Roland Tasch: Samson Raphael Hirsch. Jüdische Erfahrungswelten im historischen Kontext.
Berlin New York: De Gruyter 2011. 488 Seiten, Euro 129.59. ISBN 978-3-11-025109-8.
Samson Raphael Hirsch, der Begründer der Neoorthodoxie, war einer der bedeutendsten deutschen Rabbinerpersönlichkeiten des 19. Jahrhunderts, dessen Einfluss und Wirken bis zur Gegenwart spürbar und nachvollziehbar ist. Erfreulich ist, dass er nun auch im Rahmen der jüdischen Studien durch eine Monographie, die als Dissertation unter Christoph Schulte an der Universität Potsdam entstanden ist, gewürdigt wurde.
Hirsch war der Sohn einer Kaufmannsfamilie in Hamburg und wirkte von 1830 bis 1841 als Landesrabbiner von Oldenburg, von 1841 bis 1847 als Rabbiner in Emden, von 1947 bis 1851 als Landesrabbiner von Mähren mit dem Sitz in Nikolsburg (auf Empfehlung von Isaak Noah Mannheimer) und ab 1851 bis zu seinem Tod 1888 Rabbiner der orthodoxen Separatgemeinde in Frankfurt am Main.
Er war Rabbiner in einer Zeit der historischen und innerjüdischen Umbrüche, und sowohl in Nikolsburg als auch in Frankfurt am Main stiess Hirsch auf desolate innerjüdische Verhältnisse. Auf der einen Seite wirkten in seiner Lebenszeit die radikalen Reformer mit Abraham Geiger an der Spitze, auf der anderen Seite gründete Chatam Sofer 1850 die Pressburger Jeschiwa, die strengorthodoxe und kompromisslose Rabbiner ausbildete, die die weltliche Bildung ablehnten und für die der berühmte Grundsatz galt: Alles neue ist verboten.
Das Festhalten von Hirsch an der Halacha, bei gleichzeitiger Bejahung der weltlichen Bildung - praktiziert in seinen erfolgreichen Schulgründungen - , sein Bejahen äusserer Reformen (die Modernisierung und Ästhetisierung des Gottesdienstes und der Synagogen, die Einführung des Chorgesangs) und sein aktives Eintreten für die politische Emanzipation machten ihn zu einem der wichtigsten Pioniere der modernen Orthodoxie. Eine gewisse Inkonsequenz, die Tasch aus den historischen Umständen der Zeit sehr schlüssig und nachvollziehbar erklärt, war die von Hirsch vollzogene Abschaffung des Kol Nidre
In seinem einflussreichen Werk „Neunzehn Briefe über das Judentum" schrieb Hirsch den wichtigen Satz: „Wir Juden bedürfen der Reform durchs wiedererkannte, geistig erfasste, mit aller Tatkraft verwirklichte Judentum".
Eine Schlüsselstellung nahm im Wirken von Hirsch die Predigt ein; in der Synagoge und in seinen Schriften rekurrierte er dabei mit Zitaten aus den Werken von Goethe, Schiller, Lessing, Tacitus, Cicero, Vergil etc. auch immer auf das klassisch humanistische
Bildungsgut.
Die Arbeit ist in einen historisch-biographischen und einen werkanalytischen Teil gegliedert Einleitend skizziert der Autor weiters die Rezeptionsgeschichte in Deutschland vor und nach der Shoah, für die Zeit nach 1945 auch in Israel und in den USA. Das einzige, was man in dem sehr gründlich recherchierten und auch gut geschriebenen Buch vermisst, ist eine Darstellung der Rezeption von Hirsch im gegenwärtigen jüdischen Diskurs.