Ausgabe

Zur (fast) verschwundenen aschkenasischen Gemeinde in Istanbul Teil I

Robert Schild

Inhalt

Nehmen wir an, Sie sind zu einer Veranstaltung der aschkenasischen Gemeinde in Istanbul geladen1 und wenden sich mit einer auf Deutsch formulierten Frage an ein Vorstandsmitglied. Die Reaktion? Fragende Augen, hilflose Gesten, verlegenes Schweigen, allenfalls eine zaghafte Rückfrage auf Englisch oder Französisch! Allein der Vorsitzende käme mit ein paar Brocken Jiddisch zur Hilfe, die er seiner Mamme selig, der aus Rumänien stammenden Frau Berta, zu verdanken hat. Mann spricht eben nicht mehr Deutsch bei den Bosporus-Aschkenasim, trotz zuweilen noch recht authentisch klingender Namen, deren Schreibweisen jedoch schon vor Generationen standesamtlich türkisiert wurden, um phonetische Pannen und dokumentarische Irrläufer zu vermeiden, so etwa auf Frayman, Fridman, Grosman oder schlicht Vansten.

Geschichtliches

Die Geschichte der türkischen aschkenasischen Juden (hier kurz als “Aschkenasim” bezeichnet) kommt einem Fragment nahe, da sie eigentlich kaum jemand aufgezeichnet hat. Grund dafür ist vor allem, dass die Aschkenasim zu keiner geschichtlichen Periode mehr als circa fünf Prozent der gesamten türkisch-jüdischen Bevölkerung ausgemacht hatten – und somit wohl zu “uninteressant” waren, um geschichtlich erfasst zu werden. Auch haben sie keine ureigenen zeitgenössischen Chronisten – bis auf Ende des 20. Jahrhundert, als der in Ankara forschende und lehrende Professor Stanford Shaw den umfassenden Band The Jews of the Ottoman Empire and the Turkish Republic veröffentlichte2  und ihnen dort einige Beachtung schenkte.

Tatsache aber ist, dass die Aschkenasim türkischen Boden bereits früher betreten hatten als die dort heute noch ansässigen Sefarden. Der vielerorts zitierte Brief des fränkischen Rabbiners Isaac Tsarfati aus Adrianopolis (dem heutigen Edirne) aus dem Jahre 14543 (also circa vier Jahrzehnte vor der Vertreibung der Sefarden aus Spanien 1492) ist wohl als erstes “türkisch-aschkenasisches” Dokument zu bezeichnen. Hier legt der Rabbi seinen Freunden in Mitteleuropa nahe, zu den Osmanen einzuwandern und teilt unter anderem bildlich mit, dass “hier jeder Jude unter seinem Feigenbaum in Ruhe leben” könne.

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Der österreichische Tempel vor einer Hochzeit. Foto: A. Modiano, mit freundlicher Genehmigung R. Schild.

Erste Spuren einer Ansiedlung von Aschkenasim im früh-osmanischen Reich lassen sich aber schon bis ins 14. Jahrhundert zurückverfolgen, nämlich in die Zeit der Pest-Pogrome in Mitteleuropa. Im 15. Jahrhundert, vor allem zur Regierungszeit Bayezits II. kam es dann zur Ansiedlung kleinerer Flüchlingsströme in Sofia, Thessaloniki und Konstantinopel, wo Synagogen errichtet und andere Flüchtlinge somit motiviert wurden, ebenfalls dort sesshaft zu werden. Auch kann gefolgert werden, dass anlässlich der “sürgün”, der sogenannten Zwangsimmigrationen und entsprechenden Zwangsniederlassungen, etliche Aschkenasim in den innerosmanischen Raum gekommen sind – dies lässt sich jedoch geschichtlich nicht nachweisen.

Siegreiche Feldzüge Suleiman des Prächtigen bis nach Ungarn im 16. Jahrhundert führten zum sogenannten “ferman de los alemanes” (in sefardischer Bezeichnung!), zum Erlass über die Deutschen, vermittels dessen weitere Ansiedlungen in Konstantinopel, Adrianopel und Thessaloniki sowie auch teilweise in Palästina möglich gemacht wurden. Beim berüchtigten Aufstand des polnischen Kosakenführers Bohgdan Chmelnyzkyj um 1650 kam es zu einem Massaker an den dortigen Juden, wobei auch einige hundert gefangen genommen wurden, die dann gegen die Zahlung von Lösegeldern durch türkisierte Aschkenasim freigekauft werden konnten. Auch sie liessen sich im Osmanischen Reich nieder. Ebenso löste im gleichen Jahrhundert der ungarische Aufstand eine Fluchtwelle von Juden aus dieser Gegend aus, aber auch aus dem Zarenreich in Richtung des Osmanischen Reiches, wieder mit Niederlassungen in Sofia und Thessaloniki, diesmal aber sogar bis nach Smyrna (Izmir) reichend. Der Krimkrieg von 1854 zwischen Osmanen und Russen brachte eine Übersiedlung von etwa vierhundert jüdischen Familien aus Kertsch nach Konstantinopel. Eine weitere Welle der Emigration russischer Juden ins Osmanische Reich folgte den dort stattfindenden Pogromen, besonders ab der Ermordung von Zar Alexander II. 1881 sowie der Regierungszeit seines Sohnes, Alexander III. Bis zum Ersten Weltkrieg nahmen derartige Einwanderungsströme, vor allem nach Konstantinopel, stetig zu. So schreibt etwa D. Trietsch im Jahre 19154, dass “Konstantinopel (...) immer mehr ostjüdische Eiwanderer aufnimmt.” Dieser Trend steigerte sich in den 1920er Jahren weiter und konnte ab 1938 nur mehr durch verbietende Dekrete der türkischen Regierung eingedämmt werden.

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Der aschkenasische Friedhof Istanbul. Foto: A. Modiano, mit freundlicher Genehmigung R. Schild.

Wie aus diesen Beispielen ersichtlich, erfolgte die Einwanderung der Aschkenasim nicht im gleichen Zug beziehungsweise parallel zu den vornehmlich 1492 und den Folgejahren einwandernden Sefarden. Hier erstreckte sich die Ansiedlung über mehrere Jahrhunderte aus einer Vielzahl von Ländern und Gebieten, von Frankreich bis Russland. Dies führte auch zu einer regelrechten „Kastenbildung” diverser gesellschaftlicher Schichten, von einfachen Landarbeitern bis hin zu Bankdirektoren, aber auch von Akademikern bis zu Bordellbetreibern. Letztere kamen vornehmlich von der Krim, während vor allem ab 1933 entlassene jüdische Hochschulprofessoren aus Deutschland und Österreich an den zur Reformierung anstehenden Universitäten in Istanbul und Ankara neue Lehrstühle und Institute ins Leben riefen. Diese eher assimilierten Persönlichkeiten zogen es jedoch vor, sich nicht in die Gemeinschaft der anderen Aschkenasim zu integrieren; ansonsten bildeten sich grundverschiedene kleine Gemeinden von Juden beispielsweise aus Galizien, Polen, Rumänien, der Ukraine und so weiter.

Blickt man auf das 19. und frühe 20. Jahrhundert zurück, so lassen sich Aschkenasim in der Türkei teils als Innovatoren, teils aber auch als „Unruhestifter” bezeichnen. So wurde beispielsweise vermittels der Finanzierung des Istanbuler Bankiers Kamondo seitens der Initiatoren Hirschfeld, Nathanson und Klarfeld bereits 1854 eine französisch lehrende Schule in der Ortschaft Hasköy am Goldenen Horn gegründet. Diese Art von laizistischer Bildungserziehung war dem jüdischen Klerus von Konstantinopel jedoch ein Dorn im Auge – und dies führte zu wiederkehrenden Auseinandersetzungen zwischen dem sefardischen Oberrabbinat und der aschkenasischen Intelligentzia, welche dann doch zugunsten der Letzteren abgeschwächt werden konnten. Hier muss erwähnt werden, dass diese erste Schule eine Vorgängerin der diversen Gymnasien der – 1860 in Paris gegründeten – Alliance Israélite Universelle wurde, die das gesamte Judentum im osmanischen Umfeld bedeutend zu prägen wusste. In Richtung der Aschkenasim entwickelte sich hierbei auch die 1870 in Konstantinopel gegründete, Deutsch unterrichtende Goldschmidt-Schule, die bis zu ihrer Schliessung 1940 eine wichtige erzieherische Funktion ausübte. Eine weitere Innovation der Aschkenasim war schliesslich die Entwicklung des osmanischen Zionismus ab dem frühen 20. Jahrhundert.

 

Die Fortsetzung dieses Beitrags folgt in DAVID Heft 134, Rosch Haschana 5783/September 2022.

 

 

Anmerkungen

 

1 Dieser Beitrag beruht teilweise auf dem Vortrag “Die ‘Enfants Terribles’ – Aschkenasim in Istanbul” des Verfassers, gehalten bei einer Ringvorlesung des Instituts für Orientalistik an der Unversität Wien am 12.05.2021.

2 New York University Press, 1991.

3 Bernard Lewis: “The Jews of Islam”, Princeton 1984, S. 135 – 136; sowie Halil Inalcik: “The Re-building of Istanbul by Sultan Mehmet the Conqueror”; Cultura Turcica, IV 1-2, Ankara 1967, S.10.

4 D. Trietsch: “Die Juden der Türkei; Laender und Völker der Türkei”; Schriften des Deutschen Vorderasienkomitees, Heft 8; Berlin, 1915, S.7.