Ausgabe

Eine Spurensuche im Baltikum

Christoph Tepperberg

Inhalt

Uta von Arnim: Das Institut in Riga. Die Geschichte eines NS-Arztes und seiner „Forschung“. Eine Spurensuche.

Zürich-München: Nagel & Kimche 2021.

240 Seiten, 6 SW-Abbildungen, Hardcover mit Schutzumschlag, Euro 22,70.-

ISBN 978-3-312-01244-2

eBook Euro 16,99.- ISBN 978-3-312-01245-9

Die in Berlin lebende Autorin Dr. Uta von Arnim, geboren 1964, Promotion 1992 an der Technischen Universität München, ist Ärztin für Allgemeinmedizin am DRK Klinikum Berlin und Redakteurin beim Tagesspiegel Berlin mit Auslandsaufenthalten in Brüssel, London, New York und Indien. Sie zeigt in ihrem Buch die Banalität des Bösen im Dritten Reich. Sie zeichnet dabei ein scharfkantiges Bild ihres eigenen Grossvaters, des NS-Arztes Dr. Herbert Bernsdorff und von dessen Familie. Aus Gesprächen und Interviews mit Familienmitgliedern, Fotos, Archivrecherchen in Berlin, Hamburg und Riga, Zeitzeugenberichten und dem Studium historischer Fachliteratur wurden die Geschehnisse rund um das „Forschungsinstitut“ im Kleistenhof rekonstruiert.

Der baltische Arzt Dr. Herbert Bernsdorff (1892–1968) leitete 1941-1944 das Gesundheitswesen in den von NS-Deutschland besetzten baltischen Staaten. Herbert Bernsdorff hatte seinen Amtssitz im Reichskommissariat Ostland in Riga und war für die Umsetzung der Gesundheitspolitik im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie im gesamten Baltikum verantwortlich. In diesem Sinne erfolgten auch Gründung und Aufbau seines "Instituts" im Kleistenhof, dem am Stadtrand von Riga gelegen Gutshaus seiner Gattin Edda. In diesem „Forschungsinstitut“ arbeiteten deutsche „Wissenschaftler“, Laboranten und Laborantinnen an der Herstellung eines Impfstoffes gegen Fleckfieber. Dazu mussten Juden als „Versuchskaninchen“ herhalten. Eine Gruppe jüdischer Personen wurde aus dem Ghetto von Riga auf den Kleistenhof geholt. Dort mussten die Probanden unzählige Läuse, die zum Teil mit Fleckfieber-Erregern infiziert waren, mit ihrem Blut „füttern“. Dabei wurden den Probanden die Läuse in kleinen Schachteln zweimal täglich für mindestens zwanzig Minuten auf die nackte Haut gebunden (S. 84).

Anhand verschiedener Archiv-Dokumente erläutert Uta von Arnim unter anderem Vorgänge des Jahres 1942:

„Sieben Menschen, gemäss ihrer schmerzhaften Zwangsarbeit jetzt ‚Läusefütterer‘ genannt. Kleine Kästchen, mit dünnem Stoff unten verschlossen und mit Läusen gefüllt, werden ihnen täglich zwei Mal auf Arme und Beine gebunden. Bernsdorff besorgt dafür Glasbatist, diesen speziellen Stoff, durch den die Läuse ungehindert hindurchstechen können – in die Haut der Häftlinge“ (S. 73). Oder: „Die Läuse sitzen zu Hunderten in kleinen Plastikschachteln von etwa fünf Zentimetern Länge, Läusekäfige genannt, die unten offen sind, bis auf ein Stückchen weisse Gaze-Binde, durch die die Tiere hindurchstechen können“ (S. 83). Und: „Das Institut für medizinische Zoologie braucht jetzt erneut Juden aus dem Ghetto als Läusefütterer. Es erbittet die Genehmigung, drei Juden zu benutzen, die als Meerschweinchen dienen, um auf ihnen Fleckfieberläuse zu ernähren. Es erbittet die ausnahmsweise Erlaubnis, diese Juden weniger als 8 Stunden beschäftigen zu dürfen, weil sie, sobald der Umfang des Laboratoriums ab Mitte November die erforderliche Höhe erreicht, heilenden Massnahmen unterzogen werden müssen“ (S. 73).

Über das scheinbare Ende des „Nazi-Spuks“ schreibt die Autorin:

„Im Jahr 1946 landet Edda Bernsdorff nach langer Flucht mit ihrem Mann Herbert und ihren fünf Kindern im Lagerraum einer Wassermühle im britischen Sektor. Herbert wird Landarzt, Edda Englischlehrerin. Die beiden haben glänzendere Zeiten hinter sich. Herbert eine leitende Position in Riga, ein Flugzeug zur Verfügung, die Stiefel immer geputzt, Edda ein Gutshof voll polnischem Personal. Nur das goldene Parteiabzeichen, das sie immer noch gerne zeigen, hat von seinem Glanz nichts verloren“ (S. 13).

Zwischen die Darstellung der historischen Ereignisse setzt Uta von Arnim immer wieder atmosphärisch-subjektive Miniaturen, die sich von der sprachlichen Immanenz amtlicher NS-Dokumente angenehm abheben. Aus der Spurensuche der Enkelin entstand so eine eindringliche und stilistisch ansprechende Mélange aus wissenschaftlicher und emotionaler Aufarbeitung.

h133_54.jpg