Stefan Zweig enttarnte das Hitlerregime anhand des Reformators Johannes Calvin in Genf
Teil II
Calvin besass ganz sicher nicht die politische Macht zur Errichtung einer immer wieder kolportierten Theokratie. Ihm wurde erst 1559 überhaupt das Genfer Bürgerrecht verliehen. Allerdings hatte er unbestritten mächtigen Einfluss sowie viele Feinde und Gegner. Die opponierenden Alteingesessenen blieben ihm erhalten, ebenso der zunehmende Widerstand der Zünfte. Binnen weniger Jahre hatte sich die Genfer Bewohnerschaft durch massiven Flüchtlingszulauf, hauptsächlich aus Frankreich und Italien, auf 20.000 verdoppelt. Die vielfach hochqualifizierten Ausländer, für deren Eingliederung sich Calvin stark machte, wurden als Bedrohung der einheimischen Wirtschaft wahrgenommen, doch waren sie längerfristig eine Bereicherung für die Modernisierung Genfs, wie auch Calvins Gründung der Akademie zu internationalem Zulauf und Ansehen führte.
In den Auseinandersetzungen zwischen der alten Kirche und den sich untereinander durchaus unterscheidenden Reformbewegungen war Calvin zwar ein gefragter Ratgeber, mutierte aber auch zum bestgehassten Gegner. Er war rhetorisch und schriftlich von besonderer Wortgewandtheit, konnte nicht nur die Bibel, sondern auch die Kirchenväter aus dem Gedächtnis zitieren. In der Frankophonie wird Calvin eine ähnliche Bedeutung für die Herausbildung der neuen französischen Sprache zugeschrieben wie Luther für die deutsche. Im Konsistorium, dem über die Jahrhunderte der Ruf eines Gesinnungs- und Verfolgungsinstruments angehängt wurde, war Calvin die engagierteste Stimme der Versöhnung. Das Konsistorium war ein Leitungsgremium, das zwar Einfluss, aber keinerlei exekutive Gewalt hatte und lediglich an den Rat überweisen konnte. Wie die erst vor 50 Jahren erfassten und publizierten Protokolle des Konsistoriums zeigen, hatte sich Calvin dort als einfühlsamer Seelsorger und Fürsprecher für die in Konflikt oder persönliche Not Geratenen erwiesen. Die Ermahnungen zum regelmässigen Besuch der Predigten waren ein Teil seiner Bemühungen, die Botschaft und Praxis des Evangeliums allgemein verständlich zu machen und zu überzeugen, statt zu Selbstverleugnung, Lüge und Meineid zu nötigen.
Wo man Calvin mit Argumenten nicht beikommen konnte, wurde er schlicht diffamiert und verunglimpft. Bereits zu seinen Lebzeiten wurde ein Zerrbild geschaffen, das noch Jahrhunderte durch die Kirchengeschichtsschreibung aller Lager verbreitet wurde und auf dem die Darstellung von Stefan Zweig fusst. Bildliche Darstellungen, die einen verhärmten und strengen, wenn nicht sogar fanatischen Calvin zeigen, wurden bevorzugt verbreitet. Tatsächlich stellen sie eine tragische Figur dar, einen (magen-)kranken, total überarbeiteten Mann, der mit den Opfern der Verfolgung litt. Berührend ist sein Brief an die zum Tode verurteilten jungen Pastoren, die er wenige Zeit zuvor erst als seine Schüler in Genf für den Einsatz in Frankreich entlassen hatte.
Die Einbindung in die Hinrichtung des spanischen Arztes Michael Servet im Auftrag der Inquisition gehört zu den tatsächlich unerträglichen Kapiteln in der Geschichte der Reformation und Calvins. Der Vorwurf des Humanisten und Protestanten Sebastian Castellios gegenüber Calvin, dieser habe die Hinrichtung nicht verhindert, ist der Grundtenor des Buches von Stefan Zweig. Castellio bestritt die Zulässigkeit der Todesstrafe für Glaubensfragen. Calvin konnte sich zu diesem Standpunkt nicht durchringen. Servet hatte Calvin provoziert und war nach Genf gereist, um Calvin zu überzeugen, obwohl ihm dieser bereits mehrfach brieflich widersprochen hatte. Servets Ablehnung der Dreifaltigkeitslehre stellte eine Erschütterung der gemeinsamen christlichen Lehre dar, auf die sich alle reformatorischen Kirchen beriefen und damit gegenüber der verharrenden katholischen Kirche rechtfertigten. So konnte es sich Genf auch nicht leisten, das von einem Inquisitionsgericht gefällte aufrechte Todesurteil zu ignorieren, noch dazu da sich die übrigen reformierten Kantone auf Nachfrage wohlweislich „abgeputzt“ hatten, um nicht unter den Bann zu fallen.
Es sollte noch einige Jahre dauern, bis Calvinschüler wie der „Vater des Völkerrechts“, Hugo Grotius, und François du Jon jene Toleranz begründeten, die zum ersten Mal in Siebenbürgen unter der Hohen Pforte durch den calvinistischen ungarischen Fürsten Gábor Bethlen vollzogen wurde, so dass neben Moslems auch Juden, Katholiken, orthodoxe Christen, Lutheraner, Reformierte und selbst Unitarier (die Leugner der Trinität) unbehelligt leben durften.
Erst im letzten Kapitel gelingt Stefan Zweig eine quasi Rehabilitierung in Form der Wirkung Johannes Calvins, allerdings im Sinne seines Calvin-Bildes unter anachronistischer Vertauschung von Calvin und Calvinismus. Zweig kam nicht umhin, die positive Wirkungsgeschichte Calvins für die Entwicklung der Wissenschaften, der Grund- und Freiheitsrechte und nicht zuletzt des wirtschaftlichen Fortschritts zu würdigen. Nur machte er dafür den Calvinismus verantwortlich. Dieser konnte jedoch erst nach dem Tode Calvins, nachdem dessen einfühlsamer und mitleidender Geist nicht mehr unmittelbar wirksam war, in Genf eben jenes rigorose Regiment entfalten, das Zweig und viele andere auf Calvin persönlich projizierten. Auch die Puritaner und die orthodoxen Calvinisten in den Niederlanden standen für geistige Enge und ein moralisches Diktat, das sich zu Unrecht auf Calvin berief.
Teil I dieses Beitrags erschien in DAVID Heft 126, Rosch Haschana 5781/September 2020.