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„… und Adele Kurzweil und …“ Fluchtgeschichte(n)

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Christian Ehetreiber, Bettina Ramp, Sarah Ulrych (Hrsg.): „... und Adele Kurzweil und ..." Fluchtgeschichte(n) 1938 bis 2008. Graz: CLIO 2009, 208 Seiten, Euro 19,00

ISBN: 978-3-902542-19-9

Erich Frieds Gedicht „... und Vietnam und ..." diente als Vorbild für den Titel des Buches, wo frei nach Ingeborg Bachmann Kriege nicht mehr erklärt, sondern fortgesetzt werden. Auch Fluchtgeschichte - meist eine Konsequenz des Krieges - ist eine endlose Fortsetzungsgeschichte. Der von Christian Ehetreiber, Bettina Ramp und Sarah Ulrych herausgegebene Band nähert sich daher dem Thema Flucht über individuelle Fluchtgeschichten. Den Ausgangspunkt des Buches bildet die tragische Geschichte der Adele Kurzweil und ihrer Familie, die in einem Schulprojekt 2000/2001 bereits dokumentiert wurde. Durch Zufall wurden in den 1990er Jahren auf einem südfranzösischen Dachboden einige versiegelte Kabinenkoffer gefunden, die bereits 1942 für die Flucht in das rettende Überseeexil gepackt worden waren. Die Weiterreise wurde jedoch von der als verlängerter Arm der Nazis agierenden Polizei des kollaborierenden Vichy-Regimes unterbunden und die Besitzer der Koffer wurden über das französische Lager Drancy nach Auschwitz deportiert und dort unmittelbar nach der Ankunft im September 1942 in der Gaskammer ermordet. Die gefundenen Habseligkeiten in den Koffern gehörten der 1938 aus Graz vertriebenen Familie von Gisela, Bruno und Adele Kurzweil, die über Paris ins südfranzösische Montauban gelangt war. In Montauban besuchte die 1925 geborene Adele das Gymnasium, wo sich Schülerinnen und Schüler gemeinsam mit Historikern erstmals an dieser Fluchtgeschichte annahmen und zur Erinnerung an Adele Kurzweil den Schulhof nach ihr benannten und eine Gedenktafel anbrachten. In der Folge haben Heimo Halbrainer und Bettina Ramp gemeinsam mit Grazer Schülerinnen und Schülern auf die Spurensuche in österreichischen Archiven und in Montauban gemacht und eine erste Dokumentation in Form einer Ausstellung und eines Buches Der Koffer der Adele Kurzweil. Auf den Spuren einer Grazer jüdischen Familie in der Emigration vorgelegt.

Für den Band hat Halbrainer die tödlich endende Fluchtgeschichte der Familie Kurzweil rekonstruiert und dabei auch die Exiltätigkeit von Bruno Kurzweil, der als Statthalter der Revolutionären Sozialisten in Montauban bis zuletzt für seine Mitflüchtlinge die zentrale Ansprechperson war, dargestellt.

Zwei weitere Fluchtgeschichten, die zur wahren Odysseen wurden und anders als bei Adele Kurzweil glücklich und nicht tragisch endeten, beleuchten Franz Stangl und Halbrainer. Stangl porträtiert die in jeder Hinsicht atemberaubende Fluchtgeschichte des Überlebenskünstlers Paul Hirsch, die ihn über Zagreb nach Nordafrika und in der Folge bis nach Arnheim und Paderborn führte. Der vor den Nazis Geflohene beteiligte sich gegen Kriegsende als Soldat der britischen Armee im Kampf gegen den Hitlerfaschismus. Paul Hirschs Vater wurde übrigens - nahezu zeitgleich wie die Familie Kurzweil - von Drancy aus nach Auschwitz deportiert und dort im August 1942 ermordet. Heimo Halbrainer beschreibt in einer weiteren Fluchtgeschichte die über vier Jahre währende Odyssee der Mürzzuschlager Jüdin Herta Eisler, die im Herbst 1939 mit etwa 1000 Juden auf Donauschiffen Wien in Richtung Palästina verliess, um sich vor den Nationalsozialisten in Sicherheit zu bringen. Die Flucht endete in der serbischen Stadt Šabac, wo sie nach dem Überfall der Deutschen Wehrmacht in die Hände der Nationalsozialisten fielen. Herta Eisler gehört zu den wenigen, die den Nationalsozialisten entkommen konnten. Nach einer abenteuerlichen Flucht über Italien 1944 erreichte sie schliesslich doch noch ihr Ziel, wo sie heute noch lebt.

Die Fluchtgeschichte bis heute beschreibt Herbert Langthaler in seinem Beitrag über Flucht und Migration seit den 1960er Jahren. Bestimmte bis zum Berliner Mauerfall das Bild des Flüchtlings als Held die öffentliche Debatte, so wandelte sich die Heldenmetaphorik alsbald zum abwertenden Begriff des Wirtschaftsflüchtlings, gegen den es notwendige Massnahmen zu ergreifen gelte. Langthalers Text ist ein im Meilensteinstil verfasstes Sittenbild der Abschottungsgeschichte der Festung Europa. Ertrinkende Flüchtlinge vor den Mittelmeerhäfen und eine breiter werdende Solidarität mit langjährig in Österreich lebenden Asylwerbern lassen jedoch die Hoffnung bestehen, dass Menschenrechte für Flüchtlinge durchaus wieder zu einem breiten öffentlichen Konsens werden können.

Neben diesen Fluchtgeschichten und dem Fortwirken von Flucht haben sich Pädagogen und Pädagoginnen mit dem Thema befasst, wie etwa der Klagenfurter Erziehungswissenschafter Peter Gstettner, der sich über biografische Relikte der Ermordung von Kindern und Jugendlichen in der NS-Zeit annäherte.