Ausgabe
Das Coronavirus und die Kinder der Charedim – eine Chance für die Erziehung? Teil II
Nancy Hartevelt Kobrin
Inhalt
Kürzlich hatte ich das Privileg, mich freiwillig bei Sar-el 1 zu einer Gruppe zu melden, die nach Tzrifin (Militärbasis Bahad-16), zum Heimatfrontkommando der IDF (Pikud
HaOref), geschickt wurde. Nachdem ich diese Expertensoldatinnen und Expertensoldaten getroffen habe, die sich mit Katastrophen befassen und auch wissen, dass Fallschirmjäger des Bataillons 890 und der Kommandobrigaden der 98. Division an den Charedi-Hotspots stationiert wurden, halte ich dies nicht nur für einen klugen strategischen Schritt, um das Corona-Virus einzudämmen, sondern auch für eine – nach meinem Verständnis – tiefgreifende psychologische Begegnung zwischen der säkularen Welt und den Charedim.2
Die traumatischen Erinnerungen, die diese charedischen Kinder haben, können durch das Erleben liebevoller Güte seitens des „Anderen“, der israelischen Soldatinnen und Soldaten, gemildert werden. Zum ersten Mal begegnen viele von ihnen in ihrem jungen Leben Juden aller religiösen Glaubensrichtungen, von Reformjuden bis hin zu modernen und ultraorthodoxen, neben Drusen, Christen und Muslimen, Männern und Frauen, sogar säkularen Jüdinnen und Juden, die zusammen als israelische Soldatinnen und Soldaten dienen. Es ist ein erzieherisch wichtiges Moment, das die IDF mit Bedacht genutzt hat.
Aber was ist in der Welt der Charedim schief gelaufen und was brachte ihre eigenen Rabbiner und den Gesundheitsminister – selbst ein Charedi – dazu, die Coronavirus-Pandemie nicht ernst zu nehmen, bis sie aus New York die Nachricht erhielten, dass viele ihrer eigenen Glaubensgenossen gestorben waren? Es ist umso seltsamer, wenn man bedenkt, dass die Ultraorthodoxen im Grossen und Ganzen die Wissenschaft verstehen und die bedeutenden jüdischen mittelalterlichen medizinischen Traditionen aus Spanien und dem Nahen Osten kennen. Es gibt sogar zeitgenössische Rebben (Rab-
biner), die Traktate über die Wissenschaft geschrieben haben.3
Warum haben sie während des ersten globalen Ausbruchs wertvolle Wochen verstreichen lassen und haben nicht auf die Behörden gehört? Ich habe in einem früheren Artikel4 über emotional religiöse Bevölkerungsgruppen geschrieben, darüber, dass sie sich in tiefer Verleugnung befanden und sich auf der Suche nach Trost in ihre inselartige religiöse Welt zurückzogen. Was ich jetzt schreibe, gilt für alle religiösen Glaubensrichtungen, die so tief in ihren Traditionen verwurzelt sind, dass sie die Handschrift an der Wand in Bezug auf das Coronavirus nicht sehen konnten. In christlichen oder muslimischen Gemeinschaften kann die Verleugnung natürlich im Detail unterschiedlich ausfallen. Hier spreche ich einige der wichtigsten Fragen in Bezug auf die Charedim in Israel in ihrem Verhältnis zur israelischen Streitmacht an.
Verleugnung ist ein merkwürdiger psychischer Abwehrmechanismus, der aus der frühkindlichen Erfahrung mit der Mutter während der Bindungsphase hervorgeht. Mein Kollege Norman Simms und ich haben eine Monographie geschrieben, die sich teilweise mit der Frage der Verleugnung befasst.5 Die Verleugnung überträgt sich auf tiefgreifende Weise auf das Erwachsenenalter, wie wir es gerade bei den ultraorthodoxen Rebben gesehen haben, die nicht auf die Warnungen vor Covid-19 gehört haben. Dieses Versagen ist Teil des sogenannten Bindungseffekts (Lovenheim, 2018), der insbesondere in Zusammenhang mit charismatischer Führung und einer Gruppenmentalität auftritt, die zu ängstlich bleibt, um Dinge zu hinterfragen. Ist der charedische Rebbe nur ein Kaiser, der unsichtbare Kleidung trägt? Verleugnung ist eine Abwehrstrategie, die dazu dient, das zerbrechliche, unterentwickelte Selbst vor seinen tiefsitzenden Schrecken zu schützen. Diese starken Emotionen entstehen aus unerfüllten psychischen Bedürfnissen – insbesondere aus dem Bedürfnis, nicht als Objekt für eine andere Person erlebt zu werden.
Vergessen wir nicht: Selbst diese ultraorthodoxen Rebben, die vor ihren eigenen Gemeindemitgliedern versagt haben, sind im Grossen und Ganzen in sozialer Abgeschiedenheit und Armut aufgewachsen und haben daher ihre eigenen, aus vernachlässigten psychischen Bedürfnissen hervorgehenden Rest-Ängste – unbewusste Bedürfnisse, die zu einer hochdefensiven, narziss-
tisch-grandiosen Haltung geführt und diese auch aufgebaut haben. Auch sie gehören zu den überlebenden Generationen des Holocaust. Aufgrund ihrer eigenen Verweigerungshaltung sind in den letzten Wochen viele Charedim gestorben. Diese Tragödie ist für Kinder der Ultraorthodoxen noch im Gange. Die Augen dieser Kinder wurden jedoch weit geöffnet und ihre Realität wurde von den helfenden IDF-Soldatinnen und Soldaten von Grund auf verändert. Dies ist für uns alle eine Gelegenheit, die Diskussion darüber zu eröffnen, wie die Lebensbedingungen für diese verängstigten Kinder verbessert werden können, indem ihnen bessere Bildungschancen, ein besseres Lebensumfeld und psychologische Hilfe geboten werden.
Bis zum Jahr 2065 werden 49 Prozent der israelischen Kinder voraussichtlich Charedim sein.6 Wir müssen uns jetzt mit diesen Kindern befassen, die die nächste Generation sein werden, damit sie engagiertere und aktivere, voll funktionsfähige Bürgerinnen und Bürger werden und bei der Verbesserung der Gesellschaft mitwirken können. Genau wie bei der Beobachtung über den Amisch-Jungen und den erwachsenen Charedi in der Filmszene aus Der einzige Zeuge/Witness müssen wir uns fragen: Ist alles oberflächlich und ohne Substanz? Kann es einen Weg geben, kulturelle Unterschiede aufrechtzuerhalten und dennoch in friedlicher Zusammenarbeit in einer gemeinsamen Welt oder Nation zu leben? Die Coronavirus-Krise ermutigt uns dazu, uns eingehend mit den psychischen Problemen zu befassen, welche die Gemeinschaften der Charedim und die gesamte israelische Gesellschaft heimsuchen. Es ist eine seltene Gelegenheit für Veränderungen, vor der wir uns alle nicht fürchten sollten.
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Galina Hristeva
Teil I dieses Beitrags ist in DAVID, Heft 125, Sommer 2020 erschienen.
Anmerkungen:
1 https://www.sar-el.org
2 https://www.haaretz.com/israel-news/.premium-israeli-soldiers-are-sure-they-re-saving-this-ultra -orthodox-Coronavirus-Hot-Spot-1.8750121
3 https://www.timesofisrael.com/more-basic-than-a-crisis-of-faith-will-the-virus-upend-ultra-orthodox-society/
4 https://itct.org.uk/archives/itct_article/the-danger-of-the-coronavirus-in-emotional-religious-populations
5 Sie wird im November 2020 als kostenloser Download bei MentalitiesJournal.com erscheinen
6 Https://www.jewishpress.com/news/israel/report-by-2065-49-of-israeli-children-will-be-haredi -so-wer-wird-zur-Arbeit gehen / 2019/11/12 /