Reformierte in Österreich (Evangelische H.B.) lassen sich meist ungern mit Johannes Calvin in Verbindung bringen, obwohl dieser doch der bedeutendste unter den Reformatoren ist. Mit ein Auslöser dieser Berührungsangst ist nicht zuletzt der Wiener Schriftsteller Stefan Zweig mit seinem Roman „Castellio gegen Calvin oder Ein Gewissen gegen die Gewalt“ von 1936. Darin erscheint Calvin als Diktator, der einen Spitzel- und Überwachungsstaat aufgebaut und seine Lehre zur Staatsdoktrin erhoben hätte und Gegner gnadenlos verfolgt, vertrieben oder bestraft hätte bis hin zum Tod auf dem Scheiterhaufen der Inquisition.
Stefan Zweig gelingt die schonungslose Enttarnung des Nationalsozialismus und des faschistischen Staates im Gewand einer historischen Monografie. Bereits 1917 hatte Zweig mit seinem Jeremias eine historische, biblische Figur zu einem starken politischen Statement gegen die Kriegsbegeisterung gestaltet. Im Jeremias wie im Castellio gegen Calvin geht er mit den historischen Fakten durchaus frei und mitunter sogar fehlerhaft um. Allerdings war das Bild von Calvin auch in der Kirchengeschichtsschreibung – selbst jener reformierter Historiker – bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts durchweg negativ, wie auch die üblichen Abbildungen dazu, die einen verknöcherten, kranken, krankhaft Verbissenen zeigen. Noch im Jubiläumsjahr 2009 konnte vor diesem Hintergrund das renommierte Handelsblatt seinen Calvin-Artikel mit Der Taliban von Genf titeln. Die „Allmacht über Stadt und Staat“, die Zweig Calvin unterstellt, ist wohl eine zutreffende Versinnbildlichung Hitlers. Doch auch nur ein oberflächlicher Blick auf Calvins Leben vermittelt ein gänzlich anderes Bild: Calvin war die längste Zeit seines Lebens ein Flüchtling.
Jean Calvin (geboren 1509 im nordfranzösischen Noyon, gestorben 1564 in Genf) musste bereits im November 1533 in Frankreich untertauchen. Er hatte die von evangelischem Erneuerungswillen geprägte Antrittsrede seines Freundes Nikolaus Cop als Rektor der Sorbonne (mit-)verfasst. Er war während seines Jus- und anschliessenden Theologiestudiums in die Kreise und an das Gedankengut der Lutheraner gekommen. Zuflucht fand er am Hof der älteren Schwester Franz I. von Frankreich, Margarete von Navarra (Grossmutter des späteren Hugenottenführers und Königs Heinrich IV.), wo diese reformatorische und humanistische Denker um sich versammelte. Kein Jahr später, nachdem es die „Plakat - affäre“, ein Pamphlet gegen die katholische Messe, bis ins Schlafzimmer des Königs geschafft hatte, musste Calvin Frankreich für immer verlassen. Er landete zunächst in Basel, wo er sein Hauptwerk verfasste: die Institutio Christianae Religionis. Sie war die erste umfassende Zusammenstellung der evangelischen Lehre und machte ihn auf Anhieb europaweit und letztlich auch weltweit zur massgeblichen Autorität für die Reformation.
Renata von Ferrara (Renée de France), Schwägerin des französischen Königs, die Hugenotten aufnahm und die Reformation in Norditalien förderte, holte Calvin als Hauslehrer an ihren Hof. Allerdings wurde er nach einigen Monaten von dem (wohl nicht ganz zu Unrecht) eifersüchtigen Ehemann vertrieben. Auf der Rückreise nach Basel, wo er sich um seine Schwester und seinen Bruder kümmern wollte, die wegen Männer- bzw. Geldgeschichten wiederholt in Schwierigkeiten geraten waren, wurde er 1536 auf Station in Genf von Guillaume Farel angehalten, der ihn geradezu nötigte, in Genf zu bleiben um ihn bei der Durchsetzung der Reformation, zu der sich Genf 1535 erklärt hatte, tatkräftig zu unterstützen. Der erste Versuch, die Bürger auf den von ihm verfassten Genfer Katechismus zu vereidigen, scheiterte. Alteingesessene Adels- und Ratsfamilien widersetzen sich, nach der Abschaffung der alten Ordnung sich einer neuen zu unterwerfen. So wurden infolge einer Intrige die Reformatoren des Landes verwiesen.
In Strassburg verschaffte ihm der dortige Reformator Martin Bucer die Stelle des Pfarrers der Flüchtlingsgemeinde. Calvin – Reformator der zweiten Generation – war niemals geweihter Priester oder Mönch, sondern gewählter evangelischer Pfarrer. 1540 heiratete Calvin auf Vermittlung Bucers Idelette de Bure, die Witwe eines Täufers. Doch das Familienglück blieb ihnen verwehrt. Der 1542 geborene Sohn verstarb nach kurzer Zeit. Weitere Totgeburten folgten. Calvin pflegte seine während der Pestepidemie 1545 schwer erkrankte Idelette bis zu ihrem Tode 1549.
1541 drängte eine eigens nach Strassburg entsandte Delegation Calvin, nach Genf zurückzukehren. Die Souveränität des Stadtstaates sei durch die Rückholversuche des sehr einflussreichen und überzeugend agierenden Reformkardinals Jacquet Sadolet gefährdet. Von nun an konnte Calvin sein Reformwerk durchsetzen. Im Unterschied zu fast allen anderen in der Reformation nahm er eine klare Unterscheidung zwischen der kirchlichen und der politischen Gewalt vor.
Der Junge Calvin. Unbekannter Meister des 16. Jahrhunderts, möglicherweise das Brautbild, zu dem im entgegengesetzen Profil eines von Idelette de Bure gehörte. Wallonisch-Niederländische Gemeinde Hanau, mit freundlicher Genehmigung.
Dr. Johannes Langhoff, geboren 1952 in Thüringen, aufgewachsen in Brandenburg, Studium der Theologie an der Humboldt-Universität Berlin, Assistenz und Promotion an der Universität Greifswald, wissenschaftliche und ökumenische Tätigkeiten, 17 Jahre lang Pfarrer in reformierten und lutherischen Gemeinden zu Potsdam und Berlin, Mitarbeit in Gremien der reformierten und unierten Kirche mit den Schwerpunkten Theologie, Ökumene und Aufarbeitung der Geschichte, 1997-2017 einer der beiden Gemeindepfarrer an der Reformierten Stadtkirche Wien, im Ruhestand als freier Kulturberichterstatter tätig, Mitglied im Österreichischen Journalisten Club.
Teil II dieses Beitrags erscheint in DAVID Heft 127, Chanukka 5781/Dezember 2020.