„In Tel Aviv gibt eine Anzahl von Architekten ein kleines Blatt heraus, welches ausgezeichnete Arbeit leistet. Aber es ist diesen Architekten selbst klar, dass es, bei seinem Umfang, seinen Mitteln, seinem rein fachlichen Charakter, seinem bescheidenen Abbildungsmaterial niemals hoffen kann, die nötige ‚portée‘ zu erreichen. Ich nehme an, Sie kennen ‚Habinyan Bamisrach Hacarov‘; aber fragen Sie, wer es ausser Ihnen kennt."1,
schrieb der später bekannte deutsch-jüdische Architekturhistoriker Julius Posener Ende Mai 1936 in Jerusalem an den Verleger Salman Schocken, um diesen für die Herausgabe und Unterstützung einer neuen Architekturzeitschrift in Palästina zu erwärmen. Der aus Berlin gebürtige Posener, ehemals Redakteur von "L'Architecture d'Aujourd'hui" in Paris, war im Herbst 1935 nach Palästina emigriert und sollte gemeinsam mit seinem Kollegen Sam Barkai, dem Palästina-Korrespondenten des renommierten französischen Magazins, ein Sonderheft über die Architektur Palästinas zur Pariser Weltausstellung 1937 veröffentlichen.2 Barkai, ein Schüler von Le Corbusier, war Mitglied einer Gruppe junger Architekten, die sich 1932 in Tel Aviv zum Architektenring „Chug" (Ring) zusammengeschlossen hatten und in der Tradition des avantgardistischen Berliner „Rings" von 1926 für einen gestalterischen Neuanfang im Sinne des Neuen Bauens unter Berücksichtigung der lokalen und klimatischen Bedingungen des Landes kämpften. Der „Chug" konstituierte sich vor allem aus jüngeren Architekten, die nach ihrer Ausbildung an europäischen Architekturschulen und Berufserfahrungen bei führenden Architekten der Moderne, wie Le Corbusier, Erich Mendelsohn oder Bruno Taut, nach Palästina emigriert oder zurückgekehrt waren. Zu ihnen gehörten der Bauhaus-Absolvent Arieh Sharon, Joseph Neufeld, Zeev Rechter, Carl Rubin, Dov Carmi und auch die Architektin Lotte Cohn, denen sich in den nächsten Jahren zahlreiche weitere Mitglieder anschlossen.
Im Dezember 1934 war der „Chug" mit einer eigenen Publikation an die Öffentlichkeit getreten: Habinyan Bamisrach Hakarov, herausgegeben von dem Architekten Israel Dicker, die als die erste hebräische Architekturzeitschrift Palästinas in die Geschichte eingehen sollte. In der in englischer, hebräischer und arabischer Sprache gehaltenen Einleitung hiess es:
„After some preliminary work for over a period of several months, we, a group of architects have decided to issue a monthly review, entitled ‘Construction in the Near East'. We came to this decision realizing the want of professional intercourse among colleagues, of bringing together the individual research in the field of the profession of joint professional seeking for solutions to outstanding problems. We came also to this decision, feeling, as we did, a public and professional duty, due to the constant growth of building enterprise now proceeding. [...]"3
Bis zum Sommer 1937 waren zehn Ausgaben von Habinyan Bamisrach Hakarov erschienen.4 Das Themenspektrum war vielseitig, wie bereits der Inhalt der ersten Ausgabe deutlich macht: Joseph Neufeld, der in Wien und Rom Architektur studiert hatte, schrieb über das „Organische Bauen"; Lotte Cohn, die erste Architektin des Landes, über das „Bauen im Moschav"; Eugen Stolzer, ehemaliger Partner Oskar Kaufmanns in Berlin, verfasste einen Artikel „Der Garten, der Baum und Städtebau", und Leo Adler, der ehemalige Schriftleiter von Wasmuths Lexikon der Baukunst und Herausgeber der Zeitschrift Architectura äusserte sich über die Eindrücke eines Neueinwanderers beim Anblick der neuen Architektur. Es wurde über Wettbewerbe berichtet, darunter über die Strandbebauung von Tel Aviv, das Assuta-Krankenhaus und den Zina- Dizengoff-Platz in Tel Aviv mit dem Siegerentwurf von Genia Averbouch. Eine Fotoserie zeigte „Bilder von der Levante-Messe 1934", darunter den schwedischen Pavillon von Elsa Gidoni, den britischen Pavillon von Joseph Neufeld, das beliebte Café Galina von Genia Averbouch, Shlomo Ginsburg und Elsa Gidoni. Die meisten Fotografien stammten von Yitzhak Kalter, der auch in späteren Ausgaben mehrheitlich für das Fotomaterial verantwortlich zeichnete. Mit seinem Oeuvre hat Kalter das Bild des Neuen Bauens in Palästina der 1930er Jahre in einem Masse geprägt, das vergleichbar ist mit dem des Berliner Fotografen Arthur Köster und seinen Aufnahmen der deutschen Architektur-Avantgarde der 1920er Jahre.
Laut Julius Posener „seufzte" der Kreis um Habinyan Bamisrach Hakarov jedoch über die geringe Tragkraft seiner Zeitschrift.5 Sein Gedanke, in Palästina eine neue Bauzeitschrift zu gründen, die nicht nur eine reine Fachzeitschrift sein sollte, sondern „durch ihre Form und die Art ihrer Darstellung die Rolle der illustrierten Palästina-Zeitschrift"6 übernehmen müsste und von einem eigens gegründeten Bauforschungsinstitut getragen werden sollte, fand die Unterstützung der „Chug"-Mitglieder. In seinem oben erwähnten Brief an Salman Schocken berichtete Posener, dass er bereits einen genauen Plan für die Zeitschrift und den Inhalt eines Jahrganges bestehend aus zwölf Heften konzipiert habe, der auch von Erich Mendelsohn, Schockens „Hausarchitekt", gebilligt worden sei. Auch Mendelsohn, der dem „Chug" zwar fern stand7, war überzeugt, dass man diesen Plan verwirklichen sollte. Trotz der eindringlichen Bitte war Schockens Antwort jedoch negativ. Anfang 1937 schrieb er an Posener:
„Mein Interesse für die Architektur, das ich als Bauherr früher in Deutschland und jetzt auch hier im Lande bewiesen habe, geht nicht so weit, dass ich dem hiesigen Architektenstande und dem Bauwesen gegenüber, dem ich ja beruflich völlig fernstehe, Leistungen übernehmen kann. Es würde mich natürlich freuen, wenn Sie mit Ihrem Plane, den ich bei der Kleinheit der Verhältnisse allerdings an und für sich für nicht leicht durchführbar halte, Erfolg haben werden."8
Auch wenn der Plan mit dem mächtigen Schocken-Verlag im Hintergrund fallen gelassen werden musste - eine Architekturzeitschrift wurde im selben Jahr dennoch neu editiert. Die Mitglieder des „Chug" hatten Posener schliesslich aufgefordert, verantwortlicher Herausgeber ihrer Zeitschrift zu werden, die nun in neuem Format und unter dem geänderten Titel Habinyan. A Magazine of Architecture & Town Planning erschien. Neben Posener gehörten Israel Dicker, Yehuda Finkelstein, Benjamin Tschlenov und Arieh Sharon zu den Mitherausgebern. Drei Hefte erschienen zu den Themen „Co-operative Dwellinghouses" (August 1937) mit einem Editorial von Arieh Sharon sowie „Villas & Gardens" (November 1937) und „Village Buildings" (August 1938), beide mit einem Editorial von Julius Posener.
Mit grossformatigen Abbildungen wurde den Architekten Gelegenheit gegeben, ihre Arbeiten zu veröffentlichen, es wurden aktuelle Fragen des lokalen und internationalen Städtebaus behandelt, Grundrisslösungen diskutiert und Architekturwettbewerbe dokumentiert. In Heft 2 „Villas & Gardens" stellte Posener verschiedene Einfamilienhäuser vor. In einem historischen Rückblick schrieb er über lokale und traditionelle Architektur des Orients, darunter Beispiele aus Damaskus, und antike Atriumhäuser. Seine Auswahl der im Lande neu entstandenen Bauten umfasste sowohl die sogenannten Heimatstilarchitekten, d.h. die nach einem neuen hebräischen Stil Suchenden, als auch die Modernisten. Neben dem Bialik-Haus (1924) in Tel Aviv von Joseph Minor und dem Haus für Dr. Itzkovitch in Haifa (1928) von Alex Baerwald aus den 1920er Jahren zeigen das Haus für Dr. Zlocisti (1937) in Haifa von Lotte Cohn oder Erich Mendelsohns repräsentative Villa für Chaim Weizmann in Rechovoth, wie stark der Internationale Stil in den 1930er Jahren im Lande Fuss gefasst hatte. In Heft 3 „Village Buildings" stellte Posener auch ein von ihm gemeinsam mit Lotte Cohn geplantes Wohnhaus für die Familie Mendelsohn (1937) aus Kfar Shmaryahu vor, das seinerzeit als das teuerste ländliche Einfamilienhaus in Palästina galt. Es war das „einzige Haus meines Lebens als Architekt"9, schrieb Posener später in seinen Erinnerungen. Selbstironisch vermerkte er zudem: „Als ich Erich Mendelsohn einmal eine Abbildung des Hauses zeigte, sagte er nur: ‚Mein armer Junge!‘"10
Wer heute über die israelische Architektur-Avantgarde der 1930er Jahre forscht, kommt an Habinyan nicht vorbei. Sie war ein vieldiskutiertes Instrument zur Beförderung einer modernen und „palästinagerechten" Architektur, das Organ für einen professionellen Gedankenaustausch und bis heute die wichtigste Quelle im Themenbereich von Architektur, Städtebau, Raumkunst und Wohnungswesen der 1930er Jahre in Palästina. Sie hat das Bild der israelischen Architektur-Avantgarde und des Neuen Bauens im Land massgeblich geprägt. In seinen Erinnerungen resümierte Posener:
„Den Anfang des Krieges hat die Zeitschrift nicht lange überlebt. Ihre Tendenz war meine Tendenz: es war viel Geschichte darin und die Gegenwart des ‚Chug‘. Es war eine hebräische Bauzeitschrift, die sich nicht damit begnügte, lediglich das Neueste vorzustellen, sondern eine, die Kriterien zu finden sich bemüht hat. Das war schon etwas wert."11
1 Brief von Julius Posener an Salman Schocken, 31. Mai 1936, in: Julius Posener - ein Leben in Briefen: ausgewählte Korrespondenz 1929-1990, hg. Matthias Schirren und Sylvia Claus, Basel/Berlin/Boston 1999, S. 71-77, hier S. 76.
2 Posener, Julius/Barkai, Sam: Architecture en Palestine, in: L'Architecture d'Aujourd'hui, Vol. 9, 8 (September 1937), S. 2-37.
3 Habinjan Bamisrah Hakarov (December 1934), S. 3.
4 1 (December 1934), 2 (February 1935), 3 (August 1935), 4 (November 1935), 5/6 (December 1935), 7 (March 1936), 8 (August 1936), 9/10 (November 1936), 11/12 (March 1937), 1 (July 1937).
5 Brief von Julius Posener an Salman Schocken, 31. Mai 1936, in: Posener, 1999 (wie Anm. Error: Reference source not found), S. 76.
6 Ebenda, S. 75.
7 Vgl. Nitzan-Shiftan, Alona: Umstrittener Zionismus - Alternativer Modernismus: Erich Mendelsohn und der Tel Aviver Chug in Palästina unter britischem Mandat, in: Die Neuen Hebräer-100 Jahre Kunst in Israel, Berlin 2005, S. 256-263.
8 Brief von Salman Schocken an Julius Posener, 4. Januar 1937, in: Posener, 1999 (wie Anm. Error: Reference source not found), S. 94.
9 Posener, Julius: Fast so alt wie das Jahrhundert. Erweiterte Neuausgabe, Basel/Berlin/Boston 1993, S. 253.
10 Ebenda.
11 Ebenda, S. 252.