Der italienische Historiker Carlo Ginzburg (geboren am 15. April 1939 in Turin) ist
der bekannteste Vertreter der Mikrohistorie. In seinem Buch Der Käse und die Würmer führte er diese historische
Forschungsmethode 1976 eindrücklich einem breiten internationalen Publikum erstmals vor.
Carlo Ginzburgs Studien von Akten der Inquisition führten ihn von Hexenprozessen zur Entdeckung heidnischer Riten, die noch bis ins 17. Jahrhundert in den lokalen Gesellschaften des heutigen Italiens stark verwurzelt waren. Ginzburgs Bücher zeichnen sich durch einen brillanten Stil und überraschende Fragestellungen aus. Sein Vater war der russische Literaturwissenschaftler Leone Ginzburg (4.4.1909 Odessa, russisches Kaiserreich–5.2.1944 Rom), seine Mutter Natalia Ginzburg geb. Levi (14.7.1916 Palermo–7.10.1991 Rom) eine der bekanntesten Schriftstellerinnen Italiens im 20. Jahrhundert.1 Ihre romanhafte Darstellung der eigenen Familiengeschichte, Familien-Lexikon (ital. Lessico famigliare, 1963) wurde in zwanzig Sprachen übersetzt.
Leone Ginzburg und Natalia Levi Ginzburg in Turin, kurz nach ihrer Hochzeit 1938. Foto: Privatbesitz, mit freundlicher Genehmigung C. Ginzburg.
Tina Walzer: Ihre Mutter ist der Welt durch ihr literarisches Werk bekannt, wie ist das mit Ihrem Vater?
Carlo Ginzburg: Mein Vater wurde von den Nazis ermordet, als er fünfunddreissig Jahre alt war. Auch er schrieb sehr viel, und er war eine Persönlichkeit voll Stärke und Kraft.
Tina Walzer: Um Ihre Eltern hatte sich in der Zeit des Faschismus eine Gruppe Intellektueller gebildet, unter ihnen Giorgio Bassani, Carlo Levi und Italo Calvino. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden sie berühmt als Autoren, sie schrieben über Italien unter dem Faschismus, den Nazis und der Shoah. In der nächsten Generation, die Krieg und Verfolgung als Kind erlebt hatte, wie Sie, oder Umberto Eco oder Claudio Magris, entstand eine eigene Gruppe von Forschern und Schriftstellern. Weichen Ihre Erinnerungen von dem ab, was Ihre Mutter über die Verfolgungen, denen die Familie ausgesetzt war, in ihren Büchern berichtet? Wie konnten Sie Ihren eigenen Weg finden, angesichts der eindrucksvollen literarischen Produktion der älteren Generation – wie sieht Ihre eigene Perspektive auf die Familiengeschichte aus?
Carlo Ginzburg: Zunächst zu einigen Details über meine Familie, sowohl auf väterlicher als auch auf mütterlicher Seite. Mein Vater Leone Ginzburg kam 1909 in Odessa auf die Welt. Nach der Russischen Revolution 1917 zog seine Familie nach Westeuropa und lebte zunächst einige Zeit in Berlin, bevor meine väterliche Grossmutter, Vera née Griliches, mit ihren drei Kindern Marussia, Nicolai und Leone nach Turin zog. Mein Vater wuchs mit Russisch und Italienisch zweisprachig auf, 1931 erhielt er die italienische Staatsbürgerschaft. Ein enger Freund meines Vaters, Vittorio Foa, Jude wie er selbst, betonte, mein Vater habe sich erst dann dem antifaschistischen Widerstand verschrieben, als er italienischer Staatsbürger geworden war. Mein Vater betrachtete sich mit Sicherheit als Jude, Italiener und Russe, aber, so vermute ich, zuvorderst als Bürger Italiens. Er arbeitete auch über das Risorgimento.
Die Familie meiner Mutter Natalia Ginzburg war ebenfalls jüdisch, mit Ausnahme meiner mütterlichen Grossmutter. Mein mütterlicher Grossvater, Giuseppe Levi, stammte aus Triest und war ein berühmter Wissenschaftler, ein Histologe. Drei seiner Schüler erhielten den Nobel-Preis verliehen (was sehr aussergewöhnlich ist). An meinen mütterlichen Grossvater habe ich sehr lebhafte Erinnerungen. Die mütterliche Grossmutter stammte aus einer sozialistischen Familie. Ihr Name war Lidia Tanzi. Sie war eng befreundet mit dem berühmten sozialistischen Politiker Filippo Turati und dessen Lebensgefährtin Anna Kuliscioff. Diese war ebenfalls Jüdin, aus ihrer Heimat, Russland, nach Italien gekommen und spielte eine wichtige Rolle in der sozialistischen Partei Italiens, aber auch in der Frauenbewegung.
Leone Ginzburg auf jenem Foto, aufgenommen von der faschistischen Polizei 1934 bei der Verhaftung, das 1943 zur Auslieferung an die Gestapo führte. Mit freundlicher Genehmigung: C. Ginzburg.
Tina Walzer: Wie war die Situation zu der Zeit, als Sie geboren wurden, vor diesem familiären Hintergrund vielfältiger Beziehungen und Netzwerke?
Carlo Ginzburg: Ich kam 1939 in Turin zur Welt. Aufgewachsen bin ich umgeben von Büchern, soviel ist sicher, und von den Persönlichkeiten meines Vaters und meiner Mutter. Sie waren in vielerlei Hinsicht unterschiedlich, aber beide hatten einen starken Einfluss auf mich. Meine Eltern haben 1938 geheiratet. Mein Vater Leone war Philologe. 1932 hatte er begonnen, russische Literatur an der Universität von Turin zu unterrichten. Zwei Jahre später gab er seine akademische Karriere auf, als er sich weigerte, einen Eid auf Mussolini (wie alle Lehrer in Italien das tun mussten) zu schwören. Das war 1934, und damit war es mit seiner akademischen Karriere vorbei. Etwa zur selben Zeit wurde mein Vater verhaftet. Von zwölf liberalen Universitätsprofessoren in Italien ist bekannt, dass sie sich geweigert haben, jenen Eid abzulegen – mein Vater als libero docente [dt. Privatdozent, Anm.] wurde nicht zu ihnen gezählt.
Tina Walzer: Wieso wurde Ihr Vater verhaftet?
Carlo Ginzburg: Man warf ihm antifaschistische Untergrund-Aktivitäten vor. Mein Vater hatte in Turin sein Studium der französischen Literatur mit einer Dissertation über Guy de Maupassant abgeschlossen. Dank eines Stipendiums konnte er seine Studien in Paris fortsetzen. Dort lernte er Carlo Rosselli kennen, der 1929 im Exil die antifaschistische Gruppe „Giustizia e Libertà“ begründet hatte. Rosselli kam übrigens auch aus einer jüdischen Familie; tatsächlich ist die Familie Rosselli ein bemerkenswertes Beispiel dafür, wie sehr sich italienische Juden am Risorgimento beteiligt hatten. Im Haus eines Vorfahren von Carlo war, unter falschem Namen, Giuseppe Mazzini gestorben. Mein Vater kannte bereits Carlos Bruder Nello Rosselli, einen Historiker. 1931 wurde er Mitglied ihrer Gruppe. Tatsächlich begann er auch, unter einem Pseudonym für die Quaderni der Gruppe „Giustizia e Libertà“ Artikel zu schreiben, eine italienischsprachige Zeitschrift, die in Paris gedruckt und in Italien im Untergrund verbreitet wurde.
Carlo Ginzburg im Gespräch mit DAVID, 21.04.2022.
Tina Walzer: Haben sich nicht durch dieses Engagement Ihres Vaters bei der Gruppe Ihre Eltern kennengelernt? Jedenfalls stellt Ihre Mutter es so dar.
Carlo Ginzburg: Tatsächlich, hier gibt es eine frühe Verbindung meines Vaters zur Familie meiner Mutter. Er freundete sich eng mit einem der Brüder meiner Mutter an, Mario Levi. Mario arbeitete damals bei Olivetti. Der halb jüdisch – halb protestantische Adriano Olivetti wiederum war mit Paola, einer Schwester meiner Mutter verheiratet; später liessen die beiden sich scheiden. Mario spielte ebenfalls eine Rolle in der „Giustizia e Libertà“-Gruppe. Eines Tages im Jahr 1934 kam mein Onkel Mario Levi mit einem weiteren jüdischen Freund, Sion Segre, aus der Schweiz an die italienische Grenze. In ihrem Auto führten die beiden eine Menge Exemplare der Zeitschrift Quaderni mit. Ein Spitzel des faschistischen Regimes, Dino Segre (ein jüdischer Schrift-steller und Verfasser vorwiegend erotischer, damals sehr beliebter Romane unter dem Pseudonym Pitigrilli), hatte sie bei den Behörden denunziert. Es kam zu einer Art Kampf an der Grenzstation. Meinem Onkel Mario gelang es, durch den Grenzfluss auf die andere Seite zu schwimmen, und so konnte er entkommen. Er ging nach Frankreich, wo er dann die meiste Zeit seines Lebens verbrachte. Ich sah ihn zum ersten Mal nach Kriegsende, 1945. Infolge der Denunziation an der Grenze wurde auch mein Vater verhaftet, vor Gericht gestellt und zu vier Jahren Haft verurteilt. Das war 1935. Nachdem er zwei Jahre im Gefängnis verbracht hatte, wurde er im Zuge einer Art Generalamnestie wieder freigelassen.
Tina Walzer: Spielte Antisemitismus eine Rolle bei der Verfolgung von Mitgliedern der Gruppe „Giustizia e Libertà” durch das Mussolini-Regime?
Carlo Ginzburg: Interessanterweise wurde damals eine Art offizieller Stellungnahme zum Gerichtsverfahren in den Zeitungen veröffentlicht, in der betont wurde, eine Gruppe antifaschistischer Juden sei vor Gericht gestellt worden. Es war das erste Mal, dass in Italien eine derartige Verbindung zwischen Antifaschismus und Judentum hergestellt wurde. Zu jenem Zeitpunkt war die jüdische Gemeinschaft Italiens weit davon entfernt, politisch einheitlich zu agieren. Ein grosser Teil der Juden in Italien war dem Mussolini-Faschismus eng verbunden. Um mehr über die Reaktionen auf die Verhaftung und den Prozess gegen meinen Vater herauszufinden, habe ich in den Zeitungen nachgelesen. Mein Eindruck ist, das Urteil fiel unerwartet milde aus, da in der Zwischenzeit Spannungen zwischen dem italienischen faschistischen Regime und NS-Deutschland zutage getreten waren. Es ging um die Ermordung des österreichischen Kanzlers Engelbert Dollfuss; Mussolini sandte zwei Divisionen zur österreichischen Grenze. Ich denke, in jenem Moment verschwand dieses Element – das Jüdisch-Sein der Angeklagten –, das zu Beginn betont worden war. Ich habe die Zeitungen genau untersucht: es wird nicht mehr erwähnt.
Tina Walzer: Wie sah das Arbeitsleben Ihres Vaters aus, nachdem er aus der Gefängnishaft entlassen worden war?
Carlo Ginzburg: Er durfte selbstverständlich nicht mehr unterrichten. Bereits im Jahr 1933 hatte er gemeinsam mit Giulio Einaudi den Einaudi Verlag gegründet. Wir sollten hier auch Cesare Pavese erwähnen, ebenfalls ein enger Freund meines Vaters. Der Verlag nahm seine Arbeit auf, und ich wuchs in einem Haus auf, das vollgefüllt war mit Büchern, die meisten davon im Einaudi Verlag erschienen. Meine Mutter arbeitete ebenfalls für den Verlag. Sie brachte die neu herausgekommenen Bücher immer mit nach Hause, diese sind daher ebenfalls Teil meiner Kindheitserinnerungen.
Tina Walzer: Wie veränderte sich die Situation für Ihre Familie mit dem Inkrafttreten der Rassegesetze in Italien 1938?
Carlo Ginzburg: Eine der Folgen war, dass mein Vater staatenlos wurde: er verlor seine Staatsbürgerschaft. Als Italien 1940 in den Zweiten Weltkrieg eintrat, wurde er in die Verbannung geschickt nach Pizzoli, in ein kleines Abruzzen-Dorf bei L’ Aquila. In diesem Dorf bin ich aufgewachsen, denn meine Mutter mit ihren zwei kleinen Kindern, meinem Bruder und mir, folgte meinem Vater dorthin nach, um bei ihm zu sein. 1943 kam meine Schwester Alessandra in L’Aquila auf die Welt. Insgesamt verbrachten wir fast drei Jahre in dem Dorf, vom Sommer 1940 bis zum Sommer 1943. Später erzählte mir meine Mutter, dass ich bis dahin bereits begonnen hatte, den lokalen Dialekt zu sprechen. Es ist der einzige Dialekt, den ich je im Leben gesprochen habe, und ich hatte darauf vollkommen vergessen. Das Dorf hingegen ist mir noch lebhaft in Erinnerung, mit meinem Vater, meiner Mutter und unserem Alltag dort. Ebenso stark erinnere ich mich an die Ankunft der deutschen Truppen im Dorf. Damals war mein Vater bereits nach Rom aufgebrochen. Und dann erreichte meine Mutter mit uns, ihren inzwischen drei Kindern, meinen Vater in Rom. Daran, wie wir das Dorf verlassen haben, habe ich auch noch sehr lebendige Erinnerungen.
Tina Walzer: Wo hat Ihre Familie nach dem Ende der Verbannung gelebt?
Carlo Ginzburg: Wir sind also in Rom angekommen. Einige wenige Erinnerungen habe ich an unser Leben mit meinem Vater in Rom. Leone Ginzburg war nun Herausgeber einer Zeitschrift namens L’Italia libera, die zur antifaschistischen, im Untergrund tätigen Partei Partito d’Azione gehörte. Eines Tages im November 1943, in der Druckerei, die das Blatt produzierte, wurde mein Vater von der faschistischen Polizei verhaftet und in das römische Gefängnis Regina Coeli gebracht. Auf Basis jener Polizeiakten, die 1934 über ihn angelegt worden waren, wurde seine richtige Identität erkannt. Nach seiner Enttarnung wurde er in eine Gefängnisabteilung überstellt, die von der deutschen Besatzungsmacht kontrolliert wurde. Dort folterte ihn die Gestapo. Der damalige Anführer der Antifaschisten und spätere Präsident der Republik Italien, Sandro Pertini, schreibt darüber in seiner Autobiografie: er erinnert sich an eine Begegnung im Gefängnishof mit meinem Vater, der geschlagen worden und in einem sehr schlechten körperlichen Zustand war. Pertini überliefert uns, dass mein Vater sagte: „Trotz allem sollten wir die Deutschen nicht hassen.“
Tina Walzer: Können Sie sich erklären, wieso Ihr Vater das sagte? Wissen Sie, was ihn motivierte, oder was seine politische Perspektive war für eine Zeit nach dem Ende des Kriegs?
Carlo Ginzburg: Genau dieselbe Frage hat mir ein Freund schon einmal gestellt. Soweit ich weiss, hat sich mein Vater als Europäer empfunden, der die Entstehung eines Staatenbundes Europas erwartete. Später fand ich mehr darüber heraus. Es gibt das Manifest von Ventotene für ein vereintes Europa (Per un’Europa libera e unita). Dieses Manifest war im Jahr 1941 von antifaschistischen Häftlingen verfasst worden, unter ihnen Altiero Spinelli und Ernesto Rossi.2 Von der kleinen Insel Ventotene aus wurde es nach Rom geschickt, und mein Vater war daran beteiligt, es in Umlauf zu bringen. Nach dem Zusammenbruch des faschistischen Regimes, im August 1943, fand in Mailand bereits eine Konferenz im Untergrund statt, bei der es um die Errichtung eines föde-ralen Europas ging.3 Mein Vater nahm an der Konferenz teil. In diesem, seinem letzten, Lebensabschnitt ist die Errichtung eines vereinten Europas zu einem immens wichtigen politischen Ziel für ihn geworden. Im Februar 1944 starb er im Gefängnis an den unmittelbaren Folgen der Folterungen. Meine letzte Erinnerung an ihn stammt aus der Zeit in Rom vor seiner Verhaftung im November 1943.
Tina Walzer: Was geschah mit Ihnen, Ihren Geschwistern und Ihrer Mutter nach der Ermordung Ihres Vaters?
Carlo Ginzburg: Meine Mutter ist mit uns nach Florenz gegangen. Von ihr gibt es dazu bewegende Erinnerungen. Ich wurde bei ihrer Schwester in Fiesole, nahe Florenz, zurückgelassen. Mein Bruder blieb in Rom bei jemandem, dem mein Vater sehr nahegestanden hatte, Maria Segré. Ihre Familie, ebenfalls jüdisch, stammte ursprünglich aus Mantua, sie kam mit der Familie meines Vaters in Odessa zusammen. Als mein Vater damit begann, in der Untergrund-Zeitschrift Artikel zu publizieren, verwendete er als Pseudonym ihre Initialen: MS. Mein Bruder blieb einige Zeit in Rom und ich in Florenz. Unsere Schwester, die ja tatsächlich noch ein Kind war, erst 1943 geboren, war in einer Anstalt nahe Florenz untergebracht. Nach Kriegsende gingen wir alle zusammen zurück nach Turin und lebten dort nahe den Eltern meiner Mutter.
Tina Walzer: Haben Sie spezielle Erinnerungen an diese Zeit im Haushalt Ihrer Tante in Fiesole?
Carlo Ginzburg: Im Sommer 1944 hielt ich mich mit meiner Mutter und ihrer Mutter, Lidia Tanzi, in einer Ortschaft namens Vallombrosa auf. Die deutschen Truppen waren auf dem Rückzug, und wir versteckten uns dort vor ihnen. An die Deutschen dort erinnere ich mich ganz genau und auch an die Ankunft der britischen Soldaten. Eine Begebenheit hat sich besonders in mein Gedächtnis eingegraben, wiewohl ich ihre Bedeutung erst viel später erfasste – lange, lange Zeit danach. Meine Grossmutter, als einziges nichtjüdisches Mitglied unserer Familie, schärfte mir ein: „Wenn Dich jemand nach Deinem Namen fragt, musst Du sagen: Mein Name ist Carlo Tanzi!“
Damals wusste ich noch nicht, dass ihr Vater, mein Urgrossvater, so geheissen hatte. Denn tatsächlich haben mir meine Eltern die beiden Namen der 1937 in Frankreich (von Mitgliedern der Cagoule) ermordeten Rosselli-Brüder gegeben, die mit meinem Vater sehr eng befreundet gewesen waren: mein Name lautet daher Carlo Nello Nicola.
Meine Grossmutter aber schrieb also den Namen Carlo Tanzi auf die erste Seite eines Buches mit dem Titel Das glücklichste Kind der Welt (Il più felice bambino del mondo), ein Kinderbuch, aus dem meine Mutter und meine Grossmutter mir immer vorlasen. Die Handschrift meiner Grossmutter sehe ich heute noch vor mir, wie sie den Namen in Anführungszeichen in das Kinderbuch eintrug: „Carlo Tanzi“.
Tina Walzer: Wie sind Sie denn darauf gekommen, dass diese Begebenheit für Sie eine tiefere Bedeutung hat?
Carlo Ginzburg: Viele Jahre später führte einer meiner Freunde, Paul Holdengraber (er war für die Kulturabteilung der New York Public Library zuständig und hatte ein Programm mit dem Titel Jüdischsein ins Leben gerufen), ein Interview dazu mit mir, es hiess Jüdisch sein – Jüdisch werden. Danach gefragt, sagte ich ihm, rückblickend sei genau das der Moment gewesen, an dem ich ein Jude geworden bin. Darüber besteht für mich gar kein Zweifel. Dies könnte nun als Beleg für Jean-Paul Sartres Vorstellung herhalten, Jüdischsein und die Verfolgung seien untrennbar miteinander verknüpft, aber der Gedanke ist mir nicht besonders sympathisch: ich denke, das ist zu stark vereinfacht, und auch zu radikal. Aber wie auch immer, in meinem Fall trifft es zu. Damals wurde ich zum Juden.
Tina Walzer: Nach dem Krieg, zurück in Turin, hatten Sie dort Anteil an einem jüdischen Alltagsleben?
Carlo Ginzburg: Wir kehrten nach Turin zurück und ich blieb dort bis zu meinem 13. Lebensjahr. Dort waren um mich lauter säkulare Juden: keine Spur von religiöser Bildung oder Unterweisung, kein Hebräisch, keinerlei Beziehungen zu einer Synagogengemeinde. Mein Grossvater war ja ein echter Positivist, für Religionen, welcher Glaubensrichtung auch immer, hatte er keine Geduld. Auf der anderen Seite kann ich rückblickend schon erkennen, dass er durchaus von jüdi- schen Menschen umgeben war.
Tina Walzer: Hat denn Ihre Umgebung überhaupt irgend einen Einfluss auf Sie gehabt?
Carlo Ginzburg: Die Frage, die ich mir tatsächlich stelle, ist: Wie habe ich denn realisiert, sicherlich sehr langsam, dass ich Jude bin? Da erinnere ich mich an ein sehr seltsames Zusammentreffen. Ich war dreizehn und spielte Fussball in Turin. Dort traf ich einen Buben, der genauso alt war wie ich. Wir spielten also zusammen Fussball, dann unterhielten wir uns. Er hiess Giovanni, mir fiel aber auf, dass sein vollständiger Name – Giovanni Carlo Nello – meinem eigenen Namen, Carlo Nello, merkwürdig ähnlich ist. Das war tatsächlich kein Zufall, hatten doch unsere Eltern beide von uns nach den Rosselli-Brüdern, Carlo und Nello, benannt. Der Bub, den ich da kennengelernt hatte, war Giovanni Levi, ein Neffe des Schriftstellers Carlo Levi. Dieser war ein ganz enger Freund meines Vaters gewesen, beide hatten in derselben Untergrundorganisation gekämpft. Während ich bei meiner Tante in Fiesole lebte, schrieb Carlo Levi gerade sein berühmtes Buch Christus kam nur bis Eboli. Übrigens war er auch ein bemerkenswert guter Maler. Ich erinnere mich noch, wie er sagte: „Ich werde ein Portrait mit Orangen malen, von Dir und Anna“ (meiner Cousine). Das kam zwar nie zustande, aber Carlo Levi war in gewisser Weise trotzdem Teil meiner Kindheit. Später las ich dann Christus kam nur bis Eboli.
Da war also diese Begegnung mit seinem Neffen. Wir wurden enge Freunde. Viel, viel später, und gemeinsam mit anderen, riefen wir zusammen ein Projekt ins Leben, wir nannten es Mikrohistorie. Es gibt also diesen verwickelten Zusammenhang, eine enge Verbindung, zu Giovanni, zu seinen Brüdern. Als mir klar wurde, wie viele Ähnlichkeiten es zwischen unseren Familien gab, seiner und meiner – zwei Familien, die sich beide dem Kampf gegen die Faschisten verschrieben hatten, beide jüdisch, beide intellektuell, und dazu noch die direkte Verbindung zwischen meinem Vater und Giovannis Onkel – ich denke schon, das war ein wichtiger Schritt im Laufe der Entwicklung meiner Identität: ein Wort, das ich aber wirklich nicht leiden kann.
Die Fortsetzung dieses Interviews, Carlo Ginzburg über sein Werk, folgt in der kommenden Ausgabe des DAVID, Heft 134, Rosch Haschana 5783/September 2022.
Anmerkungen
1 Vgl. dazu den Beitrag von Tina Walzer: Dazu gehören, nicht-dazu gehören. Marcel Proust, John Heartfield, Natalia Ginzburg. In: DAVID, Heft 129, Juni 2021, S. 33-35; https://davidkultur.at/artikel/dazu-gehoeren-nicht-dazu-gehoeren-marcel-proust-john-heartfield-natalia-ginzburg
2 Manifesto di Ventotene, dt. Für ein freies und einiges Europa. Projekt eines Manifests, programmatische Schrift zum Ideal eines europäischen Föderalismus mit dem Ziel eines europäischen Bundesstaates, Vorstufe der europäischen Integration.
3 Kongress in Mailand, 27.-28. August 1943: Treffen italienischer Antifaschisten und Gründung des Movimento Federalista Europeo, noch während des alliierten Italienfeldzugs.
Biographische Randnotizen
Giorgio Bassani (1916 Bologna–2000 Rom), italienischer Schriftsteller und Literaturkritiker; u.a. Il giardino dei Finzi-Contini, Torino, Einaudi 1962 (dt. Die Gärten der Finzi-Contini, 1963); vgl. Tina Walzer: Die Familie Finzi aus Ferrara und „Die Gärten der Finzi-Contini". Ein Interview mit Cesare Finzi. In: DAVID, Heft 130, Rosch Haschana 5782/September 2021, S. 54–57
Carlo Levi (1902 Turin–1975 Rom), Schriftsteller, Maler, Arzt und Politiker; u.a. Cristo si è fermato a Eboli, Torino, Einaudi 1945 (dt. Christus kam nur bis Eboli, 1947)
Italo Calvino (1923 Kuba–1985 Siena), Schriftsteller; u.a. Il sentiero dei nidi di ragno, Turin, Einaudi 1947 (dt. Wo Spinnen ihre Nester bauen, 1965)
Vittorio Foa (1910 Turin–2008 Formia), Politiker, Professor für Zeitgeschichte an den Universitäten Modena, Reggio Emilia und Turin; ab 1933 Mitglied von Giustizia e Libertà
Filippo Turati (1857 Como–1932 Paris), Jurist, Soziologe, Schriftsteller und Politiker; Mitbegründer des Partito dei Lavoratori Italiani 1892 in Genua (ab 1895 Sozialistische Partei Italiens)
Anna Kuliscioff (1857 Krim–1925 Mailand), Gynäkologin, Politikerin, Lebensgefährtin von Filippo Turati; Mitbegründerin des Partito dei Lavoratori Italiani 1892 in Genua (ab 1895 Sozialistische Partei Italiens)
Giuseppe Mazzini (1805 Genua–1872 Pisa), Politiker, Freiheitskämpfer des Risorgimento, ein früher Vordenker der modernen Europäischen Union
Carlo Alberto Rosselli (1899 Rom–9.6.1937 Bagnoles de l’Orne, Frankreich), Politiker, Historiker, Publizist; Gründer der antifaschistischen Widerstandsgruppe Giustizia e Libertà, ermordet im Exil durch Mitglieder der rechtsextremen Gruppierung Cagoule im Auftrag von Mussolini
Sabatino Enrico Nello Rosselli (1900 Rom–9.6.1937 Bagnoles de l’Orne, Frankreich), Historiker und Journalist, Mitglied von Turatis Partei, unterstützte seinen Bruder bei der Gründung von Giustizia e Libertà und die Republikaner im Spanischen Bürgerkrieg, ermordet im Exil durch Mitglieder der rechtsextremen Gruppierung Cagoule im Auftrag von Mussolini
Adriano Olivetti (1901 Monte Navale–1960 Aigle, Schweiz), verheiratet mit Paola Levi, der Schwester von Natalia Levi Ginzburg und Mario Levi. Unternehmer, Ingenieur, Herausgeber, Politiker, Direktor des Familienunternehmens Olivetti (erste tragbare Schreibmaschine); half Turati auf seiner Flucht nach Frankreich
Mario Levi (1905 Florenz–1973 Korsika), Bruder von Paola Levi Olivetti und Natalia Levi Ginzburg, Angestellter bei Adriano Olivetti, 1934 Exil Frankreich und Mitglied von Giustizia e Libertà, im Exil Lehrer und Journalist, 1942 interniert in Frankreich, nach dem Krieg UNESCO-Mitarbeiter in Frankreich
Dino Segre (Pitigrilli, 1893 Turin–1975 Turin), Schriftsteller, Journalist, Jurist; Spitzel in Diensten von Mussolini zum Ausspionieren antifaschistischer Widerstandsgruppen, 1938 Auswanderung Schweiz/Argentinien, Rückkehr nach Italien 1957
Giulio Einaudi (1912 Dogliani–1999 Magliano Sabina), Verleger, Gründer des Verlagshauses Giulio Einaudi Editore in Turin 1933
Cesare Pavese (1908 Santo Stefano Belbo–1950 Turin), Schriftsteller; u.a. La bella estate, 1940 (dt. Der schöne Sommer, 1964) und Il diavolo sulle colline, 1948 (dt. Der Teufel auf den Hügeln, 1964)
Sandro Pertini (1896 Stella, Savona–1990 Rom), Politiker, 1978–1985 italienischer Staatspräsident
Altiero Spinelli (1907 Rom–1986 Rom), Politiker, Mitglied der Europäischen Kommission; Mitverfasser des Manifesto di Ventotene 1941
Ernesto Rossi (1897 Caserta–1967 Rom), Politiker und Journalist; Mitverfasser des Manifesto di Ventotene 1941
Maria Segré (Lebensdaten unbekannt), Ankunft in Odessa 1902, gab Leone Ginzburg und seinen Geschwistern in Odessa privat Unterricht in Italienisch und Französisch, zu Beginn des Ersten Weltkriegs brachte Vera Ginzburg ihren Sohn Leone und Maria Segré ins damals noch neutrale, sichere Italien und liess ihren Sohn bis 1917 in Segrés Obhut
Giovanni Levi (geb. 1939 Mailand, Neffe von Carlo Levi), Historiker, Professor für Wirtschaftsgeschichte an den Universitäten Turin und Venedig, Mitherausgeber der Fachzeitschrift Quaderni storici und der Reihe Microstoria im Verlag Einaudi; u.a. L’ereditá immateriale. Carriera di un esorcista nel Piemonte del seicento, Turin, Einaudi 1985 (dt. Das immaterielle Erbe, 1986)