404: Not Found Ich wollte ein tapferes Kind sein, das die Welt rettet Interview mit der Psychoanalytikerin Erika Freeman David - Jüdische Kulturzeitschrift

Ausgabe

Ich wollte ein tapferes Kind sein, das die Welt rettet Interview mit der Psychoanalytikerin Erika Freeman

Kerstin Kellermann

Die 93-jährige New Yorker Psychoanalytikerin Erika Freeman lebte zuletzt in Wien, denn sie konnte wegen COVID nicht nach New York zurückfliegen. Als Kind war Freeman aus Wien geflüchtet. Bisher war nicht bekannt, dass im Luftschutzkeller des Wiener Philipp-Hofs auch viele Juden als sogenannte U-Boote Schutz suchten. Erika Freemans Mutter starb im Wiener Philipp-Hof neben der Albertina.

Inhalt

Die 93-jährige New Yorker Psychoanalytikerin Erika Freeman lebte zuletzt in Wien, denn sie konnte wegen COVID nicht nach New York zurückfliegen. Als Kind war Freeman aus Wien geflüchtet. Bisher war nicht bekannt, dass im Luftschutzkeller des Wiener Philipp-Hofs auch viele Juden als sogenannte U-Boote Schutz suchten. Erika Freemans Mutter starb im Wiener Philipp-Hof neben der Albertina.

 

Kerstin Kellermann: Stimmt es, dass die Personen in der Psychoanalyse lernen sollen, ihr echtes und wahres Selbst zu entdecken?

Erika Freeman: Man kennt das Selbst nicht, denn das, was Du über Dich zu denken gelernt hast, hat damit zu tun, wie man Dich behandelt. Selbstbewusstsein kommt vor allem daher. Wenn Du Dich geliebt gefühlt hast, als Du klein warst, ist das der grösste Schatz, und dieser wächst immer mit Dir mit – wenn nicht, ist es sehr schwer. Wenn man eine Grossmutter hat, dann fühlt man sich immer geliebt. Das ist für mich die Wurzel der Liebe. „Wenn Du Dich nicht benimmst, geht die Grossmutter nach Hause“ (lacht). Wenn sie mit Dir ist, liebt sie Dich. Meine Mutter war die erste Hebräisch-Lehrerin in Europa, sie war sehr beliebt bei den Kindern. Hebräisch zu lernen war ihr nicht erlaubt gewesen, weil sie ein Mädchen war – zumindest in Lemberg um 1910, damals war das noch ein Teil von Österreich. Meine Mutter studierte trotzdem, zu Hause. Meine Omama machte immer den Koffer zu, sodass mein Opa nicht sah, dass sie studierte. Am Schluss der Ausbildung gab es ein Schauspiel, Josef und seine Brüder. Damals hatte man einen armen Talmud-Schüler zu Hause, wenn man es sich leisten konnte. Nach der Aufführung ging mein Grossvater zu seinem Rabbiner und sagte, „diesen Josef will ich in meinem Haus“. Daraufhin antwortete der Rabbi, „Dein Josef ist Deine Tochter Rachel“. Viele Jahre später schrieb Isaac Bashevi Singer die Erzählung Yentel, er hatte von meiner Mutter gehört. Ich sollte wirklich Barbra Streisand, die in dem Film die Hauptperson spielte, einmal erzählen, dass das Stück von meiner Mutter handelt.

 

Kerstin Kellermann: Kann Psychoanalyse bei Extremtraumata helfen? Wie ist Ihre Erfahrung?

Erika Freeman: Alle Hilfe hilft. Man darf nur nicht darauf bestehen, dass Deine Ideen die einzig richtigen sind. Was Dir hilft, hilft Dir. Als Psychoanalytikerin darf man nicht jemandem etwas über den Kopf stülpen, weil man glaubt, dass man recht hat. Das ist den Menschen, die Hilfe brauchen, sowieso immer passiert: sie haben immer jemanden gehabt, der recht hat. Viele glauben, sie seien selber nichts wert und jeder andere habe recht. Das ist aber nicht wahr! Jeder hat ein bisserl recht und jeder hat wahrscheinlich auch ein bisserl Schuld. Aber das ist ja nur, weil wir Menschen sind: es gibt keine unschuldigen Menschen. Wer glaubt, unschuldig zu sein, ist entweder ein Engel, oder er hat eine Illusion.

 

Kerstin Kellermann: Hatten Sie das Gefühl, sich selbst helfen zu können? Mit zwölf Jahren alleine nach New York?

Erika Freeman: Ich wollte nur ein tapferes Mädchen sein, sodass meine Mutti sich nicht schämt (lacht). Ich habe mit fünfzehn Jahren versucht, den Menschen zu erzählen, was in Österreich passiert, aber man hat mir nicht geglaubt und erklärte mich für verrückt. Zwei Monate später traf ich meinen angeblich toten Vater (lacht), der aus Theresienstadt entkommen war. Alles, was unmöglich scheint, ist mir passiert. Darum glaube ich an Wunder. Man muss Geduld mit dem Herrg‘tt haben! Er hat ja Geduld mit uns. Meine Tante, die Chefin von Alija Bet war, half illegalen Juden. Es gibt viel zu tun auf der Welt. Es ist keine Frage von Pflicht, die Welt zu retten, es ist eine Frage von – es ist keine Frage! Gewisse Dinge musst Du tun, weil sie notwendig sind, auch wenn jeder sagt, es ginge nicht. Ich wollte eben ein tapferes Kind sein, das die Welt rettet.

 

Kerstin Kellermann: Ihre Mutter liegt unter dem ehemaligen Philipp-Hof neben der Wiener Albertina, wo zwischen 300 und eintausend Menschen in einem Luftschutzkeller starben?

Erika Freeman: Meine Mutter war die einzige Zionistin in ihrer Familie, mein Vater der einzige Nicht-Zionist in seiner (lacht). Mein Onkel war ein Erfinder der Kibbuz-Bewegung Haschomer-Hazair in Wien. Meine Mutter ist beim letzten Bombenangriff am 12. März 1945 in Wien gestorben. Sie war ein U-Boot im Philipp-Hof bei der Albertina, und den ganzen Krieg war sie in Wien. Ich weiss nicht, bei wem sie versteckt war. Von den drei Schwestern hat nur eine überlebt. Diese Tante hat mir später erzählt: „Deine Mutti wollte immer bei den Juden sein“. Die Juden im Philipp-Hof sind alle gestorben. Vielleicht wollte der liebe Herrg‘tt meine Mutter Rachel Polesiuk schneller haben, denn anders verstehe ich es nicht. Ihr Körper ist noch dort, vis à vis der Albertina, unter dem Denkmal. Der Philipp-Hof war ein Hochhaus mit einem Schutzkeller, und die meisten Juden sind bei Angriffen in diesem Keller gewesen – zumindest die U-Boote. Eine Nachbarin nahm sich die Mühe zur Gestapo zu gehen, um meine Mutter, die sie auf der Strasse gesehen hatte, anzuzeigen. Wien war zu dem Zeitpunkt offiziell „judenrein“. Meine Mutter konnte aber davor flüchten. Es ist so schade, dass es sie dann doch noch erwischt hat. Sie war erst neunundvierzig Jahre alt. Die überlebende Tante hat mir nicht erzählt, wo Mutti sich versteckt hatte. Man schlief im Kasten anderer Menschen. Meine verstorbene Tante sagte damals beim Spazierengehen zu ihrer Schwester: „Weisst du was, gehen wir in die Donau. Ich bin schon so müde.“ Dann sagte meine Mutti: „Warten wir noch ab, wie alles enden wird – gehen wir nicht in die Donau.“ Ich habe eine Geschichte über meine Tante geschrieben, die heisst Tante Malka und der Kommissar, in Wirklichkeit hiess sie Maryem. Eines Tages fliege ich nach Hause, nach New York, und finde diese Geschichte wieder.

 

h133_04.jpg

Erika Freeman im Interview, 2020. Mit freundlicher Genehmigung: K. Kellermann.