebentes Kind des Wollhändlers Julius Joachim und seiner Frau Fanny, geb. Figdor, geboren.
Wenngleich Josef Joachim nicht zu den Vergessenen gehört – Kennern der Musik ist er ein Begriff, als Virtuose, als Dirigent und als Komponist –, so ist er weiten Kreisen doch nicht so präsent wie etwa Clara Wieck für das Klavier oder der „Teufelsgeiger“ Niccolò Paganini. Zu Unrecht, denn er hat die Musik und deren Weiterentwicklung für das ganze Jahrhundert und die Zeit danach geprägt.
„Nur die Geigen sind geblieben…“ so der Titel einer Ausstellung über den bedeutenden Geiger der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Alfred Rosé und seine Tochter Alma Rosé, die zum Überleben das Frauenorchester in Auschwitz leitete. Dem Titel widerspreche ich: Denn, nein, nicht nur die Geigen sind geblieben, auch die Kunst und der Geist der Menschen, die sie zum Klingen gebracht haben. Wir müssen uns dessen nur bewusst werden. Vergessen ist hier sträflich.
Zunächst zu Joseph Joachims Geigen: Heute sind fünf Stradivari-Geigen dokumentiert, die sich in seinem Besitz befunden haben. Ich greife eine ganz besondere heraus: Eine Stradivari aus dem Jahr 1725, die Chaconne. Joseph Joachim nannte sie nach Johann Sebastian Bachs berühmtem Finalsatz der Partita Nr. 2 für Violine in d-Moll, Bach-Werke-Verzeichnis 1001-1006, einfach „Chaconne“. Für ihn war sie jenes Instrument, das dieser Musik erst den traumhaft schönen, tänzerischen Klang geben konnte. Unter diesem Namen ist sie heute noch bekannt.
Die Chaconne ist nunmehr Teil der Sammlung historischer Streichinstrumente der Oesterreichischen Nationalbank. Im Sinne ihrer kulturpolitischen Verantwortung will die Nationalbank es in Österreich wirkenden Künstlern möglich machen, Instrumente höchsten Ranges zu spielen. Eine Jury befindet darüber, an wen diese Instrumente – zeitlich begrenzt – ausgeliehen werden. So wird auch die Chaconne von bedeutenden Virtuosen gespielt, sowie lange Jahre von den Ersten Geigern der Wiener Philharmoniker Rainer Küchel und nunmehr Rainer Honeck. In jedem der Konzerte mag wohl der Geist Joseph Joachims zugegen sein.
Jedes Instrument ist hinsichtlich seiner Entstehung und seiner Provenienz wie auch seines technischen Zustandes genau dokumentiert. In der wissenschaftlichen Aufarbeitung stehen die Nationalbank und die Sammlung historischer Musikinstrumente des Kunsthistorischen Museums in enger Verbindung. Dieser fruchtbaren und leidenschaftlichen Zusammenarbeit ist auch das wunderbare Buch Meisterwerke der Geigenbaukunst – Die Streichinstrumentensammlung der Oesterreichischen Nationalbank, Wien 2002 von Rudolf Hopfner, dem Direktor der Sammlung historischer Musikinstrumente des KHM zu verdanken.
Instrument und Künstler gehen eine Symbiose ein. Wenn ich die Chaconne höre, so höre ich im Geiste auch Joseph Joachim. Wer war er?
Der Violinist, Komponist und Dirigent Josef Joachim (1831 - 1907). Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Joseph_Joachim.jpg?uselang=de
Joseph Joachim wurde am 28. Juni 1831 in Kittsee geboren, das früher zum transleithanischen, dem ungarischen Teil der Doppelmonarchie gehörte und heute, genauer seit 1921, an der Grenze zwischen dem Burgenland und Niederösterreich und zwischen der Slowakei und Ungarn gelegen ist (weiss der Teufel, wie es zu dieser Grenzziehung kam – wohl der Rest des Traums, einen Korridor Tschechoslowakei-Triest zu schaffen). Sein Geburtshaus im Zentrum von Kittsee steht noch und wird wohl gepflegt.
Die jüdische Gemeinde Kittsee war eine der Schewa Kehillot, der „Siebengemeinden“ des Fürsten Esterházy auf dem Gebiet des heutigen Burgenlandes. Die Feudalherrschaft, Esterházy, Batthyány, Habsburg, betrieb die Ansiedlung nicht uneigennützig, denn nach den Türkenkriegen war das Land verwüstet und weite Teile lagen brach. Ohne Handel und Finanzwesen konnte keine Wirtschaft funktionieren. So wurden Bauern aus Kroatien und auch aus den westlichen Teilen Österreichs angesiedelt; für den Absatz der landwirtschaftlichen Produkte, für die Finanzierung des Gewerbes und für die Versorgung der Bevölkerung mit Waren waren die Juden nützlich und willkommen. 1780 lebten in Kittsee 363 Juden; allerdings sank die Zahl bis 1934 auf 62 ab. Kittsee war im 16. Jahrhundert ursprünglich von Kroaten besiedelt worden; bereits im 19. Jahrhundert begann die kroatische Sprache zugunsten der deutschen zu schwinden. Lediglich die katholische Pfarre hält noch Messen in kroatischer Sprache ab.
Der Vater Julius Joachim war – aus einer seinerzeit aus dem Schwabenland zugewanderten Familie – in Kittsee als Händler tätig. Schafwolle war seine Ware. Sie war wohl das Produkt der extensiven Schafzucht dieser Gegend – heute kaum glaublich, denn erst der geniale Aufklärer Albert von Sachsen-Teschen, dem als Schwiegersohn Maria There- sias die Herrschaft Ungarisch-Altenburg übertragen wurde, verwandelte durch kluge Wirtschafts- und Agrarpolitik die karge Steppe in fruchtbares Acker- und Weideland, so wie wir es heute kennen.
Der Wollhandel kam wohl aus der Tradition der Mutter Joseph Joachims, Franziska (Fanny) Figdor. Die Familie Figdor betrieb zunächst in Engerau bei Pressburg (heute Petr-
žalka, ein Stadtteil von Bratislava, Slowakei) einen Agrarproduktenhandel, insbesondere mit Schafwolle – bevor sie, weiter verzweigt, zur grossen und einflussreichen Wiener Unternehmer- und Bankiersdynastie mit Ringstrassenpalais aufstieg. Die Ausweitung der Geschäfte war wohl auch mit ein Grund, weshalb der Vater, Julius Joachim, mit dem Sohn im Kindesalter nach Budapest übersiedelte.
Über die Familie Figdor war Joseph Joachim mit der Industriellenfamilie Wittgenstein, somit auch mit dem wesentlich später lebenden Ludwig Wittgenstein, verwandt. Noch ein weiterer Philosoph findet sich unter den Nachkommen: Joseph Joachims Neffe ist der britische Philosoph Harold H. Joachim (1868–1938), ein bedeutender Vertreter des englischen Idealismus.
Der Umzug nach Budapest war ein Glücksfall für das Kind Joseph: Schon sehr früh zeigte sich seine Begabung, ja, man konnte von einem Wunderkind sprechen. Die Familie war keine musikalische, in Kittsee gab es keine Möglichkeit der musikalischen Bildung und Weiterbildung. In Budapest konnte Joseph Unterricht von den hervorragendsten Lehrern bekommen. Stanislaus Servaczinsky erkannte sein Talent und nahm ihn in seine pädagogische Obhut. Schon mit sieben Jahren konzertierte er solistisch.
Bei einem Besuch in Budapest überredeten die Verwandten Figdor Josephs Eltern, das Kind zur weiteren Ausbildung nach Wien zu schicken. So setzte er mit acht Jahren sein Studium am Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde bei Georg Hellmesberger und Joseph Böhm fort. Eine weitere Tante Figdor, die einen Wollhändler in Leipzig geheiratet hatte, holte ihn an das dort neu gegründete Konservatorium. Felix Mendelssohn-Bartholdy wurde zu seinem Förderer, Vorbild und Freund. Nach dessen frühem Tod zog es ihn zu Franz Liszt nach Weimar. Franz Liszt war von seinem Spiel beeindruckt. Nun ging es mit der Karriere steil bergauf: 1853 wurde er Königlicher Konzertmeister in Hannover. Hier lernte er Klara Wieck kennen, schloss Freundschaft mit Johannes Brahms und trat mit Max Bruch in Kontakt.
Josef Joachims Geburtshaus in Kittsee, Zustand 2006 vor der Renovierung. Das Gebäude steht unter Denkmalschutz. Foto: Zarafa, gemeinfrei. Quelle: https://regiowiki.at/wiki/Datei:Birthplace_of_Joseph_Joachim_(Kittsee).jpg
1869 berief ihn König Wilhelm I. nach Berlin und betraute ihn mit der Gründung einer Musikhochschule. So wurde er zum Gründungsrektor der Königlich Akademischen Hochschule für ausübende Tonkunst, der späteren Berliner Musikhochschule.
Sein Wohnsitz blieb Berlin, wo er mit seiner – später geschiedenen – Frau Amalie, geb. Schneeweiss, einer Opernsängerin, zwei Söhnen und einer Tochter eine Villa bezog.
Die Karriere setzte sich fort und er wurde im deutschen Kaiserreich zum wohl bedeutendsten und einflussreichsten Violinisten des Jahrhunderts. Seinen Höhepunkt erreichte er 1879 mit der Gründung des Joachim-Quartetts. Er starb 1879 nach einer Gastspielreise nach Wien und Berlin an einer Grippeinfektion. Die Trauerfeiern waren eindrucksvoll. Wenngleich schon im kleinen Kittsee seine aussergewöhnliche Begabung erkannt wurde, konnte ihm an der Wiege weder Ansehen noch Reichtum mitgegeben werden. Was ihm zugute kam, waren das Netzwerk und der Zusammenhalt einer international verzweigten Familie, die den wirtschaftlichen Aufschwung der Gründerzeit zu nutzen wusste. Anders wäre seine Förderung durch die erstklassige Ausbildung in Budapest, Wien und Leipzig nicht möglich gewesen.
Joseph Joachim hatte aber auch den damals einsetzenden Antisemitismus zu spüren: Er stellte sich in einer Protestnote mit anderen Professoren der Preussischen Akademie der Hetzschrift Richard Wagners Das Judentum in der Musik entgegen, einem geifernden Pamphlet gegen Mendelssohn-Bartholdy, Meyerbeer und Jacques Offenbach sowie auch gegen Heinrich Heine. Im Lichte dieser Schrift ist auch verständlich, dass sein Verhältnis zu Franz Liszt, dem Schwiegervater Wagners abkühlte. Mag sein, dass die Schrift damals als Ausdruck der Eifersucht Wagners auf die erfolgreichen jüdischen Musiker abgetan wurde, der Nationalsozialismus berief sich nicht nur in der Kunst- und Kulturpolitik auf sie – sie war als Rechtfertigung der NS-Verbrechen sehr willkommen. 1935 warfen Nazi-Randalierer die 1913 in der Akademie aufgestellte Büste Josef Joachims spektakulär in den Müll. Spät aber doch, 1982, wurde sie wieder aufgestellt.
Joseph Joachims Leben, seine Kunst und sein Aufstieg sind ein Beispiel für das fruchtbare Wirken von Juden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Es soll aber auch der Mahnung dienen, wie mit dem Gedächtnis an ein Genie nicht umgegangen werden darf!
Anmerkung:
1 vgl. Alfred Lang: Das Drama an der Donau. Die Vertreibung der Juden aus Kittsee, Burgenland. In: DAVID Nr. 121, Sommer 5779/Juni 2019 und Nr. 122, Rosch Haschana 5780/September 2019, www.davidkultur.at