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Intellektuelle Grösse und moralische Kraft In Erinnerung an Ze’ev Sternhell s. A. (1935–2020)

Monika Kaczek

Am 21. Juni 2020 starb der israelische Politologe und Historiker Ze’ev Sternhell in Jerusalem. Der Shoah-Überlebende war auch ein engagierter Sprecher für Frieden und Aussöhnung im Nahen Osten.

Inhalt

Ze’ev Sternhell wurde am 10. April 1935 in der polnischen Stadt Przemyśl als Sohn eines Tuchhändlers geboren, der früh starb. Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges konnte er als Bub gemeinsam mit einer Tante und einem Onkel aus dem Ghetto seiner Heimatstadt fliehen. Dank zweier katholischer Familien überlebte er den Krieg – seine Mutter und seine Schwester wurden Opfer der Shoah. Nach Kriegsende wurde er katholisch getauft und gelangte 1946 mit einem Kindertransport des Roten Kreuzes nach Frankreich. Im Alter von 16 Jahren emigrierte Ze’ev Sternhell in den neu gegründeten Staat Israel. Von 1957 bis 1960 studierte er Geschichte und Politikwissenschaften an der Hebräischen Universität in Jerusalem und schloss cum laude ab. Ze’ev Sternhell kämpfte in den Kriegen von 1956, 1967, 1973 und 1982 als Reservist im Libanon. 2008 wurde er mit dem renommierten Israel-Preis für Politikwissenschaft ausgezeichnet. Im selben Jahr wurde auf ihn vor seinem Wohnhaus in Jerusalem ein Bombenanschlag verübt, den er leicht verletzt überlebte. Ein Jahr später konnte die israelische Polizei den Täter, einen radikalen Siedler, verhaften.

 

Als Wissenschaftler ist Sternhell durch zahlreiche Arbeiten über die geistige Entstehungsgeschichte des Faschismus in Europa und besonders in Frankreich bekannt geworden. 2014 erschien sein Buch Histoire et Lumières (Geschichte und Aufklärung) im Verlag Albin Michel in Paris. In einem Interview mit dem Spiegel meinte er:

„Es ist eine Illusion zu glauben, dass der Faschismus 1945 in den Ruinen Berlins begraben worden wäre. Der Faschismus in Europa ist nicht mit dem Ersten Weltkrieg entstanden, und er ist nicht mit dem Zweiten Weltkrieg verschwunden. Er ist ein Teil der europäischen Kultur. Seine intellektuellen Wurzeln reichen viel tiefer zurück als seine politischen Erscheinungsformen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.“1

 

Bis zu seiner Emeritierung 2003 war er als Professor an der Hebräischen Universität in Jerusalem tätig. Darüber hinaus veröffentlichte Ze’ev Sternhell, der auch Mitglied von Schalom Achschaw war, regelmässig Kommentare in der Zeitung Haaretz, in denen er sich oft deutlich gegen den Bau jüdischer Siedlungen im besetzten Westjordanland richtete. Laut Haaretz starb Ze’ev Sternhell infolge von Komplikationen nach einer Operation. Er hinterlässt eine Frau, zwei Töchter und mehrere Enkel. In einem Nachruf schrieb der israelische Anwalt und Menschenrechtsaktivist Michael Sfard über seine erste Begegnung:

„Ze‘ev war klug, kenntnisreich und voller Brillanz. Aber das waren nicht diese Eigenschaften, die unsere Herzen eroberten. Wir wurden von seiner einzigartigen Kombination aus intellektueller Grösse und moralischer Kraft mitgerissen.“2

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Ze’ev Sternhell, Berlin, 2. Oktober 2016 (Foto: Alexander Böhm, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ze’ev_Sternhell_in_Berlin_(2016).jpg , Creative Commons Attribution-Share Alike 4.0 Interna

Anmerkungen:

1 Julia Amalia Heyer und Romain Leick: „Faschismus ist Teil unserer Kultur“. In: DER SPIEGEL; 07.07.2014, https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-127985806.html (abgerufen: 13.07.2020

2 Michael Sfard: Vale Ze’ev Sternhell: ‘An Israeli model of a committed public conscience academic’. In: Plus61J, https://plus61j.net.au/?s=Sternhell (abgerufen:14.07.2020)