Ausgabe

Die Vertreibung von 1670 und der Friedhof in der Seegasse

Tina Walzer

Notizen zu Zerstörung und Neuaufbau der jüdischen Gemeinden Wiens

Die Zweite jüdische Gemeinde Wiens existierte, solange der Staat sie als eine religiöse Gemeinschaft von Stadtbewohnern mit permanentem Aufenthaltsrecht duldete. Sie bestand von 1625 bis 1670 im Unteren Werd (mhd. Insel, heute Teil des Zweiten Bezirks) und wurde bereits nach 45 Jahren auf Anordnung des Habsburgerkaisers Leopold I. wieder aufgelöst. Die jüdische Bevölkerung Wiens wurde ausgewiesen.

Inhalt

h127_50-kopie.jpg

stein a.a.O., Bd. 1, Abb. zu Nr. 634, S. 482.

Bereits in den Jahrzehnten zuvor hatte das städtische Bürgertum wiederholt eine Ausweisung der jüdischen Bevölkerung Wiens gefordert. Die Bürger wollten mögliche Konkurrenz in wirtschaftlichen Krisenzeiten blockiert wissen und intervenierten, zunächst immer wieder vergeblich, da für den Hof der Nutzen, den die jüdische Gemeinde brachte, ausschlaggebend war. Allerdings liess sich der Kaiser dann doch von seiner religiös fanatisierten Ehefrau sowie judenfeindlich eingestellten hohen Repräsentanten des Klerus gegen die jüdische Präsenz in der Stadt einnehmen und gab dem Druck der Bürger nach. Im Zentrum der offensichtlichen Interessenskonflikte zwischen dem Herrscher und seinem Staat, dem Bürgertum der Stadt Wien und der jüdischen Gemeinde standen nicht so sehr Probleme einzelner Personen, als beabsichtigte Einnahmen aus dem Steueraufkommen der Stadt, und wie diese Lasten auf die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen aufgeteilt werden sollten. Wofür das Geld ausgegeben wurde, und welche etwaigen Sachzwänge sowie politischen Ziele hinter der Vertreibung standen, kann an dieser Stelle nicht ausführlich erläutert werden. Faktum ist, dass sie über Jahre graduell vorbereitet wurde und im kaiserlichen Ausweisungsdekret vom 28. Februar 1670 kulminierte.

Sehr bald erwies sich die politische Strategie des Hinauswurfs als Flop, denn die Bürger Wiens konnten die geforderte Steuerlast entgegen ihrer Behauptung doch nicht alleine schultern; der Kaiser hatte einen Fehlbetrag aus den nicht mehr vorhandenen Einnahmen der jüdischen Steuerleistung und dem ihr zugrundeliegenden Wirtschaftsaufkommen zu verzeichnen. Während aber die jüdische Bevölkerung Wiens bis Ende Juli 1670 die Stadt hatte verlassen müssen, blieb einer ihrer zentralen Orte bestehen: der Friedhof.

 

Die wichtigste Quelle

Dieser Friedhof in der Seegasse – heute das älteste bekannte noch erhaltene jüdische Bestattungsareal Österreichs – stellt sich, aufgrund von Zerstörungen in der NS-Zeit und deren Auswirkungen, nur mehr als rudimentär erhaltener Überrest einstiger Fülle dar. Vor einhundert Jahren war es dem bedeutenden jüdischen Wissenschaftler Bernhard Wachstein (1868–1935) noch möglich gewesen, ein Vielfaches der heute spärlich auf dem 2.258 Quadratmeter grossen Areal verteilten Grabdenkmäler eingehend zu studieren. Indem er deren Inschriften publizierte, setzte er für die Forschung bis heute gültige Massstäbe und schuf ein herausragendes Grundlagenwerk der Wissenschaft des Judentums. Anstelle des schwerst beschädigten Friedhofs ist es dieses Buch, das uns heute Aufschluss über zwei vernichtete jüdische Siedlungen Wiens im 17. und 18. Jahrhundert gibt, wie sie sich im alten Begräbnisareal des Oberen Werd (am nordöstlichen Ende der Insel, heute im Neunten Bezirk gelegen) gespiegelt haben. Wachstein fand 695 Verstorbene bzw. Grabsteine aus der Zeit zwischen 1540 und dem Jahr der Vertreibung 1670 vor (davon 573 Verstorbene ab 1625, der Zeit der Zweiten Gemeinde), und zu weiteren 473 Verstorbenen lokalisierte er 357 Steine von 1697 bis zur behördlichen Schliessung des Areals gemäss der josefinischen Sanitätsreform zum Jahresende 1783.

h127_52-kopie.jpg

h127_51-kopie.jpg

Grabmonument Samuel Oppenheimer (21.6.1630 – 3.5.1703). Quelle: Wachstein a.a.O., Bd. 2, Tafel 1, zu Nr. 700.

Wachstein verzeichnete, anhand der zu seiner Zeit noch vorhandenen Grabsteine sowie Urkunden und Dokumente zu den Verstorbenen, die ihm erkennbaren Bestattungen: vergleicht man jene der 1660er Jahre mit 1670, so ist deutlich eine drastische Abnahme der Bevölkerungszahlen zu erkennen. Im Jahr der Vertreibung starben nur 3 Personen. Danach fanden für 27 Jahre keine Beerdigungen mehr auf dem Areal statt. 1660 waren fünf Männer und vierzehn Frauen bestattet worden, 1665 waren es zwölf Männer und drei Frauen, drei Jahre später nur noch ein Mann und drei Frauen, 1670 schliesslich zwei Männer und eine Frau. Einer der zwei Grabsteine, die Wachstein beide noch sah, und die als Sterbedatum 1670 angeben, wurde erst sechzehn Jahre nach der Bestattung aufgestellt: es ist jener für Koppel Fränkel. Die beiden letzten Personen, die, unmittelbar bevor die Zweite jüdische Gemeinde Wien endgültig verlassen hatte, noch am Friedhof bestattet wurden, waren Elieser b. Uri Schraga Phöbus Chalfan (gest. 9.6.1670) und seine Frau Jütl (gest. 5.7.1670), ihnen beiden wurde ein Doppelstein gesetzt.

 

Ein Friedhof, der den Tod einer Gemeinde anzeigt 1

Im Zuge der Vertreibung wurde den Juden jedes Recht auf Grundbesitz in Wien abgesprochen. Das aber geriet zum grundlegenden Problem für den jüdischen Friedhof, dessen Grabstellen und Erinnerungssteine nach der Halacha (dem jüdischen Gesetz, hebr.) den Toten gehören und bis zum Jüngsten Tag erhalten bleiben sollen. Wer sollte nach der Vertreibung der Gemeinde für deren Erhalt sorgen? Diese brennende Frage beschäftige auch die Söhne eines der wohlhabendsten Repräsentanten der jüdischen Gemeinde, denn deren Vater war wenige Monate vor der Vertreibung erst verstorben und es galt ihnen als heilige Pflicht, das Grab – so wie dankenswerterweise auch alle anderen Gräber dort – vor einer Zerstörung geschützt zu wissen. Jakob Koppel b. Jeremia Isak ha-Levi Fränkel starb am Donnerstag, 17. April 1670, im Jahr der Vertreibung. Seine Söhne verhandelten erfolgreich eine Vereinbarung mit der Standesvertretung der Bürger der Stadt über den Erhalt des Friedhofs und der dort befindlichen Gräber und Grabmonumente. Ein Vermögen (4.000 Gulden) zahlten sie der Wiener Bürgerschaft dafür. 2 Zur Pflege des Areals ersuchten sie die Behörden, die bisherige Friedhofswärterfamilie Osterhammer weiterhin einzusetzen. Den Grabstein für ihren Vater konnten sie allerdings erst sechzehn Jahre später, am 22. Juli 1686 setzen lassen. Drei Jahre zuvor hatte Samuel Oppenheimer bei der Befreiung der Stadt aus der Zweiten Türkenbelagerung Wiens 1683 helfend eingegriffen; er war – nur sechs Jahre nach der Vertreibung der Gemeinde – der erste Jude gewesen, der wieder zurück an den kaiserlichen Hof nach Wien berufen worden war. Koppel Fränkels Söhne lebten zum Zeitpunkt der Steinsetzung bereits in Fürth (Bayern): wie sehr sie sich auch um ihre Wiederzulassung bemühten, nach Wien zurückkehren durften sie nicht.

 

Der Friedhof wird „privatisiert“

In Hinblick auf sein fortgeschrittenes Alter hatte Oppenheimer die Weiternutzung des alten Begräbnisareals möglich gemacht, indem er sich von der Bürgerschaft Wiens die Rechte der Erben Koppel Fränkels am Friedhof hatte übertragen lassen. Tatsächlich lebte und arbeitete er noch zwanzig Jahre lang in Wien, bevor er im Alter von 73 Jahren, am Donnerstag, 3. Mai 1703, an den Folgen einer Lungenentzündung verstarb und, so wie von ihm geplant, am Seegassenfriedhof bestattet wurde. Sein Grab ist erst das fünfte seit der Vertreibung von 1670. Anhand der Nutzungsgeschichte des Begräbnisareals lässt sich die Wiederansiedlung von Juden in Wien wie in einem Spiegel erkennen. Im Jahr 1697 war erstmals wieder eine Bestattung dort durchgeführt worden (eine Frau), im nächsten Jahr folgte ein Mann. Fünf Jahre danach waren es Oppenheimer selbst sowie ein weiterer Mann. Für das Jahr 1705 verzeichnete Wachstein einen Mann und eine Frau. Der sprunghafte Anstieg der Zahlen 1719/20 zeigte an, dass der Aufbau einer neuen jüdischen Siedlung in Wien, der späteren Dritten jüdischen Gemeinde, begonnen hatte.