2020 jährt sich zum 75. Mal der Todestag des bekannten deutschen evangelischen Theologen Dietrich Bonhoeffer, der am 9. April 1945 im Konzentrationslager Flossenbürg hingerichtet wurde. Der Theologe zwischen Glaube und Zweifel, Zaudern und Entschlossenheit, doch mit wachem Gewissen war ein profilierter Widerstandskämpfer innerhalb der „Bekennenden Kirche“ gegen den Nationalsozialismus.
Bürgerliche Geborgenheit: Kindheit und Jugend, Ausbildung, Studium und Karriere
Dietrich Bonhoeffer wurde am 4. Februar 1906 als sechstes von acht Kindern in Breslau, Niederschlesien (heute Wrocław, Polen) geboren. Er wuchs wohlbehütet in einer grossbürgerlichen Familie auf. Sein Vater Karl Bonhoeffer (1868 – 1948) war Universitätsprofessor für Psychiatrie und Neurologie, seine Mutter Paula geborene von Hase war Lehrerin, die ihre Kinder in den ersten Jahren zu Hause unterrichtete. 1912 zog Bonhoeffer mit der Familie nach Berlin-Grunewald, wo er 1923 das Abitur bestand. Es folgte eine rasante Karriere. Nach dem Studium der Theologie in Tübingen, Rom und Berlin promovierte er 1927 zum Lizenziat der Theologie und habilitierte sich, erst vierundzwanzig Jahre alt, 1930 als Privatdozent für Systematische Theologie. Danach lehrte er 1931-1933 an der Berliner Universität.
In der Bekennenden Kirche und im Widerstand gegen den Nationalsozialismus
Bei der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland kam es innerhalb der Evangelischen Kirche zu einem Kampf zwischen den Deutschen Christen und der Bekennenden Kirche. Die Deutschen Christen huldigten dem Nationalsozialismus, waren rassistisch, antisemitisch und dem Führerprinzip verpflichtet. Durch den Arierparagraphen in deren Kirchenverfassung wurden „Judenchristen“ ausgeschlossen. Darauf reagierten Protestanten, die eine Nähe zum Nationalsozialismus ablehnten, mit der Gründung der Bekennenden Kirche, die bald unter ständiger Beobachtung der Gestapo stand. Seit Beginn dieses innerkirchlichen Kampfes stand Bonhoeffer in den vordersten Reihen der Bekennenden Kirche. Im Februar 1933, wenige Tage nach der NS-Machtübernahme, hielt Bonhoeffer im Radio einen Vortrag über den Führer-Begriff, der von der Sendeleitung vorzeitig abgebrochen wurde.
Nach Aufenthalten in New York und Cambridge wirkte Bonhoeffer 1933-1935 als Pfarrer in London. Von hier aus pflegte er kirchliche Kontakte, insbesondere mit dem (anglikanischen) Bischof von Chichester, und informierte über die Vorgänge in Deutschland nach der Machtübernahme der Nazis. Während der Vorbereitung einer Reise nach Indien zu Mahatma Gandhi folgte er dem Ruf der Bekennenden Kirche zur Einrichtung eines Predigerseminars, dessen Leitung er im April 1935 übernahm. Im August 1936 wurde ihm die universitäre Lehrbefugnis entzogen. Das illegal in Hinterpommern weitergeführte Predigerseminar wurde 1937 durch Heinrich Himmler aufgelöst und 1940 von der Gestapo endgültig geschlossen.
Durch seinen Schulfreund und Schwager Hans von Dohnanyi (1902-1945) sowie seinen älteren Bruder Klaus Bonhoeffer (1901-1945) war Dietrich ab 1938 über den Widerstand gegen das NS-Regime ständig unterrichtet. Ende Mai 1939 folgte er Einladungen zu Vorlesungen in die Vereinigten Staaten, kehrte aber noch vor Kriegsausbruch nach Deutschland zurück. Mit seinen ausländischen Beziehungen und Erfahrungen stellte er sich nun der Widerstandsbewegung zur Verfügung, wobei er verschiedene Reisen ins Ausland unternahm. So begab er sich 1942 unter Einsatz seines Lebens nach Stockholm, wo er abermals mit dem Bischof von Chichester zusammentraf. Umgekehrt bekam sein älterer Bruder Klaus, der über seine Schwäger Justus Delbrück, Hans von Dohnanyi und Rüdiger Schleicher systematische Kontakte zu den verschiedenen Widerstandsgruppen unterhielt, durch ihn Zugang zum kirchlichen Widerstand. Der Jurist Klaus Bonhoeffer war in die Attentats- und Umsturzpläne des 20. Juli 1944 eingeweiht und wurde in der Nacht vom 22. zum 23. April 1945 in Berlin mit zwölf Mitgefangenen durch Genickschuss ermordet.
Bonhoeffer und die Juden: dem Rad in die Speichen fallen
Dietrich Bonhoeffer war der Umgang mit Juden vertraut. In Berlin-Grunewald war damals jeder siebente Einwohner jüdisch, Juden waren somit Nachbarn und Freunde. Eine Mitschülerin Bonhoeffers im Grunewald-Gymnasium war die Nichte des von Antisemiten ermordeten Aussenministers Walter Rathenau. Unter den Assistenten seines Vaters Karl Bonhoeffer an der Charité waren selbstverständlich Juden. Dietrichs Zwillingsschwester Sabine (1906 – 1999) war mit dem Juristen Gerhard Leibholz (1901–1982) verheiratet. Dieser und Bonhoeffers bester Freund, Pastor Franz Hildebrandt (1909 – 1985), waren jüdischer Abstammung. (Gerhard und Sabine Leibholz gelang es mit ihren Kindern 1938, rechtzeitig nach Grossbritannien zu emigrieren.) Die Bonhoeffers galten als das, was man auch nach 1945 weiterhin abschätzig als „Judengenossen“ und „jüdisch versippt“ bezeichnete.
Kirche und Theologen verdrängten lange, was sie bereits vor Hitler verdrängt hatten: ihre Schuld an den Juden, ihre Verwandtschaft mit den Juden, ihre Verpflichtung gegenüber den Juden. Bonhoeffer war eine der ganz wenigen Ausnahmen. Für ihn war die „Judenfrage“ im innerkirchlichen Kampf kein Randthema, sondern so zentral wie für keinen anderen namhaften deutschen Theologen seiner Zeit. Gleich zu Beginn des innerkirchlichen Kampfes hielt Bonhoeffer Anfang April 1933 einen Vortrag vor Berliner Pastoren zum Thema Die Kirche vor der Judenfrage. Darin wurde nicht nur die Übernahme antisemitischer Gesetze für die Kirche abgelehnt, sondern eine generelle Solidarität der Kirche mit den Opfern staatlicher Gewalt verlangt, verbunden mit der Aufforderung an seine Kirche, verfolgten Juden beizustehen. Mehr noch: die Kirche müsse nötigenfalls durch Widerstandshandlungen „dem Rad in die Speichen fallen“. Nicht alle von Bonhoeffers Amtsbrüdern wollten den Vortrag zu Ende hören: ein klares Zeichen dafür, welch starke antijüdischen Traditionen zu jener Zeit in der evangelischen Kirche Deutschlands wirksam waren.
Dietrich Bonhoeffer als Student. Foto: Privatbesitz/Reproduktion Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Inv. Nr. 0019699001.0006372, mit freundlicher Genehmigung.
Seit 1945 Märtyrer – doch erst seit 1998 formell unschuldig
Am 5. April 1943 wurde Bonhoeffer in seinem Elternhaus von der Gestapo verhaftet. Er verbrachte die ersten anderthalb Jahre seiner Haft in der Militärabteilung des Gefängnisses in Berlin-Tegel und wurde am 8. Oktober 1944 in die Sonderabteilung des Gestapo-Gefängnisses in der Berliner Prinz-Albrecht-Strasse überstellt. Nach seiner Anhaltung im KZ Buchenwald (7. Februar – 3. April 1945) verschleppte man ihn nach Schönberg im Bayerischen Wald, am 8. April schliesslich in das KZ Flossenbürg (Oberpfalz). Dort wurde der 39-Jährige von einem Standgericht zum Tode verurteilt und im Morgengrauen des 9. April 1945 gehenkt. 1956 bestätigte der Bundesgerichtshof die Ordnungsgemässheit des Standgerichts, welches Bonhoeffer und vier andere "Verschwörer" des 20. Juli 1944 zum Tode verurteilt hatte. Die westdeutschen Richter konnten keinen Rechtsbruch feststellen. Erst seit 1998, mit dem Gesetz zur Aufhebung der NS-Unrechtsurteile, gilt Bonhoeffer in Deutschland auch formell als unschuldig.
Warum kein Gerechter?
Der Protestant Bonhoeffer gehört in der römisch-katholischen Kirche längst zum Glaubensalltag. Von Seiten des Judentums steht eine angemessene Würdigung noch aus. Bereits in den 1990er Jahren gab es Bemühungen, Dietrich Bonhoeffer in die Liste der Gerechten der Völker von Yad
Vashem aufzunehmen. Dies wurde jedoch von der Commission for the Designation of the Righteous mit Hinweis auf die geltenden Kriterien abgelehnt. Das löste bei jüdischen und christlichen Exponenten heftigen Widerspruch aus. Zu Bonhoeffers 100. Geburtstag (2006) wurde die Debatte, insbesondere vom internationalen Reformjudentum, erneut angefacht. Mehrere bedeutende Persönlichkeiten, unter ihnen der bekannte Anwalt und Rabbiner Uri Regev, hatten gegen die Entscheidung der Holocaust-Gedenkstätte geklagt. Am 30. Dezember 2006 bestätigte allerdings Israels Oberster Gerichtshof die ablehnende Entscheidung der Kommission von Yad Vashem. In der Urteilsbegründung erkannten die Richter zwar an, dass Bonhoeffer 1942 geholfen habe, die zum Christentum übergetretene Jüdin Charlotte Friedenthal ins Ausland zu bringen und dadurch zu retten. Mit der Auszeichnung Gerechte der Völker würden jedoch nur Personen geehrt, die unter direkter Gefahr für das eigene Leben Juden vor der Verfolgung gerettet haben. Dieser letztlich formalistische Standpunkt des offiziellen Israel wurde von den Kritikern der Entscheidung mit Bedauern zur Kenntnis genommen.
Verleugnet, instrumentalisiert, vereinnahmt
In der NS-Zeit war Bonhoeffer einer der wenigen protestantischen Theologen, der aus christlicher Überzeugung seine Stimme gegen Nationalsozialismus und Antisemitismus erhob. Damals hielt ihn so mancher Vertreter der evangelischen Kirchen für einen Störenfried, der keinen Kompromiss mit der Staatsführung akzeptierte. Als 1953 die erste grosse Gedenkfeier für Bonhoeffer im einstigen KZ Flossenbürg stattfand, blieb der bayerische evangelische Landesbischof Hans Meiser demonstrativ fern. Und noch bis in die 1970er Jahre wurde Bonhoeffer in Zeitungsartikeln und Leserbriefen wiederholt als „ehrloser Vaterlandsverräter“ beschimpft. Lange Zeit von seiner Kirche verschämt verleugnet, hat sich sein Image längst ins Gegenteil verkehrt. Nun verkörpert er für viele Christen den „guten Deutschen“, der den Nazis die Stirn bot. Und neuerdings vereinnahmen ihn überdies politische Bewegungen vom rechten Rand [für seinen Mut, sich der Staatsmacht entgegengestellt zu haben]. Evangelikale Gruppen in Deutschland und den U.S.A. bewundern ihn für seine Frömmigkeit. Obwohl weit jenseits nationalistischer Denkmuster zu verorten, zählt ihn auch die AfD zu den „Helden der Nation in der deutschen Geschichte“, und im April 2019 wurde in der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg eine Gedenktafel der Trump-Regierung angebracht.
Von guten Mächten wunderbar geborgen ...
Weltbekannt als Zeugnis des Glaubens und freien Geistes wurde sein letzter Gebetstext, den er angesichts seiner bevorstehenden Hinrichtung im Kellergefängnis der Gestapo verfasst und einem Brief vom 19. Dezember 1944 an seine Verlobte Maria von Wedemeyer beigelegt hatte. Das inzwischen vielfach vertonte geistliche Lied endet mit den Worten:
„Von guten Mächten wunderbar geborgen, / erwarten wir getrost, was kommen mag. / Gott ist bei uns am Abend und am Morgen / und ganz gewiss an jedem neuen Tag ... /“
Quellen- und Literaturhinweise (Auswahl):
Bautz, Friedrich Wilhelm: Bonhoeffer, Dietrich, Theologe. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (BBKL). Band I (1990), Sp. 681-684: (https://www.bbkl.de/public/index.php/frontend/lexicon/B/Bo/bonhoefferdietrich-53517)
Dietrich Bonhoeffer Portal, Biografie Dietrich Bonhoeffer: (https://www.dietrich-bonhoeffer.net/biografie/)
KZ-Gedenkstätte Flossenbürg, Häftling Dietrich Bonhoeffer:
(https://www.gedenkstaette-flossenbuerg.de/de/geschichte/haeftlinge/dietrich-bonhoeffer)
Marsh, Charles: Dietrich Bonhoeffer. Der verklärte Fremde. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus: 2015. Taschenbuchausgabe 2020
Marwan, Mona: Luther, Bonhoeffer und die Juden. Bachelorarbeit, München: GRIN Verlag: 2010.
(https://www.grin.com/document/155090)
Metaxas, Eric / Mayer, Rainer: Bonhoeffer: Pastor, Agent, Märtyrer und Prophet. Holzgerlingen: Verlag SCM Hänssler 2011.
Mika, Bascha: Arnd Henze über Dietrich Bonhoeffer: „Ein Mann jenseits aller nationalistischen Denkmuster“. In: Frankfurter Rundschau in Berlin: (https://www.fr.de/politik/interview-arnd-henze-ueber-dietrich-bonhoeffer-13585190.html)
Ökumenisches Heiligenlexikon, Artikel Dietrich Bonhoeffer:
(https://www.heiligenlexikon.de/BiographienD/Dietrich_Bonhoeffer.htm)
Tietz, Christiane: Dietrich Bonhoeffer: Theologe im Widerstand. München: Beck 2013 (= Beck‘sche Reihe 2775).
Schoenborn, Paul Gerhard: „Tu deinen Mund auf für die Stummen“. Dietrich Bonhoeffers Widerstand gegen die Judenverfolgung im Dritten Reich: (http://www.christen-und-juden.de/html/bonhoeffer_juden.htm)
Zeugen für Christus. Das deutsche Martyrologium des 20. Jahrhunderts. Herausgegeben von Helmut Moll im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz, 7. Aufl. Verlag Ferdinand Schöningh Paderborn: 2019 (siehe Index Nichtkatholiken, S. 1736).
Wikipedia, Artikel Dietrich Bonhoeffer: (https://de.wikipedia.org/wiki/Dietrich_Bonhoeffer)
Wikipedia, Artikel Klaus Bonhoeffer: (https://de.wikipedia.org/wiki/Klaus_Bonhoeffer)