Am 10. Juli 1941 wurden in der nordostpolnischen Kleinstadt Jedwabne hunderte Juden ermordet. Anna Bikont, polnische Journalistin und Mitarbeiterin der Zeitung Gazeta Wyborcza schrieb im Jahr 2004 ein Buch, in dem sie dieses Verbrechen ans Licht brachte.
Erst 2020 erschien eine deutsche Übersetzung, Wir aus Jedwabne. Polen und Juden während der Shoah, mit einem aktuellen Nachwort. Die späte Veröffentlichung ist als Reaktion auf ein Buch des amerikanischen Historikers Jan Tomasz Gross zu sehen, Nachbarn. Der Mord an den Juden von Jedwabne (München, C. H. Beck, 2001), in dem es um von Polen begangene Gewaltaktionen gegen jüdische Mitbürger, unter anderem im Nordosten Polens im Zweiten Weltkrieg und insbesondere im Jahr 1941 geht.
Anna Bikonts Buch besteht aus fünfzehn Kapiteln, unterbrochen von ihren eigenen Aufzeichnungen, denn die Autorin war oft an die Orte des Verbrechens gereist, um mit den damaligen Zeugen und den nachkommenden Generationen, aber auch mit Politikern, Historikern und Geistlichen zu sprechen. Sehr beeindruckend sind die zahlreichen Fotos der Menschen, die später ermordet wurden. Dieses Buch hat eine hitzige Debatte ausgelöst, weil die Greueltaten eben nicht nur von den deutschen Okkupanten initiiert worden waren, sondern auch eigenständig, von Polen in Gruppen oder auch individuell, verübt worden sind. Die Autorin scheut nicht vor der Beschreibung von Demütigungen, Folterungen und Schlägen, Vergewaltigungen und der genauen Todesumstände der jüdischen Opfer zurück. Aus diesem Grund erfuhr Bikont massive Ablehnung und sah sich mit Beleidigungen bis hin zu Morddrohungen konfrontiert.
In ihren eigenen Nachforschungen zu Greueltaten in dieser Region, insbesondere in Jedwabne, wirft Bikont einen Blick auf die damalige Geschichte Nordostpolens. Während der sowjetischen Besatzungszeit 1939 bis 1941 war es zu Deportationen von Polen und auch von Juden nach Sibirien und nach Kasachstan gekommen. Danach wurden Juden von nationalistischen Polen beschuldigt, Polen bei den Sowjets denunziert zu haben – und dies trotz der Tatsache, dass tausende Juden ebenfalls deportiert worden waren. Die Motive für eine solche Haltung dürften neben glühendem Antikommunismus und religiösem Antisemitismus bei mangelhafter Bildung zu suchen sein, aber auch bei Raubgier.
Jedwabne
Am 10. Juli 1941 wurden nach den Aussagen eines der damaligen Mörder, Zygmunt Laudanski, auf dem Marktplatz von Jedwabne circa 1.500 Juden zusammengetrieben. Schliesslich wurden diese Menschen, nach zahlreichen Demütigungen, in einer Scheune verbrannt. Im Gefolge des Massakers kam es auch zu zahlreichen Plünderungen jüdischen Eigentums. Nicht nur Jedwabne, sondern auch andere Orte waren Schauplatz der Verfolgung von Juden: Grajewo, Kolno, Radzilow, Suchowola, Szczuczyn, Tykocin, Wasilkow, Wasosz, Wizna, Zareby Koscielne. Die Täter kamen aus der Mitte der polnischen Gesellschaft, hatten einen gesicherten sozialen Status. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren manche von ihnen sogar Mitglieder in Pfarr-Komitees und selbst in der Kommunistischen Partei (vgl. Kapitel 14 des Buches unter dem Titel Burschen aus gutem Hause und Schläger oder Von den Mördern aus Jedwabne, Radzilow, Wasosz und Umgebung).
Juden bildeten damals in Polen, vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, eine starke, eigenständige Gesellschaft mit Parteien und Selbsthilfegruppen. Diese war im Vergleich zu vielen anderen Polen modern, mit Banken, Vereinen, Organisationen. Juden in Polen waren besser gebildet als ihre nichtjüdische Umgebung, leisteten harte Arbeit und sorgten für eine gute Ausbildung ihrer Kinder. Angesichts dessen implizierte ein religiös motivierter Antisemitismus bei der katholischen Mehrheitsbevölkerung das Gefühl, sie seien den Juden national und religiös überlegen, schreibt die Autorin. Das Kapitel 6 liefert zusätzlich einen Bericht über die jüdische Familie Ronen, die von den Sowjets nach Kasachstan deportiert wurde. Die Familie hatte seit Generationen in der Region Nordostpolen gelebt und in der Textilindustrie, im Handel, in der Landwirtschaft, und oft auch als wandernde Handwerker gearbeitet. Sie feierte mit den Polen gemeinsam den polnischen Nationalfeiertag am 11. November, bis zum Tod von Marschall Piłsudski im Jahr 1935. Dann kam es zur offenen Feindschaft und zur Diskriminierung von Juden.
Inmitten dieses Leids gab es auch Menschen wie Antonina Wyrzykowska (1916-2011), die unter Lebensgefahr für sich und ihre Familie sieben Juden in Jedwabne das Leben gerettet hatte, darunter Szmul Wasersztejn, der zu einem der Kronzeugen der Massaker wurde. Wyrzykowska wurde 1976 von Yad Vashem als Gerechte unter den Völkern geehrt. Das Leben derjenigen, die Juden gerettet hatten, war nach dem Krieg nicht einfach. Wyrzykowska und andere wurden von ihren Nachbarn schikaniert, 1945 wurden sie und ihr Ehemann von polnischen Nationalisten verprügelt. Sehr wertvoll sind im Buch auch die Aussagen von Chaja Finkelsztejn, die angesichts all der Verfolgungen und Schikanen in ihrer Verzweiflung zum damaligen katholischen Priester ging und ihn um Hilfe bat. In dem Buch wurden auch zahlreiche andere erschütternden Berichte dokumentiert, und die Autorin hat somit jedem einzelnen dieser Leidenden eine besonders berührende Stimme gegeben.
Nur wenige der damaligen Täter wurden bestraft. Das Schweigen über diese Verbrechen wurde nur durchbrochen, wenn die Täter betrunken oder in Schlägereien verwickelt waren. Unbeteiligte hörten dann Sätze, die diese Verbrechen an die Oberfläche brachten. Die Autorin hat sich in ihrem aktuellen Nachwort auch mit der Aufarbeitung dieser Verbrechen im heutigen Polen beschäftigt. Die polnische Gesellschaft war und ist dabei sehr gespalten, und das Buch von Anna Bikont löste 2004 heftige Kontroversen aus. In und um Jedwabne blieben nach dem Zweiten Weltkrieg nur einige wenige konvertierte Juden, während die wenigen überlebenden Juden angesichts von Feindschaft und Gewalt in der damaligen polnischen Gesellschaft emigrierten. Bis heute schockiert die Leser die Reaktion polnischer Bürger, Historiker, Politiker und Geistlicher, die angesichts der Verbrechen von Jedwabne Gleichgültigkeit, Hass und Antisemitismus der verschiedenen Generationen weitertragen und kultivieren. Das zeigt sich auch in folgendem Detail: Während der damalige polnische Staatspräsident Alexander Kwasniewski (Präsident von 1995 bis 2005) sich klar und eindeutig für die damaligen, von Polen begangenen Verbrechen entschuldigte, lehnte seine Gemahlin Jolanta, die mit einer Schülerdelegation aus Jedwabne nach Amerika gereist war, das dortige Angebot ab, eine jüdische Schule sowie eine für diesen Anlass geeignete Ausstellung über die Shoah zu besuchen. Sie zeigte den Schülern statt dessen Disneyland, schreibt die Autorin.
Als die Debatte über Jedwabne losbrach, entwickelte der Antisemitismus in Polen eine neue Dimension. Viele vertraten die Meinung, es handle sich bei der Debatte um eine „jüdische Verschwörung“, und viele hatten auch Angst, gestohlenes jüdisches Eigentum wieder zurückgeben zu müssen. Andererseits gab es auch positive Gestalten, die mit der Autorin zusammenarbeiteten, um die Vergangenheit zu bewältigen und die Wahrheit ans Licht zu bringen. Darunter waren unter anderem der seinerzeitige Bürgermeister Krzysztof Godlewski, der später in die U.S.A. emigrierte, und Jan Skrodzki, der Sohn eines der damaligen Mörder, der es nicht vermied, sich der furchtbaren Wahrheit im Leben seines Vaters zu stellen. Leszek Dziedziz, der als junger Bursche den Auftrag hatte, die Leichen der Opfer zu begraben, stand ebenso zu Wahrheit und Solidarität mit den Opfern, wurde deshalb mitsamt seiner Familie extrem angefeindet und emigrierte aufgrund dessen schliesslich in die U.S.A.
In ihrem aktuellen Nachwort hebt die Autorin hervor, die PiS-Regierung in Warschau wolle nunmehr die polnische Geschichte umschreiben, und die bisherigen, eindeutigen Forschungsergebnisse des Instituts für Nationales Gedenken (Instytut Pamięci Narodowej, IPN) über die Massaker seien von der neuen IPN-Leitung „annulliert“ worden. Der alte Antisemitismus sei wieder in der Mitte der Gesellschaft angekommen. An der Stelle des Grauens, wo die Scheune stand, gibt es noch das Denkmal, aber das dazu gehörige Schild nicht mehr. Stattdessen steht auf dem Marktplatz, wo die Juden zusammengetrieben worden waren, heute ein Denkmal für die in die Sowjetunion deportierten Polen. Der Gedenktag an das Massaker, der 10. Juli, würde heute staatlicherseits ignoriert, schreibt die Autorin. Kasia Czerwinska, Polnisch-Lehrerin in einer der Schulen von Jedwabne, sagte in ihrem Interview mit der Autorin folgendes: Ich halte es hier nicht mehr aus, und erzählte von antisemitischen Witzen, die in der Schule an der Tagesordnung seien, und von den Unannehmlichkeiten, denen sie ausgesetzt war, weil sie sich dieser Spottgemeinschaft nicht anschliessen wollte (S. 401).
Der im Buch (S. 138) zitierte, mittlerweile verstorbene liberale katholische Erzbischof von Lublin Jozef Zycinski (1948–2011) hat in der katholischen Monatszeitschrift Wiez geschrieben:
„Es wäre verrückt, auch nur andeuten zu wollen, es könnte Gründe geben, die eine Massenverbrennung menschlicher Wesen in Scheunen rechtfertigen. Lasst uns daher nicht Hirngespinsten nachjagen, wie vermeintlichen historischen Dokumenten, welche die Tragödie von Jedwabne in eine unbedeutende Episode verwandeln könnten. Solche Dokumente kann es nicht geben, denn der Tod unschuldiger Menschen lässt sich nicht auf eine Episode reduzieren. Heute tut es Not, dass wir für die Opfer dieses Massenmordes beten und die geistige Solidarität zeigen, die in der Stunde fehlte, als sie sich von der Erde ihrer Väter, auf der sie lebten, trennten.“
Anna Bikont: Wir aus Jedwabne. Polen und Juden während der Shoah.
Aus dem Polnischen von Sven Sellmer.
Jüdischer Verlag, Suhrkamp/Insel 2020.
699 Seiten, Euro 34,00.-
ISBN-978-3-633-54300-7