Ausgabe

Was wusste man 1938–1944 in Wien vom Holocaust?

Gertrude Enderle-Burcel

Nationalsozialisten, Opportunisten, politisch und „rassisch“ Verfolgte – erschreckende Zeugnisse in den Tagebüchern von Heinrich Wildner.

Inhalt

Was wusste man 1938–1944 in Wien vom Holocaust?

 

 

Nationalsozialisten, Opportunisten, politisch und „rassisch“ Verfolgte – erschreckende Zeugnisse in den Tagebüchern von Heinrich Wildner.

 

Die Frage nach dem Wissen der Zeitgenossen über die Verfolgung und Vernichtung ihrer jüdischen Mitbürger gehört zu den zentralen Themen in der Holocaust-Forschung. Die Öffnung der Archive des Vatikans rund um die Überlegung, was Papst Pius XII. über den Holocaust wusste, rückte dieses Problem wieder mehr in den Fokus historischer Forschungen.1 Die Kriegstagebücher von Heinrich Wildner (1879–1957) haben einen besonderen Stellenwert, da hier ein politisch kaltgestellter, hochrangiger Diplomat seine ganz persönlichen Eindrücke des Geschehens festhielt. Dankenswerterweise bewilligte der Zukunftsfonds der Republik Österreich ein Forschungsprojekt (P 20-4011) mit dem Ziel einer Edition dieser Tagebücher.

 

Victor Klemperers vielzitierte Tagebücher2 zeigen, dass dieser 1942 von Auschwitz Kenntnis hatte. Wildner notierte bereits ein Jahr früher am 23. November 1941:

„K. erzählt, ein Universitätsprofessor sei kürzlich bei Mauthausen gewesen, der Schornstein des dortigen Konzentrationslager-Krematoriums rauche Tag und Nacht.“

 

Wildners Aufzeichnungen, ursprünglich in Gabelsberger-Stenographie3 abgefasst, zu denen es Typoskripte aus den 1950er Jahren gibt, weisen ihn als gut vernetzten, scharfen Beobachter des Zeitgeschehens aus. Die Tagebücher für die Jahre 1938 bis 1944 liefern detaillierte Angaben zu Geschehnissen in Wien, zu Kriegs- und Frontereignissen in Europa und Afrika, zum Verhalten vieler seiner ehemaligen Kollegen oder anderer Personen aus Verwaltung und Politik, zu Gerüchten, zu Witzen, die im Umlauf waren, aber auch zu der von ihm wahrgenommenen, rasch eingetretenen antideutschen Stimmung in Wien. Durchgängig finden sich Hinweise auf die nationalsozialistischen Gräueltaten, auf die Enteignung von jüdischem Besitz und die Verfolgung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung auf österreichischem Gebiet, in Polen, auf dem Balkan und in Russland, auf die Enteignung von Klöstern und adeligem Grossgrundbesitz, auf Kunstraub und entsprechende Versteigerungen im Dorotheum, auf Euthanasie, Zwangsarbeiter und Kriegsverbrechen.

 

Wer war nun der Mann, der in Wien lebte und so viel wusste? Heinrich Wildner wurde am 27. Mai 1879 im böhmischen Reichenberg (heute Liberec, Tschechische Republik) geboren und starb am 4. Dezember 1957 in Wien. 1903 trat er in den Auswärtigen Dienst, ab 1932 war er als a.o. Gesandter und bevollmächtigter Minister tätig. Die Jahre 1938 bis 1945 verbrachte er – von den Nationalsozialisten in den Ruhestand versetzt – in Wien. Im April 1945 trat er wieder in den Auswärtigen Dienst. Obwohl schon 66 Jahre alt übte er vom Juli 1945 bis November 1949 die Funktion eines Generalsekretärs für die Auswärtigen Angelegenheiten aus. Wildner war ein grossdeutsch ausgerichteter katholisch Konservativer. Im Gauakt wird er als Diplomat bezeichnet, „der keine Gewähr jederzeitigen Einsatzes für die NSDAP bietet“ und als „Gegner der NSDAP“ eingestuft. Seine Nichteinlieferung nach Dachau sei nur seinen guten Beziehungen zuzuschreiben, „[…] W. gilt nach wie vor als strenggläubiger, frommer Katholik und war ein grosser Verehrer Seipels“. Wildner war in den Jahren 1938 bis 1945 ein Privatmann, ein Pensionist, der auf ausgedehnten Spaziergängen mit ehemaligen Kollegen und Bekannten zu seinen Informationen kam. Seine Tagebücher geben einen Eindruck vom herrschenden Denunziantentum, von Stellenjägerei, Verhaftungen, Anbiederung an die neuen Machthaber, von den Morden am Steinhof, von den Kriegsgräueln. Durchgängig finden sich aber auch Eintragungen zur Verfolgung und Vernichtung von Juden. Einige wenige Textbeispiele sollen einen Eindruck von seinem Wissen über die Entrechtung und den Massenmord an der jüdischen Bevölkerung vermitteln:

 

„9. Februar 1938: Über Ungarn höre ich, dass die antisemitische Stimmung immer mehr zunimmt …

26./27. April 1938: Gestern wurden in unserer Nachbarschaft, sogar in unserem Hause [Wien 3, Esteplatz 3], jüdische Frauen heruntergeholt und auf Lastwagen in Wäschereien gebracht …

3. September 1938: … In Italien gibt es auch schon systematische Judenaustreibung …

11. November 1938: Die Pogrome sind planmässig durchgeführt worden. Die Behörden griffen nicht ein. Die Synagogen waren mit Petroleum angezündet worden, infolgedessen konnte die Feuerwehr auch schwer löschen …Viele Juden sind eingesperrt, darunter viele hundert in den Sophiensälen. Die jüdischen Firmentafeln sind alle verschwunden …

11. Mai 1939: Sah auf einem Spaziergang auf der Sandleiten, dass das schöne Wolgaschifferdenkmal von der Ries5 weggebracht wur de. Ist sie am Ende auch nicht in Ordnung gewesen? ...

2. Juni 1939: … In Triest sind gegen die Juden gerichtete Massnahmen im Gange …

13. August 1941: … Im Hause wurden gestern und vorgestern die Wohnungen der Juden durchsucht durch Parteileute, die sich überall verschiedene Übergriffe leisteten. Sie nahmen auch Lebensmittel weg …

10. Jänner 1942: … In Jugoslavien seien Juden und Zigeuner praktisch ausgerottet. Die Praxis der Gestapo ungeheuerlich. In gewissen Lagern ergehe man sich in sadistischen Folterungsmethoden. Glücklich jeder, der früher hinübergeht ...

4. März 1942: In Charkow [Charkuf] sind angeblich 40.000 Juden auf einem Hügel in die Luft gesprengt worden …

26. Juli 1942: K. erzählt, dass an der Ostfront systematisch Juden umgebracht werden, an einer Stelle 17.000 in der Weise, dass sie sich nackt einer neben den anderen und in weiterer Folge übereinander legen müssen, worauf dann ein SS-Mann mit ungewöhnlich hohen Stiefeln kommt, um jeden einzelnen durch Kopfschuss abzuknallen. Die SS-Leute können dies angeblich auch nur im Rausch vollführen. Gleiche Greuel habe ich auch von anderer Seite mit noch grösseren Ziffern gehört …

22. September 1942: Die Judenfrage in Wien soll erledigt sein. Die Kultusgemeinde verlässt am 18. Oktober Wien. Alle weiteren Massnahmen werden eingestellt …

12. November 1943: [Polen] … Die Juden wurden systematisch umgebracht … Auch die Kinder wurden nicht am Leben gelassen, zu Tausenden wurden sie nackt in Lastwagen zur Begräbnisstätte gebracht. Jetzt werden die jüdischen Toten wieder ausgegraben und die Überreste verbrannt …“

 

Wildners Wissen über die Gräueltaten ist umfassend. Der Historiker Dieter Pohl verwies in einem Standard-Artikel vom 19. Dezember 2012 unter dem Titel „Grosse Lücken in der Erinnerung“ darauf, dass je weiter er „mit seinen Forschungen Richtung Osten geht, desto dünner die Faktenlage wird.“ Umso bemerkenswerter sind die Tagebucheintragungen von Wildner zu den Ereignissen im Osten. Seine Aufzeichnungen zeigen zwar sein Wissen, doch sind sie – was Juden betrifft – im Stil eines Chronisten abgefasst, ohne Empathie und ohne Wertung der Ereignisse. An seinem durchgängig bemerkbaren Antisemitismus änderte sein Wissen um die Massenmorde nichts. Seine ab 1942 angestellten Überlegungen für die Gestaltung der Nachkriegszeit schliessen Juden dezidiert aus:

„27. Jänner 1943: [nach Stalingrad] … dass angeblich die Amerikaner an die Wiederherstellung des alten Vorkriegsstandes denken … An die Judenfrage scheint man bei allen Zukunftsprojekten überhaupt nicht zu denken …

25. Februar 1943: Unterhaltung mit Rudolf Colloredo:6 das zersetzende jüdische Element ist eben ausgeschaltet und dürfte später auch nicht mehr eine Rolle spielen können …“

 

 

Auch Vertriebene sollten nach Wildners Meinung keinen Platz in der österreichischen Nachkriegsordnung einnehmen:

„4. November 1944: … Franckenstein7 soll eine für die Österreicher bestimmte Rede gehalten und sie zur Selbstbetätigung gegen die Deutschen aufgefordert haben. Dabei hat er sich selbst in die englische Staatsbürgerschaft geflüchtet und hätte als solcher wohl kein moralisches Recht, sich an österreichischen Dingen zu beteiligen …“

 

Die Tagebücher erzeugen in ihrer Dichtheit ein Gefühl der Beklemmung. Allgemein wird von Wildner der Verlust bürgerlicher Werte: Familie, Kirche, Eigentum, Rechtsordnung beklagt. Die Entrechtung der Juden wird nur deshalb verurteilt, da diese auch auf andere Bevölkerungsgruppen angewendet werde. Seine Überlegungen für die Nachkriegsgesellschaft in Österreich bestätigen das (schon durch die Forschung der letzten Jahrzehnte belegte) Grundmuster, dass "Juden und Emigranten" keinen Platz in der Neuordnung finden sollten. Aber, dies sei fairerweise auch hinzugefügt, Wegbereiter des Nationalsozialismus und Opportunisten (für die Wildner Verachtung zeigte) seiner Meinung nach auch nicht. Wildners Wissen um die Ereignisse sind nicht singulär, sondern zeigen deutlich, dass es sehr viele Menschen gegeben hat, die „Bescheid“ wussten, auch wenn viele dies später verdrängten und in den Chor der „Das-Haben-Wir-Nicht-Gewusst“-Vertreter mit einstimmten. Es war daher keine Frage für Wildner, der so vieles wusste, dass er sich im April 1945 wieder zum Dienst meldete und dort wieder seine Arbeit aufnahm – doch nun als Generalsekretär für Auswärtige Angelegenheiten – wo er 1938 aufgehört hatte.

 

Anmerkungen

 

1 Vgl. dazu erste Informationen im Dossiere in „Die Zeit“, 23. April 2020, S. 14 f „Der Papst, der wusste und schwieg“.

2 Victor Klemperer, Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten, Tagebücher 1933-1945, Berlin 1995 (zwei Bände).

3 Dabei handelt es sich um eine von Franz Xaver Gabelsberger (1789 München-1849 München) entwickelte Kurzschrift.

4 Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, Gauakt Zl. 2.579, Heinrich Wildner.

5 Theresa Feodorowna Ries (1874 Moskau – 1956 Lugano), Bildhauerin, lebte ab 1895 in Wien, 1942 Flucht nach Lugano. Wildner vermeidet die Bezeichnung „jüdisch“ und verwendet dafür öfter „nicht in Ordnung“.

6 Rudolf Colloredo (1876 Sierndorf-1948 Sierndorf), Gutsbesitzer.

7 Georg Franckenstein (1878 Dresden – 1953 Kelsterbach bei Frankfurt am Main/Flugzeugabsturz), nichtjüdisch,1920 bis 1938 a. o. Gesandter und bevollmächtigter Minister Österreichs in London, nahm im Juli 1938 die britische Staatsbürgerschaft an. Franckenstein blieb in London.