Während des Dreissigjährigen Krieges hatten christliche und jüdische Berichterstatter höchst unterschiedliche Narrative über jüdische Solidaritätshandlungen, gesellschaftliche Teilhabe und Treue zum katholisch-habsburgischen Kaiserhaus.
In den Morgenstunden des 26. Juli 1648 nahm der schwedische General Hans Christoph Königsmarck mit etwa 2.500 Mann den Hradschin, die Burg und die Prager Kleinseite in einem Handstreich ein. Die Schweden verfügten aber zunächst nicht über ausreichend starke Kräfte, um auch die Prager Altstadt einzunehmen und begannen daher die Stadt zu belagern. Der kaiserliche Statthalter und Kommandierende General in Böhmen, Feldmarschall Rudolf Graf Colloredo, organisierte in der Folge die Verteidigung der Prager Altstadt gegen die Schweden. Ein Angriff des schwedischen Generals Wittenberg konnte Anfang August abgewehrt werden, worauf sich dieser wieder zurückzog. Am 5. Oktober traf weitere schwedische Verstärkung unter Pfalzgraf Karl Gustav ein. Zwar gelang nach heftigem Artilleriebeschuss und mehreren Stürmen der Einbruch in die Altstadt, doch die Prager Bürger und Studenten leisteten, unterstützt von Geistlichen, heftigen Widerstand und schlugen die Angreifer zurück. Am 25. Oktober 1648 setzten die Schweden – trotz der tags zuvor erfolgten Unterzeichnung des Westfälischen Friedens – zu einem neuerlichen Generalsturm an, der aufgrund der hartnäckigen Verteidigung ebenfalls misslang. Nachdem der Pfalzgraf Prag am 30. Oktober erneut zur Kapitulation aufgefordert hatte, diese Forderung aber zurückgewiesen wurde, begannen sich die Belagerer zurückzuziehen. Am 2. November hob Karl Gustav die Belagerung Prags auf.1
Zahlreiche zeitgenössische Autoren, der bekannteste unter ihnen wohl der spätere Kanzler der Prager Altstadt Johann Norbert Zatočil, der als Student an den Kämpfen teilgenommen hatte, geben einen sehr ausführlichen und anschaulichen Bericht über die Ereignisse in der Stadt Prag während der Belagerung. Bei Zatočil bleibt der Anteil der Juden an der Verteidigung nicht unerwähnt – immerhin hatte Prag zur Zeit der Belagerung 7.815 jüdische Einwohner, sie stellten also rund zehn Prozent der gesamten Bevölkerung2 –, allerdings betont er, dass ihnen „auf das Schärffeste anbefohlen“ werden musste, jeden Tag 100 Mann mit entsprechender Bewaffnung und nassen Rinderhäuten auf den Altstädter Ring zu schicken; zudem sei im Zuge der Waffenrequirierungen deren geheimes Waffenversteck am Tandelmarkt ausgehoben worden.3
Das Schwėdèsch lid
Eine andere Perspektive von der Belagerung bringt das Schwėdèsch lid, ein westjiddischer Bericht über die Ereignisse in Prag.4 Der Autor erzählt quasi aus der Sicht eines Augenzeugen, wie die Juden die Angriffe er- und überlebten (oder nicht). Interessant sind die Passagen, wo der Autor die Klagen der Juden über den kaiserlichen Befehl anführt und sich gegen die Vorwürfe wehrt, die Juden hätten sich an der Belagerung bereichert. Er beklagt sich ebendort über die hohen Abgaben, die von den Juden eingefordert werden. Und er betont mehrmals die wichtige Rolle, die die Juden bei der Verteidigung Prags spielten, wo sie als Brandwache und bei der Feuerbekämpfung sowie beim Bau von Schanzen, Wällen und Gräben eingesetzt waren. Weiters spricht er von 600 Mann, die täglich zu stellen waren, Gewehren in hoher Zahl, die die Juden den Verteidigern übergeben hätten, und dass auch sie grosse Verluste an Menschenleben und erhebliche Sachschäden erlitten hatten.5 Er gibt aber kaum darüber hinausgehende Kommentare zum allgemeinen Geschehen in jenen Tagen ab und bringt auch keine breiteren Zusammenhänge oder Hintergründe; er bietet dem Leser also vornehmlich eine Mikroperspektive. Aus seinen Schilderungen geht aber eines klar hervor: Während des gesamten Dreissigjährigen Krieges bezogen viele Juden, darunter auch jene von Prag, eine klare Position: Sie hielten weiterhin in unerschütterlicher Treue zum katholischen habsburgischen Kaiserhaus.
Heeresgeschichtliches Museum, Wien, Signatur KG/45663, Johann Norbert ZATOČIL VON LÖWENBRUCK, Jahr und Tages Schrifft das ist: die Gründlich: wahrhafftig: und völlige Beschreibung der Königl(ichen) Alten und Neüen Stadt Prag, Wie diese beede Städte im 1648.ten Jahr durch 15. Wochen lang bey Tag und Nacht von denen Schweden belägert, und mit diesem Feindt durch obbenannte funffzehen Wochentl(iche) Zeit behafftet gewesen. Auff Unkosten des Herrn Johann Norberts Zatoczil von Löwenburg(!) Burgern und der Zeit Kantzlern der königl. Alt Stadt Prag in den Druck gegeben, [1685], [li: S. 59, re: S. 65f]..
Die Chronik Milchama be-Schalom
Eine weitere jüdische Quelle zur Belagerung stellt die Chronik Milchama be-Schalom („Krieg im Frieden“) dar.6 Der Autor ist der Prager Jude Jehuda Leb Porit (Porges), Schreiber des Rabbi Aaron Schimon Spira, der über detaillierte Informationen aus erster Hand zu verfügen schien.7 Er berichtet viel ausführlicher über die Ereignisse als das lid. Wie Zatočil geht auch Leb zunächst auf die militärischen Operationen Königsmarks auf dem Gebiet Böhmens vor dem Vormarsch nach Prag und schliesslich auf die Eroberung der Kleinseite und des Hradschin ein, um sich schliesslich auf die Operationen der Schweden vor Prag und die Verteidigungsbemühungen der Prager und hier im Besonderen auf jene der jüdischen Bevölkerung zu konzentrieren.8 Letztere war der feindlichen Beschiessung am stärksten ausgesetzt, da die Judenstadt nur durch die Moldau von den durch die Schweden besetzten Anhöhen getrennt war.9 Im Gegensatz zu Zatočil schreibt Leb von mehr als 200 Mann unter Waffen, die täglich in den Strassen und bei den Toren der Judenstadt patrouillierten, und einer ebenso hohen Zahl, die in der gesamten Stadt Wachdienste leisteten. Er berichtet dabei auch ausführlich über die Schanzarbeiten der jüdischen Einwohner Prags und die Schäden im Judenviertel:
„Auch die Juden, die in der Stadt waren, wurden gezwungen, einen Erdwall auf dem Weissen Berg zu machen, der vor der Stadt Prag ist, und er wurde als Erdwall der Juden auf Deutsch Juden Schanz genannt. […] Und es war am dritten Tag, am 9. Aw [28. Juli 1648, …], da fielen Teile aus dem Turm in die Judengasse und grosses Feuer über die Häuser, und alle mussten in Erdbunker gehen.“10
Die gefährliche Rolle bei der Feuerbekämpfung wird anhand eines Vorfalles, der für einige Juden tödlich, für andere mit schweren Verletzungen endete, mit dramatischen Worten geschildert: Eine nicht explodierte „Feuerkugel“ war mit einer nassen Rinderhaut bedeckt worden, die jedoch vermutlich zu früh entfernt wurde. Die Kugel explodierte, tötete neun Juden, verletzte zehn und beschädigte viele Häuser.11 Der oben angeführte Zatočil erwähnt diesen Vorfall ebenfalls, führt aber als „Fazit“ an, dass die Juden danach lust- und mutlos ans Werk gingen und vehement zur Aktivität angehalten werden mussten.12 Leb hingegen betont mit eindringlichen Worten die Opferbereitschaft und den Mut der jüdischen Bevölkerung Prags. Auch Colloredo findet in seinem Bericht an Kaiser Ferdinand III. lobende Worte für die Verteidigungsbemühungen der Prager Judenschaft.13 Lebs Bericht erstreckt sich auch über die Zeit der Belagerung hinaus bis zum Abzug der schwedischen Garnisonen aus Prag (im September 1649) und erwähnt abschliessend die Teilnahme der Juden am prächtigen Festumzug und das Entzünden eines symbolischen Freudenfeuers in der Judenstadt.14
Die beiden „jüdischen“ Berichte führen dem Leser die Auswirkungen der schwedischen Belagerung auf das Leben der Prager Juden sehr anschaulich vor Augen und stellen somit eine wertvolle Quelle für die Geschichte der Prager Juden dar.
Anmerkungen:
1 Zu den Ereignissen siehe Zdeněk Hojda, Der Kampf um Prag 1648 und das Ende des Dreissigjährigen Krieges, in: 1648. Krieg und Frieden in Europa. Politik, Religion, Recht und Gesellschaft, hg. v. Klaus Bussmann – Heinz Schilling, Münster – Osnabrück 1998, S. 403–412; Jan Kilián, Der Kampf um Prag, in: Robert Rebitsch – Jenny Öhman – Jan Kilián, 1648: Kriegführung und Friedensverhandlungen. Prag und das Ende des Dreissigjährigen Krieges, Innsbruck 1918, S. 179–243.
2 Natalia Berger (Hg.), Wo sich Kulturen begegnen. Die Geschichte der tschechoslowakischen Juden, Prag 1992, S. 31.
3 Heeresgeschichtliches Museum, Wien, Signatur KG/45663, Johann Norbert Zatočil von Löwenbruck, Jahr und Tages Schrifft das ist: die Gründlich: wahrhafftig: und völlige Beschreibung der Königl(ichen) Alten und Neüen Stadt Prag, …, [1685], [S. 27f.].
4 Das Schwėdèsch lid. Ein westjiddischer Bericht über Ereignisse in Prag im Jahre 1648, hg. v. Simon Neuberg, Hamburg 2000, v.a. S. 6–51.
5 Ebd., passim.
6 Das Original der Schrift ist nicht mehr vorhanden, sie erschien aber 1687 erstmals im Druck mit einer lateinischen Übersetzung. Österreichische Nationalbibliothek, Wien, Signatur Nr. 74. G. 21, Johannes Christophori Wagenseilii ... Exercitationes sex varii Argumenti …, 1687, …, S. 102–159.
7 Vgl. dazu Martha Keil, „Und der Ewige fügte es …“ – Hebräische Quellen zum Dreissigjährigen Krieg, in: Individuum und Gemeinde. Juden in Böhmen, Mähren und Schlesien 1520–1848, hg. v. Helmut Teufel u. a., Judaica Bohemiae XLVI Supplementum (2011), S. 87–105; Jiřina Šedinová, Hebrew Literary Sources to the Czech History of the First Half of the 17th Century. End of the Thirty Years’ War in the Testimonies of Contemporaries, in: Judaica Bohemiae 23 (1987), 1, S. 38–57, hier S. 41.
8 Šedinová, Sources, S. 42, 50–57.
9 S(alomon) H(ugo) Lieben, Kriegstage der Prager Judenstadt (1648), in: Das jüdische Prag. Eine Sammelschrift, Prag 1917, S. 44f., hier S. 44.
10 Zit. in: Keil, Ewige, S. 96.
11 Wagenseil, Exercitationes, S. 115f.
12 Zatočil, Jahr und Tages Schrifft, [S. 65f.].
13 M[aximilian] Millauer, Fernere Beiträge zur Geschichte der Belagerung der k. Hauptstadt Prag durch die Schweden im Jahre 1648. II. Ein Bericht von k. k. Feldmarschall Grafen Colloredo darüber, in: Monatschrift der Gesellschaft des vaterländischen Museums, 2. Jg., Prag, Oktober 1828, S. 283–302, hier S. 301.
14 Šedinová, Sources, S. 44, 56f.; Keil, Ewige, S. 103f.
Theatrum Europaeum – „Bestürmbung der Prager Stätte 1648“ Oder Belagerung von Prag 1648. Aus: Theatrum Europaeum, Band VI, Deutschland 1652, gemeinfrei.