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Gedanken zu Rosch HaSchana

Rabbiner Schlomo HOFMEISTER

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Aus dem Leben des Rambam (Rabbi Mosche Ben Maimon, 1135-1204, auch bekannt als „Maimonides") wird die folgende berühmte Geschichte erzählt: Der damals noch in seiner andalusischen Heimat lebende Rambam wurde von den spanischen Philosophen seiner Zeit mit einem praktischen Experiment herausgefordert, welches deren Standpunkt in Bezug auf die Frage belegen sollte, ob Tiere sich durch entsprechende Konditionierung wirklich genauso manierlich und sittlich benehmen könnten wie Menschen - ihren natürlichen Instinkten zum Trotz. Der Rambam behauptete, dies sei unmöglich, denn nur Menschen haben Bechira - die Fähigkeit zu freier, moralischer Willensentscheidung, die in jedem einzelnen Fall der ethischen Gewissensprüfung des damit konfrontierten Menschen unterworfen ist und nicht antrainiert werden kann.

Die Philosophen verbrachten viele Monate damit, eine Katze zu zähmen, bis diese schliesslich auf ihren beiden Hinterbeinen gehen konnte und liessen daraufhin einen  Kellneranzug für das kleine Raubtier anfertigen. Die Katze wurde so dressiert, dass sie jeden Gast, der den Raum betrat, an der Türe empfing und bis zu seinem Platz begleitete. Die Katze schien sich tatsächlich wie ein Kellner zu benehmen. Die Philosophen sahen sich ermutigt und machten weiter, bis die Katze es sogar fertigbrachte, Becher zwischen den Pfoten zu halten und den am Tisch Sitzenden Getränke servierte.

Stolz auf ihre nun perfekt trainierte Katze, luden die Philosophen schliesslich den Rambam ein, den Beweis ihrer Theorie anzuerkennen, dass sich Tiere, vorausgesetzt sie erhalten die richtige Erziehung, genauso wie Menschen benehmen können. Der Rambam nahm die Einladung dankend an und wurde bereits am Eingang von der im massgeschneiderten Kellneranzug, auf ihren Hinterbeinen stehenden Katze empfangen und zu seinem Tisch geführt. Vor den Augen der beeindruckten Zuschauer begann die Katze, so eine besonders bildhafte Version der Erzählung, ein Tischtuch auf dem Tisch auszubreiten und den Tisch mit Kerzenleuchtern, Tellern und Besteck zu decken. Schliesslich brachte die Katze ein grosses silbernes Tablett mit gefüllten Weingläsern herein, um sie den applaudierenden Philosophen zu servieren, die auf den Erfolg ihres gelungenen Experiments und den Beweis ihrer Theorie anstossen wollten. Während sich die Katze, auf ihren Hinterbeinen stolzierend, das Tablett mit den Gläsern vorsichtig mit einer Pfote balancierend, dem Tisch näherte, holte der Rambam eine kleine Schachtel hervor und öffnete sie. In dem Augenblick, als die Katze die Maus erblickte, die aus der Schachtel heraussprang, vergass sie alles um sich herum und liess das silberne Tablett mit einem lauten Krach auf den Boden fallen: Glasscherben und Wein flogen in alle Richtungen, während die Katze, auf allen Vieren, die Maus kreuz und quer durch den Saal jagte.

Als die Philosophen dies sahen, stimmten auch sie dem Rambam zu, dass man zwar eine Katze konditionieren kann, sich zeitweise so wie ein Kellner zu benehmen. Aber wenn es darauf ankommt, insbesondere in einer unvorhergesehenen Situation, ist es der Katze nicht möglich, ihre natürlichen Triebe zu kontrollieren. Dies ist der fundamentale Unterschied zwischen Mensch und Tier.

Aber auch für uns Menschen ist es bei weitem nicht einfach und schon gar keine Selbstverständlichkeit, unsere tierischen Instinkte zu beherrschen. Wenn es sich bei unserem Benehmen lediglich um die oberflächliche Einhaltung sozialer und kultureller Normen handelt, so ist das noch längst keine Garantie, dass wir uns auch dann, wenn es darauf ankommt, nicht doch wie Tiere benehmen. Automatisiertes oder unreflektiert konditioniertes Verhalten, ohne die schweren und mitunter schmerzlichen Mühen von bewusster und ehrlicher Charakterbildung, ist nicht mehr wert als die Katze im Kellneranzug, der eine Maus über den Weg läuft!

Rabbiner Simcha Sissel Siv Braude (1824-1898), auch bekannt als Alter von Kelm, bezieht sich auf die soeben beschriebene Episode mit der Katze, um einen bekannten Vorfall in der Tora näher zu beleuchten: Als unsere Stammmutter Sara gestorben war und Avraham Avinu ein Grab für sie suchte, wandte er sich an den Ältestenrat der Hethiter, die damals die Gegend von Chevron bewohnten, um von Ephron, einem ihrer Anführer, die Höhle Machpela zu erwerben - die bis heute als die Grabstätte unserer Patriarchen sowohl von Juden als auch von Muslimen verehrt wird. Als Avraham zu diesem Zweck vor dem Ältestenrat der Hethiter vorständig wurde, empfing man ihn als „Fürsten G-ttes" mit der grössten nur erdenklichen Würde und Hochachtung. Auf seine Bitte, man möge ihm die Höhle Machpela verkaufen, entgegnete Ephron mit der öffentlichen Deklaration, Avraham solle diese selbstverständlich als Geschenk betrachten, denn es sei eine Ehre für ihn und sein Volk, dass er, der berühmte und geschätzte Avraham, dort sein Familiengrab einzurichten gedenke.

Als Avraham, der bekanntlich kein armer Mann war, ihm jedoch ein zweites Mal anbot, doch etwas dafür zu bezahlen - denn einem zweifelhaften Charakter wie Ephron wollte unser weiser Patriarch in keiner Schuld stehen -, nannte ihm der Hethiter nicht nur einen symbolischen, nicht einmal einen dem Marktwert angemessenen Preis, sondern, mit der Unverschämtheit orientalischer „Schuk-Manier", als sei es sogar noch ein Freundschaftsangebot, eine vollkommen überzogene Summe, ein Vielfaches des eigentlichen Grundstückwertes. Unser vorbildlicher Stammvater bezahlte mit edlem Anstand, ohne zu zögern, den geforderten Betrag, ohne darüber zu streiten oder zu feilschen, was seiner und der Situation mehr als unwürdig gewesen wäre (Bereschis 23:5-15).

Woher Ephrons Sinneswandel? Gerade bestand er noch öffentlich darauf, es sei ihm eine Ehre, Avraham das gesamte Grundstück als kostenloses Geschenk zu überlassen, doch als er noch einmal darüber nachdachte und eine gute Gelegenheit für sich sah, überkam ihn plötzlich die Gier! Was war geschehen?

Der Hethiter Ephron, so erklärt Rav Simcha Sissel, ist wie die als Kellner verkleidete Katze, deren Anstand und gutes Benehmen nur ein eingeübter Handlungsablauf war, für sie jedoch keinerlei Bedeutung und Wert an sich hat. Und genauso, als Ephron die Gelegenheit erkannte, ungeachtet seiner ursprünglich demonstrierten Grosszügigkeit und Ehrerbietung Avraham gegenüber, ein gutes Geschäft zu machen, hatte er auf einmal keine Prinzipien und keine Skrupel mehr und vergass sogar den Respekt vor sich selbst, indem er sich noch nicht einmal mehr um das von ihm zuvor öffentlich Gesagte scherte.

Ephron ist wie jeder Mensch, der nicht wirklich lernt, an sich und seinem Charakter zu arbeiten, dessen schön und tiefgründig klingende Aussagen und Parolen nichts als leere Lippenbekenntnisse sind, weil er sich nämlich dann, wenn es darauf ankommt, seinen inneren Instinkten und Wünschen entsprechend verhält und das Tier in sich nicht bezwingt. Die Katze kann nicht anders, aber wir können - wenn wir es wirklich wollen und wirklich an uns arbeiten. Das ist, so der Rambam, der Unterschied zwischen Mensch und Tier.

Durch reden oder denken allein, kann niemand seinen Charakter verbessern. Gute Absichten und Vorsätze sind zwar ein wichtiger Anfang, genügen aber alleine noch nicht, um tatsächlich nachhaltig etwas zu verändern. Unsere Weisen, sel. A., bringen hierzu das folgende Beispiel: Eisav, der Bruder unseres Stammvaters Jakov, ist uns allen bekannt für sein grobes und tadelnswertes Wesen. Doch auch er kannte Momente in seinem Leben, in denen er versuchte, sich zu bessern, ein guter Mensch zu werden und dem Namen seiner Familie, seinen Grosseltern Avraham und Sara und seinen Eltern Jitzchak und Rivka, durch sein eigenes Leben und Benehmen Ehre zu bringen.

So lesen wir am Ende des Wochenabschnitts Toldos, dass Eisav eines Tages einsah, dass sein Vater Jitzchak zu Recht unglücklich war über die Wahl seiner beiden kanaanitischen Frauen, deren Götzendienst, Lebenseinstellung und Weltbild den hohen Idealen und Werten der Familie Avrahams und Jitzchaks unvereinbar entgegenstanden und einen schlechten Einfluss auf Eisav und seine Kinder hatten. Mit dem ernsten Vorhaben, sich zu bessern und sein Leben neu zu orientieren, ging er daher zu seinem Onkel Jischmael und nahm dessen Tochter Machalas zur Frau, die als Enkelin Avrahams ebenfalls die grundlegenden Wertvorstellungen seiner Familie zu schätzen wusste und einen positiven Einfluss auf ihn hatte (Bereschis 28:8-9).

Aber was geschah dann? Änderte Eisav tatsächlich seine Persönlichkeit und Lebenseinstellung? Hatte seine neue Frau aus der Familie Avrahams den erwarteten Einfluss und Effekt auf ihn und seinen Charakter? Wie unsere Weisen, sel. A., erklären: Hätte Eisav sich von seinen kanaanitischen Frauen getrennt, sich dadurch deren schlechtem Einfluss entzogen und sein gesamtes Umfeld verändert, hätte er vielleicht eine Chance gehabt, seine gut gemeinten Vorsätze auch umzusetzen. Indem er aber einfach nur zusätzlich zu seinen beiden kanaanitischen Frauen, deren Schlechtigkeit und Korruption er durchaus erkannte, noch eine dritte, eine gute Frau nahm, verbesserte sich an seiner Situation prinzipiell nichts, und aus seinem Vorhaben, ein guter Mensch zu werden, wurde folgedessen nichts (Bereschis Rabbo 67:13).

Die innere Haltung allein reicht nicht aus, und sogar die praktische Umsetzung vereinzelter Punkte wird nur dann den gewünschten Effekt der Verbesserung und Festigung unseres Charakters haben, wenn wir bereit sind, auch die grundlegenden Rahmenbedingungen in unserem Leben dementsprechend konsequent zu verändern. Wenn nicht, ist das vergleichbar mit jemandem, der in einem Zug sitzt und, als er nach mehreren Stunden Fahrt mit Entsetzen bemerkt, dass er fälschlicherweise den Zug in die verkehrte Richtung genommen hat, von seinem Platz aufspringt und im fahrenden Zug, entgegen der Fahrtrichtung an das Zugende läuft - in der absurden Annahme, dadurch an seiner Situation irgendetwas zu ändern.

An Rosch HaSchana, dem Jom HaDin, dem Gerichtstag unserer Lebensführung, an dem wir jedes Jahr aufs Neue beurteilt werden, wie wir aktuell unserer Verantwortung gerecht werden - insbesondere unserer persönlichen Verantwortung als (Mit-)Menschen, als Juden, als Ehepartner, als Eltern, als Kinder, als Geschwister, als Kollegen, als Vorgesetzte, als Freunde und auch als Nachbarn -, müssen wir uns vor allem selbst die Frage beantworten, wie erfolgreich wir in der tatsächlichen Umsetzung unserer letztjährigen Resolutionen und Vorsätze waren: Sind wir überhaupt weitergekommen oder kämpfen wir immer noch mit den gleichen Problemen und Schwächen unserer Persönlichkeit, unseres Verhaltens und unserer schlechten Gewohnheiten? Was müssen wir tun, um unser Vorhaben im kommenden Jahr tatsächlich umsetzen zu können? Diese Fragen muss jeder für sich selbst beantworten, denn für jeden von uns betrifft dies andere Bereiche seines Lebens und seines Charakters.

Mit diesen Gedanken wünsche ich Euch allen, von ganzem Herzen, einen konstruktiven Jahresbeginn, dass wir alle erkennen, was wir in unserem Leben ändern müssen, und dies auch bewerkstelligen, um unsere unerwünschten Verhaltensweisen ablegen zu können durch Rückbesinnung auf unsere jüdischen Werte, durch Tora-Lernen und die bewusste Erfüllung von Mitzwot den Zug in die richtige Richtung nehmen und es schaffen, unsere tierischen Instinkte angemessen zu beherrschen, um nicht als dressierte Katzen, sondern als gewissenhaft handelnde Menschen unsere Aufgabe in dieser Welt zu erfüllen.
Ein Gutes, gesundes und erfolgreiches Jahr 5772 wünscht Euch herzlichst Euer Gemeinderabbiner Schlomo Elieser Hofmeister.