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Die schräge Säule eines Wohnbaus mit einem Penny-Markt im Erdgeschoss markiert heute das Eck Brunnengasse - Grundsteingasse. „Dichterhof" heisst das neue Haus mit den Loggien über dem Brunnenmarkt und der schicken Tolle am Dach. 59 Wohnungen gibt es hier, und wer genau schaut, wird am Eingang hinter der Polizeistation eine Gedenktafel entdecken. Sie erinnert an das Warenhaus Dichter, das einst hier stand.
von l.n.r.: Vier Generationen der Familie Dichter - Onkel Isidor Dichter, Grossvater Leopold Dichter,Walter Aptowitzer, Urgrossvater Salomon Dichter, ca. 1925.
Die Gegend um den Brunnenmarkt ist ein Kosmos für sich. Tagsüber herrscht hier ständig reges Treiben, viele Menschen unterschiedlichster Herkunft drängen sich durch Stände mit Obst, Gemüse, Käse oder Fleisch, dazwischen gibt es Gürtel, Wäsche und Gewand zu kaufen, in einigen Auslagen versprühen schillernde Abend- und Ballkleider ständig Hochzeitsstimmung der exotisch-orientalischen Art, auch türkische Bäckereien und Cafès gibt es viele. Bis zum Jahr 2005 hielt das Warenhaus „Osei" am prominenten Eck Brunnengasse - Grundsteingasse die Stellung.
„Das Beste billig" lautete der Slogan des findigen Geschäftsmannes Oskar Seidenglanz, der unter demselben Label auch in der Brigittenau, in Simmering und Neubau Textilwaren und Damenmoden günstig unters Volk brachte. 1953 hatte Seidenglanz das Warenhaus mit dem runden Eck in Ottakring gekauft, jahrzehntelang florierte das Geschäft mit günstiger Wäsche und billigen Kleidungsstücken. Ein Teil der hochwertigen Ware stammte aus Restposten von Firmen wie Palmers, Huber und Mäser, deren Etiketten in den betriebseigenen Nähereien ausgetauscht wurden. In den ersten beiden Geschossen sondierte die Kundschaft zwischen verspiegelten Säulen die Schnäppchen auf diversen Wühltischen durch, in den Stockwerken darüber gab es Nähereien und Büros. Ab Mitte der 80er Jahre aber ging das Geschäft immer schleppender, Ende Jänner 2005 schloss das Kaufhaus seine Pforten, kurz darauf wurde es an die „conwert Immobilien Invest SE" verkauft, bis 2007 stand es leer.
Bezirk und Eigentümer räumten den alteingesessenen Künstlerkollektiven „Masc Foundation/39Dada" aus der Grundsteingasse das Recht ein, es interimistisch für künstlerische Aktivitäten zu nutzen. „Es war ein schönes, architektonisch interessantes Gebäude. Man hat gespürt, dass es etwas Besonders ist", sagt Richard Schütz, einer der Initiatoren. Die Künstler begannen zu recherchieren und setzten eine Kette von Ereignissen in Gang. Vier Ausstellungen kamen zustande, die nach und nach auch die Geschichte einer Arisierung und das Schicksal der jüdischen Familie Dichter zutage brachten.
Zeichnung vom Umbau 1934. ©: Walter Arlen - Masc Foundation/39Dada
Sänger und Dichter
Im Mai 2005 wurde das leere Warenhaus erstmals bespielt. Alle noch vorhandenen Originalutensilien - Verkaufspulte, Wühltische, Lampen, Umkleidekabinen - wurden zum Schauplatz und Ausgangspunkt künstlerischer Interventionen. Man lud ortsansässige und interessierte KünstlerInnen ein, sich mit der Geschichte des Warenhauses auseinander zu setzen, dabei drangen Josef Gerger (Larry Fortansky Stiftung) und Elizabeth McGlynn bis an seine Wurzeln vor: Das Gebäude wurde um 1880 gebaut, zehn Jahre darauf gründeten Leopold und Regine Dichter das gleichnamige Warenhaus am Eck, in dem es nicht nur Textilien, sondern auch Leder, Spielzeug, Küchengeräte, Parfums, Schreibwaren und alle möglichen Dinge zu kaufen gab, die Menschen um die Jahrhundertwende brauchen konnten.
Über dem Geschäft hatte die Familie ihre Wohnung, wo 1920 Dichters Enkel Walter Arlen als Sohn von Mina Dichter und Michael Aptowitzer geboren wurde. Er war ein hochmusikalisches Kind mit einem absoluten Gehör: Walter erinnert sich daran, dass er auf die Budel gestellt wurde, um zu singen. Der Schlager „Wenn die letzte Blaue geht" erwies sich dabei als besonders populär. Er bildete später die Grundlage für eine Komposition. 1925 wurde seine Schwester Edith geboren, die einen Teil ihrer frühen Kindheit als Ballettelevin an der Wiener Staatsoper verbrachte. Ab ihrem siebten Lebensjahr bekam sie dort an vier Nachmittagen pro Woche Tanzunterricht, 1935 wirkte das Mädchen sogar an der Welturaufführung der „Giuditta" von Franz Lehar mit. Das war der Höhepunkt und zugleich das Ende ihrer Tanzlaufbahn, die sie in der Emigration nicht mehr fortsetzte.
Cousin Ernest W. Dichter, der später zum Vater der Motivforschung avancierte, stammte aus einer armen jüdischen Einwandererfamilie. Er arbeitete im Kaufhaus seines Onkels als Sekretär und Verkäufer und stieg schliesslich zum Schaufensterdekorateur auf. Nach Vorlage einer amerikanischen Zeitschrift baute er ein Drei-Röhren-Radio, um durch Musik mehr Atmosphäre ins Warenhaus zu bringen: das war damals eine Sensation, kam bestens an und kann als Vorläufer der heute schon inflationären Warenhausmusik betrachtet werden. Nach bestandener Externistenmatura studierte Ernest W. Dichter an der Universität Wien und der Sorbonne in Paris Psychologie. 1934 eröffnete er seine eigene Praxis und arbeitete bei der Österreichischen Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle und am Psychotechnischen Institut der Stadt Wien mit.
Das Warenhaus Dichter um 1910. ©: Walter Arlen - Masc Foundation/39Dada
Moderne Warenhaus-Ikone
1935 wurde das Warenhaus nach Plänen des jüdischen Architekten Philipp Diamandstein in grossem Stil renoviert. Diamandstein realisierte auch mit Clemens Holzmeister und Max Fellerer die sogenannten Assanierungsbauten auf den ehemaligen Freihausgründen in Wien 4, Rechte Wienzeile 7 und 9/Ecke Faulmanngasse. Damals kam der gründerzeitliche Bestand des „Warenhaus Leopold Dichter" zu seiner klassisch modernen Verbrämung. Die elegante, gläserne Sockelzone mit Vordach und eingeschnittenem Eingang am runden Eck, das von Glasscheiben, die sich als vertikales Band bis zum Dach zogen, noch betont wurde, prägten bis zuletzt seinen Charakter. Das Warenhaus Dichter florierte, Walter Arlen erinnert sich an 85 Angestellte. Es war das grösste und modernste Kaufhaus ausserhalb des Gürtels - bis nach dem „Anschluss" kein Stein mehr auf dem anderen blieb.
„Was dann auch am ersten Tag passiert ist: Das Geschäft hat nicht geöffnet. Natürlich waren die Angestellten im Geschäft wie jeden Tag, aber die Türen waren geschlossen. Am Markt hat sich eine riesige Menge von Leuten angesammelt, man hat dieses Reden gehört und die Drohungen, aber sie haben die Scheiben nicht zerbrochen, nicht eine, und sind nicht in das Geschäft eingedrungen. Ich hatte Angst, dass sie eindringen würden und das Geschäft plündern. Es wäre eh ,wurscht‘ gewesen, aber sie haben es nicht getan. Das ist dann zwei oder drei Wochen so weitergegangen",
erinnern sich Edith Arlen Wachtel und Walter Arlen.1 Ab dem 11. März durften die Kinder nicht mehr in die Schule gehen, in der Nacht vom 13. auf den 14. März verwüsteten SA-Männer das Warenhaus und die Wohnung, misshandelten Walter, verhafteten dessen Vater Michael Aptowitzer, plünderten Schmuck, Sparbücher und Wertgegenstände. „Sie gefährdeten uns im eigenen Haus. Einer riss die Telefonapparate von der Wand, ein anderer konfiszierte die Autos, wieder andere schmissen Familienmitglieder hinaus, die im Warenhaus arbeiteten", erinnert sich Walter Arlen. „Das Jahr, das ich unter Hitler bis zum 14. März 1939 in Wien verbrachte, war die tägliche Hölle."
Das Warenhaus Dichter wurde arisiert, die Geschäftsgelder auf ein Sperrkonto gelegt, Walter, seine Schwester Edith, seine Mutter Mina und sein Grossvater Leopold zogen in die Pension Athen im neunten Bezirk. Ihr Warenhaus ging in den Besitz des Bankiers Edmund Topolansky über, bei dem sie sich ihren Lebensunterhalt erbetteln mussten. Im Oktober 1938 emigrierte der Grossvater in die USA, sie zogen zur Aptowitzer Grossmutter nach Hernals, am 15. Mai wurde Walters Vater Michael verhaftet, zuerst nach Dachau und dann nach Buchenwald verschleppt. 1939 erfolgte die Liquidation des privaten Bankhauses Topolansky. Am 14. März desselben Jahres floh Walter Arlen aus Wien, einen Tag, bevor sein Visum in die USA erloschen wäre. Im Mai wurde Michael Aptowitzer aus dem Konzentrationslager entlassen, der Familie glückte die Flucht nach England, für die Grossmutter gab es keine Rettung mehr. Sie wurde zuerst nach Theresienstadt, später nach Treblinka deportiert und 1942 ermordet.
Ernest Dichter ging bereits 1938 ins Exil nach Paris und emigriere in die USA, wo er 1946 in der Nähe von New York sein „Institute for Motivational Research" gründete. Später war er für die amerikanische und italienische Regierung, die ÖVP, SPÖ, IBM oder Chrysler tätig, auch Stanley Kubrik soll beim bahnbrechenden Film „Dr. Seltsam oder wie ich lernte die Bombe zu lieben" seinen Rat gesucht haben. 1946 gelang es auch dem Rest der Familie, über England nach Amerika zu emigrieren. In Chicago lebte Hannah Doppelt, geborene Dichter, die Schwester von Leopold Dichter. Ihre Tochter Fanny heiratete den erfolgreichen Rechtsanwalt Abe Pritzker, der es zum Millionär brachte, die Hyatt Hotel Gruppe gründete und den Pritzker Preis stiftete, die weltweit renommierteste Auszeichnung für Architektur. Walter Arlen besuchte viele Konzerte des Chicago Symphonie Orchestra, hörte Igor Stravinsky und Sergei Rachmaninov live, studierte Kontrapunkt, zog 1951 zu seiner Familie nach Santa Monika, machte seinen Master in Komposition und wurde Musikkritiker der „Los Angeles Times". Ausserdem leitete er das Departement für Musik an der Loyola University in Chicago.
Das Warenhaus Dichter um 1930. ©: Walter Arlen - Masc Foundation/39Dada
Symbolische Sammlung
1953 wurde nach einem Rückstellungsverfahren das Warenhaus Dichter zu einem äusserst günstigen Preis an Oskar Seidenglanz verkauft. Damit begannen die Zeiten des „osei."
Bei der Recherche für das Buch „Vertrieben. Erinnerungen burgenländischer Juden und Jüdinnen", das 2004 im Mandelbaum-Verlag erschien, stiessen Gert Tschögl und Eva Brunner-Szabo über das Wochenendhaus der Dichters in Sauerbrunn auf Walter Arlen und Edith Arlen Wachtel. Die Interviews, die Eva Brunner-Szabo mit ihnen führte, waren bei der Ausstellung „Sammlung Dichter" im Warenhaus zu sehen. Sie wurde zu Ehren der ursprünglichen Besitzer von der „Masc foundation/39 Dada" als symbolisches Geschenk und Geste der Wiedergutmachung ins Leben gerufen. Am 20. Mai 2006 war die feierliche Eröffnung. Getönte Farben an den Wänden adelten die ehemaligen Verkaufsräume zu einem vornehmen Umfeld für die Werke von über 50 beteiligten KünstlerInnen der imaginären Sammlung Dichter. Damals wurde auch die Website www.sammlungdichter.com ins Netz gestellt, auf der man sich bis heute über die Geschichte der Familie und ihres Warenhauses informieren kann. Nach dem eintätigen Schlussakkord „Sag zum Abschied leise Servus" wurde das Warenhaus im Frühjahr 2007 abgerissen.
„Wieso gibt es in Wien übrigens kein Hyatt Hotel?", fragte Walter Arlen in Anspielung an seinen vermögenden Verwandten Abe Pritzker, als er nach einer langen Odyssee im Juni 2007 seine Geburtsstadt bereiste, um die Verzichtserklärung des Entschädigungsfonds zu unterschreiben. Damals trafen ihn die Künstler aus der Grundsteingasse erstmals persönlich und konnten ihn dazu bewegen, zur Eröffnung des „Dichter Herbst" am 5. Oktober 2007 wieder zu kommen. Die Arbeitsgruppe „Ernest Dichter" (Stefanie Lahm, Andrea Morawetz, Karina Krummreich) und viele Ausstellungsräume aus der Grundsteingasse beteiligten sich daran, die dortige ehemalige Tankstelle stand mit dem Plakat „Kunst muss nicht hochnäsig sein" ganz unter dem Zeichen von Ernest W. Dichter und wurde temporär zum Kino. Unter anderem zeigte man Stanley Kubriks „Dr. Strangelove" und eine Aufzeichnung des Nachtstudios „Franz Kreuzer im Gespräch mit Ernest Dichter".
Das Warenhaus Dichter um 1937. ©: Walter Arlen - Masc Foundation/39Dada
Transformation eines Warenhauses
„Ursprünglich hatten wir den Auftrag, das alte Haus zu erhalten", sagt Architekt Konrad Spindler. „Augenscheinlich war es in einem guten Zustand, auch das Dach war in Ordnung. Doch als wir das Haus näher untersuchten, zeigte sich, dass das Erdgeschoss schon so stark ausgehöhlt war, dass es fast gefährlich wurde. Ausserdem hatten wir eine Tiefgarage zu schaffen, und das war statisch einfach nicht realisierbar." Das ehemalige Warenhaus Dichter stand nicht unter Denkmalschutz, das Gutachten ergab, dass Abriss und Neubau wesentlich günstiger kämen, als der Versuch, es mit sehr viel Aufwand zu sanieren. „Ich habe es nicht als erhaltenswürdig angesehen. Es war eine simple Zinshausarchitektur, in den oberen Geschossen gab es noch die Nähereien. Es wäre sehr schwierig gewesen, hier Wohnungen mit anständigen Grundrissen und Raumhöhen einzubauen." Also entwarfen Lichtblau und Spindler einen dreiteiligen Neubau mit insgesamt 59 Wohnungen zwischen 40 und 110m² mit Balkon, Loggia, Eigengarten oder Dachterrasse. Auch das war schwierig, denn das Grundstück hat unterschiedliche Niveaus, an der Brunnengasse war eine höhere Bauklasse vorgeschrieben, und der Penny-Markt brauchte einen Ladehof für seine LKWs.
Die drei Bauteile der Anlage sind über Stiegenhäuser miteinander verbunden. Dadurch lassen sich die starken Niveauunterschiede am Grundstück ausgleichen. An der Brunnengasse gibt es im Erdgeschoss eine Polizeistation und einen Penny-Markt am Eck, der in seiner Funktion als Geschäft zumindest ein wenig für den Verlust des Warenhaus entschädigt und auch bestens besucht ist, obwohl schräg gegenüber ein Hofer liegt. Aber Markt bleibt Markt und definiert sich durch die gleichzeitige Anwesenheit vieler potenzieller Käufer. Ausserdem gibt es im „Dichterhof" einen Kinderspielraum im ersten Stock, dessen schräges Panoramafenster keck über die Strasse lugt, einen Spielplatz im Hinterhof und eine Grillterrasse am Dach. „Es ist ein städtisches Haus mit gemischter Nutzung, das eine eigene Identität entwickelt", sagt Konrad Spindler. „Wir haben versucht, jeden Bauteil zu simulieren und zu jeder Wohnung ein Modell gebaut."
Dachaufbau mit Laubengang am Hof. Foto: Isabella Marboe.
Ein Haus mit vielen Gesichtern
Das Stiegenhaus, das den niederen Bauteil an der Grundsteingasse erschliesst, ist sechs Meter vom Eck abgerückt. Seine haushohe gläserne Fassade wirkt fast wie ein riesiges Portal, die Einfahrt in die Tiefgarage und den Lagerhof wurde vom Künstler Karl Heinz Ströhle sehr witzig gestaltet: riesige Reifen haben hier an der schalldämmenden Herakustikverkleidung von Wand und Decke eine Spur gezogen. Vom vollverglasten Eingang führen zwei Stiegenläufe in den ersten Stock: einer erschliesst den Mittelgang für die Wohnungen an der Grundsteingasse. Er hat schiefe Wände, die hofseitig grün gestrichen sind. Ihre Farbe wird auf die andere Seite reflektiert. Über der Strasse wohnt man in Maisonetten, die hofseitigen Einheiten haben Balkone. Die zweite Stiege führt zum Laubengang, der die Wohnungen an der Brunnengasse erschliesst. Damit beim Vorbeigehen nicht alle in die Schlaf- und Kinderzimmer am Hof sehen können, ist er leicht abgerückt. Dadurch fällt auch mehr Licht auf den Gang und in die Wohnungen. Sie sind alle ost-west orientiert, durchgesteckt und haben Loggien vor den raumhoch verglasten Wohnküchen über der Strasse.
Ganz oben beschirmt ein blaues Glasdach den Laubengang am Hof: es schützt vor Regen und lässt den Himmel immer blau aussehen. Hier wohnt sich am exklusivsten: Denn das Dach, das über der Brunnengasse ganz gewöhnlich schräg geneigt ansteigt, rollt sich über dem Hof wie eine Haartolle zusammen. Es ist aus rundgebogenen Stahlträgern konstruiert, mit Titanzink überzogen und bildet die dynamische Krönung des Hauses. Vor allem aber erzeugt die runde Form ganz besondere Räume. Die Sonnenseite der Randwohnung im Süden ist vollverglast und öffnet sich zu einer grossen Terrasse, der die vorstehende Stahlkonstruktion Schatten spendet. Ausserdem gibt es in der riesigen, offenen Wohnküche mit Aussicht noch ein rundes Oberlicht. Auch der Hausgemeinschaft hat das Dach einiges zu bieten: Auf dem nördlichen Trakt des Wohnblocks gibt es eine Grillterrasse für alle. Die teils schräg verzogenen, silbernen Kaminrohre werden hier zu den Stützen eines ausladenden Flugdaches mit grüner Untersicht, unter dem man auf einer Holzbank in der Sonne sitzen, in den Hof und weit über Wien blicken kann.
Markantes Eck
Auf einer schrägen Stütze schwebt das erste Obergeschoss über dem eingeschnittenen Eck vor dem Eingang in den Supermarkt. Dahinter knickt die Fassade leicht zurück, um der Stadt noch ein wenig Platz einzuräumen, bevor sie fast 45 Meter die Brunnengasse entlang gleitet. „Die Ecklösung sollte etwas von einer Kulisse haben, die sich öffnet," so Spindler. Hinter der schwarzen Verkleidung aus Eternite in Erdgeschoss und erstem Stock verbirgt sich die Polizeistation, die auf Wunsch des Bezirkes hier einzog und für Ruhe, Ordnung und Sicherheit am Markt sorgen soll. Es gibt die nötigen Sicherheitsschleusen, eigene Umkleiden für männliche und weibliche Beamte, Zimmer für Bereitschaftsdienste und Verhöre. Bei Bedarf lassen sich die Fenster zur Strasse mit Jalousien schliessen, der Eingang ist leicht eingerückt. Das bietet den Menschen, die hier warten, einen gewissen Schutz.
Die Brunnengasse liegt im Westen, das heisst, dass alle Loggien vor den Wohnungen von der Abendsonne profitieren. Ihre Fassade ist mit unterschiedlich durchlässigen Elementen gestaltet. Senkrechte Platten aus lichtdurchlässigem Wellblech, die sich geschosshoch über die Loggien ziehen, bieten Sichtschutz, ausserdem gibt es Balkongeländer aus Stabblech, hinter denen man ungehindert das Treiben am Markt beobachten kann und Brüstungen aus Sichtbeton. „Wir wollten, dass die Leute am Leben der Stadt Anteil nehmen, sich aber auch zurückziehen können", sagt Konrad Spindler. Deshalb waren die vertikalen Wellblechelemente ursprünglich auch als verschiebbare Läden geplant, was schliesslich leider an den Kosten scheiterte. Dafür sind die Deckenuntersichten grasgrün, was nachhaltig die Laune hebt und der Fassade einen lebendigen Anstrich verleiht. Einige Loggien wurden von ihren Bewohnern mit Blumenkisten behängt, andere haben über den Brüstungen noch Holzroste montiert, um noch zurückgezogener zu sein.
Hinter der Polizeistation liegt der zweite Eingang ins Haus: Hier wurde eine Gedenktafel für die Familie Dichter angebracht, die dem Einsatz von Bezirksrat Heinrich Schneider zu verdanken ist. Er initiierte auch die Piazza für Walter Arlen und Edith Arlen Wachtel am nahen Yppenplatz. Auch alle, die den „Dichterhof" betreten, können von ihnen lesen. An einer rund gebauchten Wand aus Sichtbeton, in dem die Schalungshölzer ihre Spuren hinterlassen haben, geht man in ein grosszügiges Foyer. Seine Seitenwand hat Karl Heinz Ströhle mit orangen Wellen bemalt. Durch seine Glasfassaden kann man auf die Strasse und in den Hof blicken. Wie eine Baumkrone am Stamm sitzt der Kinderspielraum auf der geschwungenen Wand aus Sichtbeton: sein Boden ist rot, durch das Fenster, das sich über den Markt neigt, hat man einen herrlichen Blick auf die Strasse. Die Erdgeschosswohnungen im Hof haben Gärten, alle anderen braun ausgemalte Loggien, aus denen grosse Balkone mit grauen Brüstungen ragen. Die Wände der Stiegenhäuser sind grün. Vor der Rückseite des Hauses aber erstreckt sich ein grosser Spielplatz für die Kinder, der von Ursula Kose gestaltet wurde. Mitten im dicht bebauten Gründerzeitviertel ist hier plötzlich ein grüner Raum mit geschwungenen Wegen, Sandkiste und Schaukel.
1 Auszug aus den Gesprächen mit Edith Arlen Wachtel und Walter Arlen, aus dem Buch Alfred Lang, Barbara Tobler, Gert Tschögl (Hg.): Vertrieben: Erinnerungen burgenländischer Juden und Jüdinnen, Mandelbaum Verlag Wien 2004.