Ausgabe

»Ghetto« ist mehr als ein Ort!

Inhalt

ürgen Heyde: »Das neue Ghetto«? Raum, Wissen und jüdische Identität im langen 19. Jahrhundert.

Göttingen: Wallenstein Verlag 2019 (= Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden 52)

 

248 Seiten, 1 Abbildung

Gebunden mit Schutzumschlag, 29,90 Euro

ISBN: 978-3-8353-3519-6

 

Der Autor: Jürgen Heyde, geb. 1965, Studium der osteuropäischen Geschichte, Slavistik und Mittleren Geschichte in Giessen, Mainz, Warschau und Berlin, 1998 Promotion an der FU Berlin, 2009 Habilitation an der der MLU Halle-Wittenberg, 2010-2013 wiss. Mitarbeiter am Institut für Geschichte der MLU Halle-Wittenberg (Forschungsprojekt: Der »Ghetto«-Begriff in der polnisch-jüdischen Historiographie und Publizistik 1868–1918), 2014-2019 wiss. Mitarbeiter am Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa in Leipzig (Forschungsprojekt: „Ethnische Gruppenbildung in der Vormoderne. Interkulturalität und Transkulturalität am Beispiel der Armenier im östlichen Europa); 2016 apl. Professor der MLU Halle-Wittenberg; Veröffentlichungen (u.a.): Geschichte Polens (Beck‘sche Reihe, zul. 2017); Transkulturelle Kommunikation und Verflechtung. Die jüdischen Wirtschaftseliten in Polen vom 14. bis zum 16. Jahrhundert (2014).

 

»Ghetto« ist mehr als ein Ort! »Ghetto« ist vielmehr ein zentraler Begriff jüdischer Identität und Fremdbetrachtung. Die hier vorliegende Studie ist die erweiterte, thematisch verbreiterte Version des Forschungsprojekts Der »Ghetto«-Begriff in der polnisch-jüdischen Historiographie und Publizistik 1868–1918. Der vom Autor gewählte Untersuchungszeitraum ist das „lange 19. Jahrhundert“. Darunter versteht man die Ära zwischen französischer Revolution (1789) und Erstem Weltkrieg (1914). Zwischen diesen beiden Marksteinen vollzog sich jener bedeutende geistige, kulturelle und soziale Wandel, der es auch dem europäischen Judentum ermöglichte, sich in unterschiedliche Richtungen zu entwickeln.

 

Bei der Studie geht es nicht so sehr um die Entstehung und den historischen Wandel von Ghettos oder Judenvierteln. Es handelt sich vielmehr um eine Begriffsgeschichte des Wortes »Ghetto«. Darin spannt der Autor einen Bogen von den namensgebenden jüdischen Vierteln in den italienischen Städten im 16. Jahrhundert und die in Ostmitteleuropa geführten innerjüdischen Emanzipationsdiskurse, die sich um den Begriff des Ghettos rankten, bis hin zu den Ghettos, die zu Beginn des 2. Weltkrieges in vielen Städten Ost- und Südosteuropas zur Zwangskonfinierung der jüdischen Bevölkerung eingerichtet wurden (S. 8).

h127_62-kopie.jpg

Die Studie ist in mehrere Abschnitte gegliedert. In der Einleitung wird die Problematik um das Wort »Ghetto« als semantischem Begriff und Ortsbegriff umrissen (S. 7-14). Das Kapitel (Be-)Deutungen vertieft die Suche nach einer Definition und erläutert die Debatten über das frühneuzeitliche »Ghetto« (S. 15-27). Dabei konnte der Autor zeigen, dass die Abgrenzung zwischen dem durch nichtjüdische Obrigkeiten erzwungenen Ghetto und dem auf freiwilligem Zusammenschluss beruhenden jüdischen Viertel bereits in der Frühen Neuzeit zum Schlüsselkriterium für eine begriffliche Bestimmung von »Ghetto« wurde (S. 27).

 

Das Kapitel Grundlagen beschäftigt sich ebenfalls mit der Etymologie, den wortgeschichtlichen Grundlagen des »Ghetto«-Begriffs, den mittelalterlichen Debatten über die Trennung von Juden und Christen sowie der Entstehung des »Ghetto«-Begriffs anhand des namensgebenden Judenviertels von Venedig. Schon im Venedig des 16. Jahrhunderts, als 1516 auf Initiative des Senats im »Ghetto Nuovo« ein jüdischer Wohnbezirk eingerichtet wurde, war »Ghetto« mehr als ein Toponym. Es sind unterschiedlich zugeschriebene Botschaften: für Christen keine Juden mehr in der Stadt, für Juden hingegen Schaffung eines dauerhaften Wohnraums (S. 28-50, S. 210).

 

Das Kapitel Emanzipation als Zeitenwende? widmet sich den Themenfeldern »Ghetto« im deutschen Sprachraum des 19. Jahrhunderts, Emanzipation und »Ghetto«, „Ghettoliteratur“, dem »Ghetto«-Begriff in der deutschsprachigen Historiographie und Enzyklopädien als Indikatoren für die Aufnahme in den bildungsbürgerlichen Wissenskanon (S. 51-97). Unter mehreren Enzyklopädien hat Jürgen Heyde u. a. das bereits 1731-1754 erschienene Zedlersche Universallexikon ausgewertet (S. 56-58). In dessen entsprechenden Einträgen wurde der »Ghetto«-Begriff einer breiteren gebildeten Öffentlichkeit präsentiert und darin als obrigkeitlich definierter Zwangsraum konstruiert (S. 210).

 

Der Abschnitt „Heraus aus dem Ghetto“ – Galizien an der Wende zum 20. Jahrhundert beschäftigt sich mit den Diskursen über Juden und »Ghetto« im deutschen und polnischen Schrifttum Galiziens sowie in der jüdischen Presse und Historiographie. Für die Anhänger der jüdischen Assimilation war »Ghetto« ein Synonym für alles nicht emanzipierte, vormoderne, galt als Symbol der Vergangenheit. Andererseits entwickelte sich das Narrativ von einem genuin jüdischen, von jüdischer Tradition durchdrungenem Raum (S. 98-180, S. 224).

 

Das Kapitel Suprematismus und Paranoia: »Ghetto« im antisemitischen Schrifttum (S. 181-208) dokumentiert die fatalen Vorstellungen des 20. Jahrhunderts: über »Ghetto« in der katholischen Publizistik und die Gettoisierungspropaganda der 1930er Jahre sowie den deutschen Antisemitismus und Ostforschung. Im deutschen Antisemitismus wurde Ghetto als genuin jüdischer Raum verstanden, der sich der Kontrolle durch die nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft entzog und damit per se eine Gefahr darstellte (S. 217). Dazu wird auch das 1938 erschienene Buch Das Judentum im osteuropäischen Raum des Peter-Heinz Seraphim analysiert, der in seinen Veröffentlichungen die Untersuchungen jüdischer bzw. zionistischer Wissenschafter umdeutete und damit einen methodischen und propagandistischen Beitrag zu den nationalsozialistischen Ausrottungsplänen leistete (S. 204-208).

 

In der Schlussbetrachtung: »Ghetto« – Raum, Wissen und Jüdische Identität im langen 19. Jahrhundert (S. 209-218) werden die Thesen und Erkenntnisse zusammengefasst. Ein detailliertes Verzeichnis der Quellen und Literatur (S. 220-224) sowie ein Personen- und Ortsregister (S. 245-248) ergänzen die Publikation. Insgesamt eine wissenschaftlich hochwertige Studie zur Begrifflichkeit jüdischer Selbst- und Fremdbetrachtung. Vgl. auch die ausgezeichnete Rezension von Anne-Christin Saß bei Springer Link vom 28. Juli 2020.

 

Christoph Tepperberg