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Gerettet, aber zerbrochen

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Spuhler, Georg:  Gerettet - Zerbrochen. Das Leben des jüdischen Flüchtlings Rolf Merzbacher zwischen Verfolgung, Psychiatrie und Wiedergutmachung.

Chronos, Zürich 2011, 229 Seiten, Euro 25.-

ISBN: 978-3-0340-1064-1

Der Historiker Gregor Spuhler zeichnet in diesem sehr guten Buch die tragisch anmutende Lebensgeschichte des jüdischen Flüchtlings Rolf Merzbacher (1924-1983) nach. Souverän spinnt er den biographischen Faden durch eine Vielzahl von oft verwirrenden Quellen, souverän beherrscht er den Forschungsstand zum Judentum in der Schweiz und zur unseligen Flüchtlingspolitik des vom Krieg verschont gebliebenen, neutralen Landes. Seine präzisen Ausführungen sind niemals pathetisch, umso anrührender wirkt das Schicksal des Flüchtlings, der in der Schweiz psychisch zerbrach, auf die Leserinnen und Leser.

Hineingeboren in eine kleine Württemberger Arztfamilie, beschloss der Vater noch vor dem Weltkrieg, die beiden Söhne in Sicherheit zu bringen. Die Eltern wurden später deportiert, erst nach Frankreich, wo Dr. Julius Merzbacher, ein Weltkriegsveteran und an sich gut integrierter Jude, als Arzt wirkte, später nach Polen, wo das Paar ermordet wurden. Rolf Merzbacher war ein sehr guter Schüler, sein Berufswunsch war, Arzt zu werden. Doch war dies in der Schweiz für mittellose Flüchtlinge unmöglich. Die körperliche Arbeit in Internierungslagern und als Gärtner wollte dem Heranwachsenden nicht so recht gefallen. Zudem lastete das ungewisse Schicksal der Eltern schwer auf Rolf. Er erkrankte psychisch und begab sich in die thurgauische Psychiatrie zu Münsterlingen. Dort schenkte man dem ungewöhnlichen Fall erst grosse Aufmerksamkeit und versuchte sich in psychotherapeutischer Behandlung. Nachdem sich der Zustand des Patienten indessen rapide verschlechtert hatte, diagnostizierte man Schizophrenie. Aus dem ambulanten Patienten wurde ein Dauerpatient. Schizophrenie galt damals  als erblich, so dass man Untersuchungen anstellte, ob die Ahnen krank gewesen seien. Die Verfolgung und die diktierte Berufswahl galten nur am Rande als Krankheitsgründe. Insgesamt, so die Krankengeschichte, erduldete Merzbacher nicht weniger als 61 Elektroschocks, die damals als Universalheilmittel angesehen wurden. Sein Zustand verschlechterte sich dennoch zusehends, gegen Ende des Krieges schien sein Tod nahe.

Zwar kam die Israelische Kultusgemeinde für ihr erkranktes Mitglied auf, doch der auch im schweizerischen Massstab als kleinlich verschriene Kanton Thurgau weigerte sich, Merzbacher als Dauerflüchtling aufzunehmen. Es drohte gar die Abschiebung nach Deutschland.  Merzbachers engagierter Vormund Wiener nahm in den 60er Jahren ein langjähriges Wiedergutmachungsverfahren auf.  Inzwischen war der progressive Zweig der Psychiatrie zum Schluss gekommen, dass Traumata und Verfolgung Auslöser sein können für psychische Erkrankungen vieler Holocaust-Überlebender. Der Vormund erreichte schliesslich eine finanzielle Wiedergutmachung. Für den so intelligenten, sensiblen Arztsohn Rolf Merzbacher, der inzwischen nach Graubünden verlegt worden war, kam sie zu spät. Er sollte den Weg in die Freiheit nie mehr finden.