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Die Wiener Gesera 1420/21 Das gewaltsame Ende des jüdischen Lebens im mittelalterlichen Herzogtum Österreich

Eveline Brugger/Birgit Wiedl

Vor 600 Jahren setzte der Habsburger Herzog Albrecht V. die als „Wiener Gesera“ bekannt gewordene Judenverfolgung in Gang, die die mittelalterliche jüdische Ansiedlung im Herzogtum Österreich vernichtete und deren Hintergründe und Motive immer noch – teilweise kontrovers – diskutiert werden.

Inhalt

Die Wiener Gesera 1420/21

Das gewaltsame Ende des jüdischen Lebens im

mittelalterlichen Herzogtum

Österreich

 

 

Vor 600 Jahren setzte der Habsburger Herzog Albrecht V. die als „Wiener Gesera“ bekannt gewordene Judenverfolgung in Gang, die die mittelalterliche jüdische Ansiedlung im Herzogtum Österreich vernichtete und deren Hintergründe und Motive immer noch – teilweise kontrovers – diskutiert werden.

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Gedenktafel für die Opfer der Gesera 1421 am Haus Wien 3, Kegelgasse 40. Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:2008.03.22.1030Wien.Kegelgasse40.Judenverfolgung1421.03.12..JPG

Ende Mai 1420, kurz bevor er zum Feldzug gegen die böhmischen Hussiten aufbrach, befahl Albrecht V. die Gefangennahme der Juden seines Herzogtums. Viele wurden zwangsgetauft. Diejenigen, die die Taufe verweigerten, blieben entweder in Gefangenschaft oder wurden, wenn sie nicht vermögend waren, auf Booten ohne Ruder auf der Donau ausgesetzt. In den Sommermonaten wurde die jüdische Bevölkerung aus zahlreichen nieder- und oberösterreichischen Orten vertrieben.

 

Nach der Rückkehr von seinem unglücklich verlaufenen Feldzug liess der Herzog die gefangenen Juden foltern, um sie neben der Taufe auch zur Preisgabe ihres Besitzes zu zwingen, den er sogleich konfiszieren liess. Die Rabbiner Aron Blümlein und Meisterlein von Perchtoldsdorf starben unter der Folter, viele andere in der Gefangenschaft. Laut der Gesera (wörtlich: Verhängnis), dem frühneuzeitlichen jiddischen Bericht, der der Verfolgung ihren Namen gab, kam es in der Wiener Synagoge zu einem Massenmartyrium, bei dem Rabbi Jona und eine Frau zunächst die anwesenden Gemeindemitglieder und anschliessend sich selbst töteten, um der Zwangstaufe zu entgehen. Diese Schilderung folgt dem seit den Kreuzzugsverfolgungen etablierten Topos des Kiddusch ha-Schem („Heiligung des göttlichen Namens“ durch den Märtyrertod). Der konkrete historische Wahrheitsgehalt des Berichts ist für die Ereignisse von 1420/21 allerdings fraglich. Gesichert ist hingegen, dass zahlreiche jüdische Kinder verschleppt und zwangsgetauft wurden, was eine jüdische Intervention bei Papst Martin V. zur Folge hatte, der in einem Schreiben an Herzog Albrecht das bestehende kirchenrechtliche Verbot der Taufe von Kindern gegen den Willen der Eltern erneut betonte.

 

Am 12. März 1421 wurden die noch in Wien verbliebenen überlebenden Juden (laut der Gesera 210 Personen) auf der Gänseweide in Erdberg (heute: 3. Wiener Gemeindebezirk) verbrannt. Als Grund nannte der Urteilsspruch des Herzogs eine angeblich vorangegangene Hostienschändung durch die Juden von Enns. Quasi zur Untermauerung des Vorwurfs wurde einen Monat nach der Verbrennung auch die Ennser Mesnerin, die des Verkaufs der Hostien an die Juden beschuldigt wurde, hingerichtet. Der Vorwurf der Hostienschändung war schon seit dem frühen 14. Jahrhundert einer der am weitesten verbreiteten antijüdischen Topoi und hatte in Österreich mehrfach als Begründung für Judenverfolgungen (etwa 1305 in Korneuburg und 1338 in Pulkau) gedient. Albrecht versuchte wohl, durch die Heranziehung dieses Vorwurfs sein Vorgehen vor allem dem Papst gegenüber nachträglich zu rechtfertigen.

 

Die Motive Herzog Albrechts V. waren bereits unter seinen Zeitgenossen umstritten und sind bis heute nicht ganz klar. Bemerkenswert ist seine Abkehr von der bisherigen habsburgischen Judenpolitik, die zwar ab der Mitte des 14. Jahrhunderts immer stärker auf finanzielle Ausbeutung fokussiert war, aber trotzdem die jüdischen Untertanen, die als Teil des herzoglichen Schatzes gesehen wurden, explizit unter den Schutz des Herzogs stellte. Im Gegensatz zu vielen anderen deutschsprachigen Territorien, in denen spätestens seit der Pestzeit 1348/51 zahlreiche Judenverfolgungen mit Billigung oder sogar auf Initiative des jeweiligen Landesherren stattfanden, war die Gesera die erste und einzige mittelalterliche Judenverfolgung im Herzogtum Österreich, die nicht von der Bevölkerung, sondern vom Herzog selbst ausgegangen war.

 

Wirtschaftlich profitierte Herzog Albrecht V. unzweifelhaft von der Konfiskation des jüdischen Besitzes und der Kassation der Schuldbriefe, die nun an ihn zurückzuzahlen waren. Gesicherte Aussagen über Umfang und Wert der herzoglichen „Beute“ sind allerdings nicht möglich, weil die Schatzgewölberegister, die die geraubten Gegenstände und Urkunden aufgelistet hatten, verloren sind. Trotz eines Rückgangs der wirtschaftlichen Bedeutung der jüdischen Bevölkerung, den die Vorgänger Albrechts und auch er selbst durch eine Reihe von Schutzprivilegien und Entschädigungen nach dem Brand der Judenstadt von 1406 abzumildern versucht hatten, ist aber anzunehmen, dass die laufenden Einnahmen aus Judensteuern und Sonderabgaben die einmaligen Erträge, die der Herzog durch die Beraubung der Juden erzielte, übertroffen hätten: längerfristig gesehen hatte sich der Herzog somit finanziell eher geschadet. Zudem musste er Schadenersatzforderungen der neuen Landesherren der geflüchteten Juden, des ungarischen Königs (und künftigen Kaisers) Sigismund sowie des steirischen Herzogs Ernst des Eisernen, begleichen. Weiters verschenkte Albrecht etliche ehemals jüdische Wiener Häuser an Adelige und Wiener Bürger, aber auch an Konvertiten bzw. zwangsgetaufte Kinder.

 

Albrechts finanzielle Fürsorge für diese „Neuchristen“, die neben den erwähnten Schenkungen auch in Form von Stiftungen für die christliche Erziehung der zwangsgetauften Kinder belegt ist, passt nicht in das Bild einer rein finanziell motivierten Verfolgung. Vielmehr deuten gerade die Zwangstaufen auf ein religiöses Motiv hin. Treibende Kraft dahinter war vor allem die junge Theologische Fakultät der Wiener Universität, der der Herzog eng verbunden war. Bereits 1419 hatten österreichische Theologen vor einer angeblichen Kollaboration der Juden mit den Hussiten gewarnt. Auch dieser Vorwurf der Unterstützung eines äusseren Gegners war nicht neu, sondern war schon in der Mongolenzeit 1240/41 gegen die jüdische Bevölkerung erhoben worden. Die Wiener Theologen kritisierten die grosse Anzahl der Juden, ihren angeblich luxuriösen Lebenswandel und ihre „abscheuliche[n] Bücher, die sie zur Lästerung des Schöpfers, zur Verspottung aller Heiligen und zur höchsten Schmach aller Christen“ hätten. Letzteres war eine neue, für die Juden bedrohliche Entwicklung, da im Heiligen Römischen Reich (im Gegensatz zu Frankreich) die Verdammung der jüdischen heiligen Bücher bis dahin nur ein theologisches Randthema gewesen war. Gleichzeitig teilte die Wiener Theologie die seit dem Konzil von Konstanz 1414 zunehmend vertretene positive Einstellung zur – kirchenrechtlich immer noch verbotenen – Zwangs-
taufe, die auch eines der Hauptmotive Albrechts gewesen sein dürfte. Zudem profitierte die Wiener Universität sowohl symbolisch als auch wirtschaftlich von der Katastrophe des österreichischen Judentums: die Steine der demolierten Synagoge wurden als Baumaterial für die Neue Schule, einen Neubau der Wiener Universität in der Bäckerstrasse verwendet.

 

Um 1500 wurde an der Fassade des Hauses Nr. 2 auf dem Wiener Judenplatz, dem sogenannten Jordanhaus, eine Darstellung der Taufe Jesu mit einer lateinischen Inschrift angebracht, die mit Bezug auf die Ereignisse von 1421 an die „Sühnung“ der „schrecklichen Verbrechen der Hebräerhunde“ durch das Feuer erinnert und die bis heute dort zu sehen ist. 1998 wurde eine von der Erzdiözese Wien gestiftete Gedenktafel hinzugefügt, die die “Christen in Wien“ als Täter nennt, wobei es sich bei der Gesera eigentlich um die einzige mittelalterliche Judenverfolgung im Herzogtum Österreich handelte, die eben nicht von der Bevölkerung, sondern vom Herzog ausging. Auf diesen Umstand sowie auf die Beteiligung der Wiener Theologie verweist mittlerweile eine Gedenktafel nahe der Verbrennungsstätte in Erdberg (Kegelgasse 40 beim Hundertwasserhaus).

 

Literatur (Auswahl):

BRUGGER, Eveline: Die „Wiener Gesera“ von 1420/21 – Hintergründe, Ablauf und Folgen. In: Dialog/DuSiach 119 (2020), S. 21-32..

KEIL, Martha: What happened to the “New Christians”? The “Viennese Geserah” of 1420/21 and the forced Baptism of the Jews. In: Philippe Buc/Martha Keil/John Tolan (Hrsg.): Jews and Christians in Medieval Europe: The Historiographical Legacy of Bernhard Blumenkranz. Turnhout: 2016, S. 97–114.

LOHRMANN, Klaus: Die Wiener Juden im Mittelalter. Berlin-Wien: 2000, S. 155-173.

 

Eveline Brugger, seit 1995 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für jüdische Geschichte Österreichs.

Birgit Wiedl, seit 2000 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für jüdische Geschichte Österreichs.